Eine Liebeserklärung an die Freundschaft

Klug und unterhaltsam verhandelt der Journalist Jo Schück in seinem Debütroman „Nackt im Hotel“ aktuelle Fragen zum kulturellen, gesellschaftlichen und demografischen Wandel

Von Kyra FriebeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kyra Friebe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein provokanter Titel und eine steile These – das sind die ersten Eindrücke beim Lesen des Kurzgeschichtenbandes, der bei aller Literarizität und journalistischen Eloquenz doch eher ein Sachbuch ist. „Freundschaft hält alles zusammen“ – Mit dieser Behauptung beginnt Jo Schück seine Argumentation, die sich über rund 200 Seiten erstreckt und mit Geschichten aus dem Alltag, popkulturellem Wissen, Studien und Expertenaussagen aus der Hirn-, Evolutions-, und Sozialforschung unterfüttert wird.

Jedes Kapitel eröffnet Schück mit einer Kurzgeschichte, die jeweils in einer anderen europäischen Stadt spielt. Er beleuchtet das Thema Freundschaft in unterschiedlichen Facetten, um diese in einer überraschenden Wende schließlich zusammenzuführen. Diese Exkurse sind kleine literarische Werke, die den aktuellen Zeitgeist und das Lebensgefühl der Generation X gekonnt widerspiegeln. Überdies sind sie aber vor allem Aufhänger, sie sind Exempel für Schücks Plädoyer für die Freundschaft, das sich trotz seiner zunächst anmutenden Absurdität als überzeugend erweist.

Freundschaft ist frei zugänglich für alle, ob arm oder reich, ob belesen oder bildungsresistent, ob jung oder alt. Sie ist ein internationales, universalistisches, freiheitliches und egalitäres Konstrukt und damit hochpolitisch. Wer sich auf die Suche nach dem Kitt der Gesellschaft begibt, kommt an der Freundschaft nicht vorbei.

Der Autor greift viele gesellschaftlich relevante Fragen des aktuellen, schnelllebigen Jahrhunderts der hohen Scheidungs- und Singleraten, Instabilität und Strukturlosigkeit, Alterseinsamkeit und Beziehungsunfähigkeit auf. Der 39-Jährige versucht mitunter Ordnung in das Chaos zwischenmenschlicher Beziehungsvorstellungen zu bringen und nimmt Begriffsbestimmungen vor, bei denen er sich auf die aristotelische Antike zurückberuft.

Wo beginnt Freundschaft und wo endet sie? Welche Bedingungen sind an sie geknüpft? Was unterscheidet die Freundschaft von der Liebe und von der Familie? Kann man auch mit Freunden oder Familienmitgliedern „Schluss machen“? Und wo liegt in der Tinder-Gesellschaft die Grenze zwischen Freundschaft, einem friend with benefits und einem fuck buddie? Können Männer und Frauen überhaupt „nur“ befreundet sein? Und was ist eigentlich ein Mingle? Der Journalist Schück recherchiert und liefert Antworten.

Dabei streift er Genderfragen, die offenlegen, dass auch in puncto Freundschaft geschlechterspezifische Klischees unsere Gesellschaft nach wie vor bestimmen und vor allem limitieren. Statt jedoch nur mit dem erhobenen Zeigefinger zu wedeln, geht er den ihnen zugrundeliegenden Traditionen auch auf den Grund. Er bietet dem Leser ein differenziertes Bild mit Hinweisen auf kulturelle und historische Entwicklungen – und ihre Reproduktion in den Medien – von Platon über die Nachkriegszeit bis hin zu LGTBQ.

„Und ich verstehe nicht“, unterbricht ihn Lasse, „wieso ihr hier diese 50er-Jahre-Attitüde an den Tag legt. Männerabend. Punkt. Aus. Fertig. Da wird Bier getrunken. Und über Fußball gequatscht. Und der Kellnerin hinterhergeglotzt. Was spricht denn dagegen, dass wir einen Abend machen, an dem auch Frauen dabei sein können? Ich meine, wer seid ihr? Eure Väter? Eure Großväter?“

Im Kontext der Gleichstellung eröffnet Schück emanzipatorische ebenso wie sprachkritische Diskussionen. Warum gibt es einen Blutsbruder, aber keine Blutsschwester? Den väterlichen Freund, aber nicht die mütterliche Freundin? Was ist das Pendant zu Bromance oderKumpel? Damit geht er aktuellen wichtigen Einflussfaktoren von Sprache nach und trifft den Kern politischer Debatten.

