Deutschlands Glück in Deutschlands Unglück

Was Thomas Mann mir bedeutet (2005)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Dies ist ein großer Tag für mich und zugleich, ich bin dessen sicher, für viele der hier Anwesenden. Das habe ich mir nie träumen lassen – daß ich in der Lübecker Marienkirche, in der Thomas Mann getauft und konfirmiert wurde, über ihn aus Anlaß seines fünfzigsten Todestags werde sprechen dürfen.

Wer bin ich, daß ich das Wort führen soll zu seinem Preis, in wessen Namen tue ich es hier? Die Antwort ist einfach: Ich spreche als einer jener Leser, die in seinen Büchern ihre Not, ihr Elend und auch ihr Glück wiedergefunden haben. Seit ich als Halbwüchsiger „Tonio Kröger“ gelesen habe, bewundere ich Thomas Mann, seit ich sah und erkannte, daß er mit seiner Existenz, wie einst Goethe, den Begriff „Deutschtum“ neu definierte, verehre ich ihn wie keinen anderen Autor des zwanzigsten Jahrhunderts, ja vielleicht wie keinen anderen seit 1832.

Aber es ist nicht nur eine große Ehre, ihn hier feiern zu dürfen, es ist auch eine höchst schwierige Aufgabe. Denn über ihn ist, so will es scheinen, schon alles gesagt worden, und es ist zu einem Teil auch gut gesagt worden. Kein deutscher Schriftsteller hat bei seinen Landsleuten in dem halben Jahrhundert nach seinem Tod ein vergleichbares Echo gefunden. Wirklich keiner? Auch Goethe nicht?

Was zu Goethes Lebzeiten begann, hat nie ganz nachgelassen: Die Attacken gegen ihn paraphrasierten, was schon die Romantiker und die Sprecher des Jungen Deutschland gegen ihn vorzubringen hatten. Nahezu jede neue literarische Generation versuchte, sich von ihm zu distanzieren oder sich gar in der Meuterei gegen ihn zu profilieren. Während Goethe offiziell nach wie vor als höchster Repräsentant der deutschen Literatur galt, war ein beträchtlicher Teil seines Werks unverkäuflich. Noch um 1910 konnte man die Erstausgabe der „Wahlverwandtschaften“ zum Originalpreis erwerben. Auch die Erstausgabe des „West-östlichen Divans“ war noch im zwanzigsten Jahrhundert keineswegs vergriffen. Die Bühnenwerke Goethes wurden nur selten aufgeführt, jedenfalls ungleich seltener als die Dramen Schillers.

Der 1882 fällige fünfzigste Todestag Goethes war kein nationales Ereignis. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war der Autor, von dem man mittlerweile kaum mehr als den „Faust“ und eine Anzahl wunderbarer Gedichte kannte, ein zwar viel zitierter und viel gesungener und auch besungener, doch dem großen Publikum kaum bekannter Dichter.

Darf man das Echo auf Goethe innerhalb des halben Jahrhunderts nach seinem Tod mit jener Resonanz vergleichen, die in den letzten fünf Jahrzehnten Thomas Mann zuteil wurde? Die übermächtige Gestalt Goethes hatte den Protest der nachfolgenden literarischen Generation geradezu herausgefordert. Der Revisionsprozeß hat einiges zur Klärung beigetragen, doch im Ergebnis, von heute her gesehen, nicht viel geändert. Eines ist sicher: Nicht die Attacken, mit denen ein genialer Dichter in den Jahrzehnten nach seinem Tod bedacht wird, gefährden dessen Nachruhm, sondern weit eher das Ausbleiben solcher Attacken oder gar die stumme Gleichgültigkeit. Thomas Mann hatte in dieser Hinsicht keinen Anlaß zu Klagen.

1973 hielt ich es sogar für richtig, öffentlich und mit Nachdruck die Renaissance seines Werks zu rühmen. Unter Brüdern und ganz vertraulich: Ich habe stark übertrieben. Was ich als Befund ausgegeben hatte, war nur mein Wunsch und meine Hoffnung. Doch schien mir dies in den frühen siebziger Jahren dringend nötig: Von der älteren Generation der damals lebenden Schriftsteller wurde Thomas Mann bekämpft, von der mittleren verworfen und von der jüngeren ignoriert.

