Geknebeltes Leben

Necla Kelek analysiert in ihrem neuen Buch „Die unheilige Familie“ islamisch geprägte Familienstrukturen

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Patriarchale Familienstrukturen sind im Westen nicht mehr sonderlich beliebt, auch wenn es lange gedauert hat und vieler Kämpfe bedurfte. Religionen sind, auch wenn wir sie gut kennen und einordnen können sollten, hierzulande Privatsache und eine vorrangig spirituelle Angelegenheit. Es geht nicht um verordneten Atheismus wie in der DDR. Es geht vielmehr um die beiden Seiten der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit: die Freiheit „zu“ und „von“ jeglicher Religion. Das Säkularitätsprinzip, die Trennung von Staat und Religion, ist das wertvolle Erbe der Weimarer Verfassung von 1919 und bildet die unerlässliche Bedingung für den Wandel der Geschlechterbeziehungen und Familienverhältnisse. Unter anderem darin besteht die Dynamik liberaler Demokratien.

Weil Mohammed Staatslenker, Militärführer und Religionsgründer in einer Person gewesen ist, hat die Trennung von weltlicher und religiöser Sphäre in der islamischen Welt mit wenigen Ausnahmen wie der seit Atatürk jahrzehntelang laizistischen und heute durch die Präsidentschaft Recep Tayyip Erdogans re-islamisierten Türkei keine Tradition. Folglich haben auch patriarchale Familienstrukturen und Geschlechterrollen in der islamischen Welt bislang kaum dauerhafte Modernisierungen erlebt. Die überkommenen Stammes- und Clanstrukturen wurden durch den Islam konsolidiert, legitimiert und konserviert. Deshalb kommt, wer sich mit Familienmodellen in der islamischen Welt befasst, um Religionskritik nicht herum.

Necla Kelek, Soziologin und Migrationsforscherin hat mit Die unheilige Familie. Wie die islamische Tradition Frauen und Kinder entrechtet im Herbst 2019 erneut ein anregendes Debattenbuch vorgelegt. Soziologie und Islamwissenschaft sind die bevorzugten Disziplinen ihrer Analysen. Ihre Referenzen reichen von Max Weber über Fatima Mernissi bis hin zu Gertrude H. Stern, Marwan Abou-Taam und Tilman Nagel. Keleks kurzer historisch-kritischer Überblick zum Islam ist wichtig, weil erstens die Leserschaft hierzulande überwiegend nicht mit dem Koran und den Hadithen vertraut sein dürfte, und weil sonst zweitens unverständlich bliebe, weshalb autoritäre Muster und überkommene Geschlechterrollen kulturprägend waren und in Einwanderungsländern zu „Gegengesellschaften“ (Segregationen) führen konnten.

Zwei Aspekte stechen hervor: die Geschlechterbeziehungen und das Verhältnis von Individuum und Kollektiv. Doch muss vorausgeschickt werden, dass Kelek nicht pauschal über türkische und arabische Einwanderer spricht, weder über die Gastarbeitergeneration (die heute im Rentenalter ist), über Kemalisten, Sufis, Alewiten oder all diejenigen, die wie sie selbst ihre Chancen im bundesdeutschen Bildungssystem genutzt haben und das Säkularitätsprinzip ganz selbstverständlich leben. Im Zentrum ihrer Kritik steht die Heiratsmigration aus Anatolien nach dem Anwerbestopp von 1973. Erst sie führte zu den über 30% hier lebenden türkischen Frauen ohne Schulabschluss, ohne Deutschkenntnisse, ohne Berufsaussichten, die sich dann in völliger Abhängigkeit von ihren Familien befinden.