Was bis hierhin für manche Leser als Verhandlung von Banalitäten und sprachliche Kleinkariertheit anmuten könnte, ist Basis für die eigentliche Untersuchung des Autors. Hierbei kommt er auf die Konsequenzen seiner Erkenntnisse zu sprechen. Durch die Abgrenzung der Freundschaft zu anderen innigen Beziehungsformen – der Liebe oder der Familie – macht er ihre jeweiligen Bedeutungen sichtbar. Zumeist koexistieren diese drei wichtigen Formen zwischenmenschlicher Beziehung friedlich miteinander. Laut Schück wohne nur einer von dreien die Macht inne, für Halt und Stabilität in der heutigen Gesellschaft zu sorgen und sich an jede Form des Wandels dynamisch anzupassen: der Freundschaft.

Der Staat brauche sie als Stütze in einer Zeit, in der traditionelleFamilienvorstellungen nicht mehr haltbar sind, Kirche, Ehe und Monogamie ins Wanken geraten, Mitzwanziger beziehungsscheu sind und die Politik über den hohen Fürsorgebedarf Alleinstehender im Rentenalter klagt. Damit geht der Journalist nicht nur mit konservativen Idealen ins Gericht, sondern plädiert vor allem für eine gesellschaftliche Aufwertung freundschaftlicher Beziehungen. Er setzt sich ein für ihre Institutionalisierung. Er schlägt eine Nutzbarmachung ihrer Bedeutung und Kraft in Bezug auf staatliche Zukunftsfragen vor – ohne ihr die immanente Flexibilität und Freiheit, ihre gewisse Magie zu rauben.

Schück gibt jede Menge Denkanstöße und die Mischung aus Philosophie, Sozialkritik, Unterhaltung und Sachlichkeit sorgt für eine gelungene Abwechslung, wirkt jedoch auch überwältigend. So macht insbesondere die Kombination aus Literatur und Sachtext Nackt im Hotel zu einer interessanten Lektüre, zu einem „Sachbuch mit Geschichten“. Der journalistische Schreibstil, Schücks humoristische, dennoch nüchterne Ausdrucksweise nehmen den Leser ein für die aufgeworfenen Fragestellungen und lassen ihn sinnieren – auch über das Schicksal der Figuren, die aus dem eigenen Freundeskreis stammen könnten. Das schafft Nähe. Aber trotz der literarischen Ausschweifungen wird deutlich, dass Schück im Kern Journalist ist.

Einige der Figuren bleiben etwas farblos, wirken fast wie prototypische Hipster und ein wenig überzeichnet. Die Überspitzung ist zum einen der Wortwahl geschuldet, die vereinzelt unauthentisch jugendsprachlich wirkt. Zum anderen ist sie bedingt durch häufige gedankliche Abschweifungen der Charaktere, die zunächst lustig und später grotesk anmuten. Erzählerische Montagen setzt der Autor zwar klug ein, aber so häufig, dass der Einsatz übertrieben wirkt und der Lektüre ein unangenehmes Tempo verleiht. Auf der anderen Seite – und darin liegt eine besondere Qualität der Geschichten – schafft Schück einen besonderen Zugang, indem er Schauplätze und Gespräche rekonstruiert, in denen der Leser sich und seine eigenen Freunde wiederfinden kann.

Dieser spezielle Zugang wird auf der Ebene des Sachbuchs durch popkulturelle Querverweise auf Musik, Filme und Serien der letzten dreißig Jahre sowie auf Kultfiguren von Ernie und Bert bis zu Harry und Sally unterstützt. Auch in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Einfluss der sozialen Medien auf Beziehungsgefüge mag sich der Leser wohl – leicht ertappt – wiederfinden. Besonders ansprechend sind darüber hinaus die rezipientenorientierten Resümees am Ende jedes übergeordneten Kapitels, um Thesen und Erkenntnisse zu bündeln.

Möchte man weiterhin Kritik an Schücks Werk üben, dann am ehesten an den vereinzelt auftretenden Plattitüden, die sich beim vielfach verhandelten Thema Freundschaft möglicherweise nicht vermeiden lassen. So kommt der Autor in seinem Sachtext hin und wieder mit Äußerungen daher, die etwas banal und gewollt unterhaltsam wirken: „Liken ist das neue Lausen“. Das Augenzwinkern in Schücks Schreibstil und seine selbstironische Haltung lassen diese jedoch verzeihen.

Jo Schück setzt mit seinem ersten Buch ein deutliches Zeichen für ein Umdenken in der Gesellschaft und einen milden Perspektivwechsel auf die Generation der Tweenies. Über diese Gruppe hinaus gibt er gesamtgesellschaftliche Denkanstöße sowohl im Privaten als auch Politischen. Insgesamt überzeugt das Debüt durch seine leichte Zugänglichkeit, den Unterhaltungswert und das Gefühl, etwas zu einem Thema dazugelernt zu haben, von dem man dachte, bereits ganz automatisch Experte zu sein.

Titelbild

Jo Schück: Nackt im Hotel. Wie Freundschaft der Liebe den Rang abläuft.
bold, München 2020.
232 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783423230100

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