Wenn es der literarischen Welt unvermeidbar schien, sich mit ihm zu beschäftigen, dann führte sie in der Regel Franz Kafka ins Feld, gelegentlich Robert Musil und auch Heinrich Mann. Als man 1975 Thomas Manns hundertsten Geburtstag ungern beging, fanden alle seine Gegner zueinander, die alten Nazis nicht ausgeschlossen: Schon zu Lebzeiten von vielen seiner Kollegen als ein nicht zu ertragendes Ärgernis empfunden, wurde er nun zum Gegenstand einer Generaloffensive, die ihresgleichen in der Geschichte der deutschen Literatur nicht kennt.

Manche Autoren wollten sich in der Verachtung Thomas Manns geradezu übertrumpfen. Sein Stil sei – meinte der damals sehr geschätzte Hans Erich Nossack – „ein warnendes Beispiel dafür, wie man auf keinen Fall schreiben darf“, er sei „der Inbegriff der Unehrlichkeit und der Feigheit, sich zu sich selbst zu bekennen“. Man habe – schrieb mein Freund Peter Rühmkorf – Thomas Manns „gestelzte Manierlichkeiten allgemein für Stil gehalten“. Ihn, Rühmkorf, interessiere Thomas Mann „zwanzig Jahre nach seinem Ableben so wenig wie noch zur Zeit seines Erdenwallens“.

Diese Revolte gegen den gehaßten Großschriftsteller hatte indes auf die deutsche Leserschaft keinen nennenswerten Einfluß, wenn nicht einen reziproken. Der Absatz der Bücher Thomas Manns ließ in den achtziger Jahren nicht nach, im Gegenteil: Er stieg erheblich an. Verschiedene Umstände mögen dies bewirkt haben. Eine besonders wichtige Rolle haben wohl die Verfilmungen vieler seiner Romane und Erzählungen gespielt, zumal Viscontis höchst bemerkenswerte Kino-Version des „Tod in Venedig“. Bei dieser Gelegenheit: Die „Buddenbrooks“ werden demnächst zum vierten Mal verfilmt.

Die im späten zwanzigsten Jahrhundert wachsende und schließlich unverkennbare allgemeine Zuwendung zu Thomas Mann hatte mit einem Ereignis zu tun, mit dem niemand rechnete, am wenigsten die zahlreichen und so rührigen Thomas-Mann-Verächter. Um es gleich zu sagen: Er, Thomas Mann, wurde vor aller Augen vom Sockel gestürzt. Wer hat ihm das angetan?

Der Schriftsteller Aschenbach habe gelernt, heißt es im „Tod in Venedig“, seinen Ruhm zu verwalten. Das trifft, wie wir längst wissen, erst recht auf den Autor dieser Novelle zu. Die jetzt erscheinende „Große kommentierte Frankfurter Ausgabe“ bietet in zwei umfangreichen Bänden von den rund 25000 bisher bekannten Briefen Thomas Manns immerhin 691. Sie waren zur Hälfte überhaupt nicht oder nur an schwer zugänglichen Stellen veröffentlicht.

Diese Briefe seien, so ihre Herausgeber, Manns „Medium der Selbstdarstellung und der Selbstfindung“. Schon wahr, aber was sich hinter dem Wort „Selbstdarstellung“ verbirgt, ist nichts anderes als Selbstreklame, direkte und indirekte. Mit Hilfe seiner Korrespondenz manipulierte und instrumentalisierte er alle, die für seinen Ruhm nützlich sein konnten und sollten. Dafür war ihm niemals seine Zeit zu schade: In diese Tätigkeit investierte er unendlich viel Kraft und Energie, List und Diplomatie. Sie beginnt, wie merkwürdig dies auch klingen mag, noch früher als sein eigentliches Werk.