Vor Gott sind Frauen den Männern im Islam gleichgestellt, im irdischen Leben aber nicht. Ihre notfalls auch mit körperlicher Gewalt erzwungene Unterordnung, ihr Status als Besitz des Mannes, ihre angebliche sexuelle Bedrohlichkeit, ihre daraus abgeleitete Kontrollbedürftigkeit durch männliche Familienmitglieder, Väter, Brüder, Ehemänner, die glauben dadurch die Familien„ehre“ absichern zu müssen. Im Islam sind Frauen zwar im Kindesalter heirats-, aber ihr Lebtag nicht geschäftsfähig, weshalb sie eines männlichen Vormunds bedürfen, der ihre Angelegenheiten regelt. Nach diesen Logiken haben unverheiratete Frauen kaum Spielräume, woraus ein „Zwang zur Ehe“ und damit die Institution zur „arrangierten Ehe“ resultiert. Nicht das Grundgesetz, sondern das Regelwerk der Scharia bestimmen dann das Leben in den Familien. Sie – und nicht die Frauen und Männer als Individuen – handelt die Eheschließungen aus. Immer wieder flicht Kelek „Familiengeschichten“ aus ihrer Feldforschung in die Darstellung ein, um das von ihr angeführte statistische Datenmaterial zu veranschaulichen.

Kinder sind von den rigiden Verhaltensnormen und der Ungleichwertigkeit der Geschlechter ebenfalls betroffen. Sei es die Vorstellung darüber, was erlaubt oder verboten sei, sei es das Fasten während des Ramadan, seien es Kleidervorschriften – das Kinderkopftuch sexualisiert Mädchen und schränkt ihre Entwicklungschancen ein –, seien es väterliche Verbote, an Klassenfahrten, am Sport- oder am Schwimmunterricht teilzunehmen. Der Vater genießt in der Familie einen fast gottähnlichen Status. Respekt ihm gegenüber bedeutet nicht Achtung, sondern Gehorsam. Kurzum: Frauen und Kindern wird nicht durch den Westen das Recht auf gleichberechtigte und individuelle Teilhabe und Förderung verwehrt, sondern durch das in patriarchalen Strukturen kulturell verinnerlichte „System Islam“.

Eine Wahl, die diesen Namen verdient, haben auch Männer in solchen Strukturen nicht. Würden sie ihren weiblichen Familienmitgliedern und Kindern all die westlichen Freiheiten gewähren, die in den Augen ihres sozialen Umfelds, ihrer muslimischen Nachbarn, Freunde, Bekannten, Gemeinden als unislamisch und degeneriert gelten, dann würden sie und ihre Familien Ansehensverlust und Isolation erleiden. Denn für die konservativ-orthodoxe islamische Lebens- und Sichtweise ist die Umma, die Gemeinschaft der Muslime entscheidend, nicht die weltliche plurale Gesellschaft, die überdies von arabischen Clans als feindliches Terrain jenseits der eigenen Familie angesehen wird. Es gibt ein autoritäres System verbindlicher hierarchischer Abhängigkeiten in diesen Familien, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern vom Vater über die Söhne bis hin zur Mutter und den Töchtern nach den Maßgaben tradierter Vorstellungen von „Ehre“, „Ansehen“ und „Respekt“ (Gehorsam) festlegen und regeln.

Die im Zuge des Libanesischen Bürgerkriegs in den 1970/80er Jahren in die Bundesrepublik eingewanderten, in sich geschlossenen und nach außen abgeschotteten arabischen Großfamilien verachten die bundesdeutschen Institutionen und den Rechtsstaat, weil sie beide aus patriarchalisch-autoritärer Perspektive als schwach erleben. Nicht Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen treiben manche jungen Menschen aus türkischen und arabischen Einwandererfamilien in die Arme religiöser Fundamentalisten, sondern – wie Psychologen beobachtet haben – die ihnen vertrauten Familienstrukturen, die sich in der Umma wiederholen und die auch in säkularen (Militär)Diktaturen wie Syrien oder dem Irak wirksam geworden sind. Dort hatte „Vater Staat“ die Funktion des Familienpatriarchen, des „Paschas“ übernommen, wie Kelek das formuliert. Das Fehlen von Aufklärung (Wissenschaft), humanistischen Traditionen (Menschenrechte) und der Wertschätzung des einzelnen Menschen als Individuum – und nicht als Gattungswesen, als Gruppen- oder Familienmitglied – charakterisiert das Verhältnis von Religion und Kultur in der islamischen Welt.