Schon 1897 nämlich, also bevor sein erstes Buch, „Der kleine Herr Friedemann“, publiziert war, bekannte er in einem Brief: „Ich verfalle immer mehr darauf, meinen Schreibtrieb dazu zu verwenden, berühmt zu werden und Geld zu verdienen.“ Und kurz nach der Veröffentlichung der „Buddenbrooks“, im Oktober 1902, hatte er keine Hemmungen zu erklären, ihm komme es darauf an, den Leuten sein Profil einzuprägen, „sodaß, wird der Name genannt, in der Phantasie der Leute sofort eine scharf umrissene geistige Physiognomie hervorspringt“. Seine glanzvoll geschriebenen Autoporträts, Lebensabrisse und Rechenschaftsberichte demonstrieren die Kunst der geistreichen Selbstpräsentation auf höchster Ebene.

Die Selbstreklame wurde bald zu Thomas Manns zweitem Beruf. Auch in dieser Hinsicht war er höchst erfolgreich. Denn das Bild, das sich die Menschen von ihm gemacht hatten, entsprach in hohem Maße seinen Wünschen. Und da er der beste Kenner seines Werks war, konnte er in seiner Korrespondenz immer wieder mit Gedanken und Formulierungen aufwarten, die von seinen Interpreten in der ganzen Welt dankbar und meist zu Recht aufgenommen wurden. Aber es scheint so, als sei er zu dem Ergebnis gekommen, daß es leichtsinnig wäre, den postumen Revisionsprozeß, der auch ihm nicht erspart bleiben konnte, anderen, möglicherweise nicht zuständigen Kommentatoren zu überlassen. Vielmehr sei es richtiger, sich der Sache beizeiten, wenigstens teilweise anzunehmen.

Die Edition der ab 1977 in zehn Bänden erscheinenden Tagebücher Thomas Manns war 1986 abgeschlossen. Nun bietet ein Tagebuch in der Regel monologische Prosa ohne künstlerischen Anspruch, es ist eine zuchtlose, häufig unkontrollierte und daher für den Autor sehr bequeme Aneinanderreihung von Gedanken und Gefühlen, Beobachtungen und Beschreibungen. Was es immerhin ermöglicht, ist Unmittelbarkeit und Subjektivität. Beides mutet freilich oft etwas dilettantenhaft an.

Auch Thomas Manns Tagebücher haben im Grunde keinen literarischen Wert. Dennoch wurden sie sofort als ungewöhnliche Dokumente anerkannt, von seinen Anhängern und Bewunderern ebenso wie von jenen, die den Autor ablehnten und verachteten. Der Hauptbestandteil der Tagebücher sind Eintragungen über den Alltag. Thomas Mann geht spazieren und schreibt in Klammern „ohne Weste“, er trinkt Lindenblütentee „mit einer Zitronenscheibe“, er ißt zum Frühstück „zwei Eier ohne das Weiße des einen“, er notiert „mit dem Pudel gescherzt“. Und dergleichen mehr. Ich frage mich, warum ich trotz dieser nicht zu überbietenden Belanglosigkeiten die Lektüre des Tagebuchs keineswegs abgebrochen habe. Weil es aus der Feder des Autors stammt, der den „Zauberberg“, den „Josephsroman“ verfaßt hat? Nein, das ist es nicht – und auch nicht die Tatsache, daß sich hier zwischendurch aufschlußreiche und auch originelle Eintragungen finden.

Das Faszinosum geht von einem anderen Umstand aus: Gab es je einen großen deutschen Schriftsteller, der ein Leben lang so viel getan hätte, um der Öffentlichkeit das von ihm gewünschte Bild seiner Existenz zu vermitteln, wenn nicht aufzuzwingen? Ein Meister der Selbststilisierung und der Selbstinszenierung, ein bürgerlicher Dichterfürst, der stets förmlich und etwas feierlich auftrat, der sich mit einer Schicht aus Würde und Ironie umgab, ein Schriftsteller, der schon in den zwanziger Jahren ein König im Reich der Literatur war, der später als inoffizielles, doch unumstrittenes Oberhaupt der deutschen Emigration galt und für die gesittete Welt mitten im Krieg das andere Deutschland verkörperte, er, der Deutschlands Glück in Deutschlands Unglück war – er entschloß sich, das feierliche und pathetische Bild seiner Persönlichkeit, das er jahrzehntelang aufgebaut hatte, endgültig aufzugeben, ja systematisch zu zerstören.