Jenen merkwürdigen „Korpsgeist“, den man hier auch aus anderen geschlossenen Gruppen kennt, musste Kelek am eigenen Leib erfahren, als im Jahr 2006 „60 [überwiegend selbst ernannte, S.K.] Migrationsforscher“ einen Offenen Brief gegen ihren Erstling Die fremde Braut (2005) in der Wochenzeitung „Die Zeit“ publizierten, anstatt sich in Kontroversen mit ihr gemeinsam über ihre Thesen und Befunde auseinanderzusetzen. Jahrzehntelang hat die hiesige Migrationsforschung starrsinnig das praktisch längst gescheiterte Multikulturalismus-Konzept verfolgt, ohne auf die empirischen Befunde ihrer fachlich und wissenschaftlich ausgewiesenen Kritiker von Kelek über Seyran Ates und Ralph Ghadban bis hin zu Hamed Abdel-Samad und Ahmad Mansour ernst zu nehmen. Mit der Förderung der Islamverbände und fundamentalistischer Organisationen schlug die laut Kelek schlecht beratene Politik einen Holzweg ein. (Das erinnert fatal an das Bundesprogramm gegen Aggression und Gewalt in den 1990er Jahren, das rechtsextremen Tendenzen nicht wie vorgesehen Einhalt geboten hat – auch damals wissenschaftlich assistiert –, sondern zu verfestigen half.)

Im Kapitel „Forschung auf falscher Fährte“ nimmt sich Kelek abermals die aktuelle Migrationsforschung, doch auch Vertreterinnen der Gender Studies vor, die Frauenunterdrückung und Menschenrechtsverletzungen in islamisch geprägten Kulturen für eine westliche Erfindung halten und die Kritik daran als rassistisch und islamophob diffamieren und abtun. Das Leugnen von Problemen, das Relativieren von Befunden und die Abwehr der Kritik mit Vorwürfen aus der Trickkiste des politischen Islam verrät starke antiwestliche Reflexe, schafft allerdings weder die Missstände aus der Welt noch hilft sie betroffenen Frauen, Kindern und Männern.

Naika Foroutans mit Fördermitteln gut ausgestattetes und vielfach unterstütztes Institut für empirische Migrations- und Integrationsforschung wird Kelek zufolge schon wegen des dort vorherrschenden Gruppen- und Kollektivdenkens, das eine kulturelle Frontstellung Mehrheit versus Minderheit aufbaut, nicht imstande sein, die Konflikte und Probleme auch nur adäquat zu erfassen, zu benennen, zu beschreiben und zu erforschen, geschweige denn Lösungsansätze zu erarbeiten und Konzepte vorzulegen, die diesen Namen auch verdienen. Die Plattitüde von Diversität beschreibt eine Realität und mag als Slogan für den Brauchtumsverein in Krähwinkel zureichen, aber für eine wissenschaftliche Einrichtung mit Politikberaterstatus ist das Beschwören von Vielfalt, da hat Kelek recht, entschieden zu dürftig. Ferner werden Bürger- und Freiheitsrechte in der Bundesrepublik an Individuen vergeben und aus gutem Grund nicht an Kollektive oder Familien. Wenn Einwanderer aus der islamischen Welt Regeln neu aushandeln sollen, wie Foroutan das wolkig vorschwebt, dann gibt es für sie den gleichen Weg, den Authochtone gewöhnlich einschlagen und beide tun dies dann am besten gemeinsam. Keleks Buch, das mit Vorschlägen zu Konfliktlösungen aufwartet, auf die man aus der Migrationsforschung vergeblich gewartet hat, wünscht man eine große Leserschaft und eine breite Resonanz.

Titelbild

Necla Kelek: Die unheilige Familie. Wie die islamische Tradition Frauen und Kinder entrechtet.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2019.
330 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783426278123

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