Nur ihr, der Persönlichkeit, gilt der für die Nachwelt bestimmte Revisionsprozeß, nicht aber seinem Werk. Zum Vorschein kommt ein ganz anderes Bild Thomas Manns – das Selbstporträt eines von Unsicherheit und Furcht gequälten Neurotikers und Hypochonders, der, leidend und Mitleid erweckend, der Welt nichts, absolut nichts mehr vormachen will. Was das überlieferte Bild an Pathos, Feierlichkeit und Klassizität verlor, gewann es an Wahrhaftigkeit und barer Menschlichkeit.

Ursprünglich war sein Tagebuch ein Monolog ohne Zuhörer, ein Schlupfwinkel, in dem er ohne Zeugen sein konnte. Und weil diese Aufzeichnungen lediglich für ihn selber bestimmt waren, ist hier von der Diktion seiner Epik, von seiner stilistischen Bravour und Virtuosität nichts zu merken. In seinem ganzen Leben hat Thomas Mann keinen einzigen Brief so nachlässig geschrieben wie diese Tagebücher. Einen hier notierten Satz oder gar Absatz zu überprüfen, dazu fehlte ihm die Zeit und die Lust. Irgendwann in seinen späteren Jahren hat er beschlossen, die Tagebücher unredigiert und unkorrigiert zu belassen. Die von ihm festgelegte Schutzfrist von fünfundzwanzig Jahren nach seinem Tod hat er eigenhändig auf zwanzig Jahre reduziert. Diese Genehmigung kam natürlich einer Aufforderung gleich: Es kann kein Zweifel sein, Thomas Mann wollte, daß diese Tagebücher gedruckt werden.

Er hatte die Kraft, den Mut und die Größe, die von ihm selber entworfene Legende seiner Existenz rücksichtslos zu demontieren, sich vor unser aller Augen zu entblößen. Die Nachgeborenen sollten wissen, wie er wirklich war, sie sollten sein stets isoliertes Leben begreifen oder zumindest erahnen. Er zitierte gern eine Zeile von Platen: „Es kenne mich die Welt, auf daß sie mir verzeihe.“

Daß er zu ichbezogen und zu selbstgefällig war, um eine sympathische oder gar liebenswürdige Persönlichkeit zu sein, das war immer schon bekannt. Aber in wie hohem Grade er es war und wie sehr darunter seine Familie, seine Umgebung und natürlich vor allem er selber gelitten hat, das machte uns erst sein Journal klar. Er hat seinen Ehrgeiz und seine Eitelkeit ein Leben lang zu verteidigen und zu rechtfertigen versucht. Schon in der Schiller-Novelle von 1905 schrieb er. „Ich-süchtig ist alles Außerordentliche, sofern es leidet.“

Die Welt sah Thomas Manns Ich-Sucht, wollte sich aber verständlicherweise um seine Leiden nicht kümmern. Sein auffallend starkes, sein nie verheimlichtes Bedürfnis nach Repräsentanz und seine, wie es in der Schiller-Novelle heißt, „Eifersucht, daß niemand größer werde als er“ – das machte ihn zur unleidlichen Person. Man mißbilligte ihn häufig, und das färbte, kaum ist es zu glauben, auf die Beurteilung seines Werks ab.

Nach der Veröffentlichung der Tagebücher – und auch zahlreicher anderer Dokumente – lesen wir Thomas Manns Romane und Erzählungen anders als vorher. Gewiß, mißverstanden wurde diese Epik auch zu seinen Lebzeiten keineswegs. Dafür hat er ja selber schon gesorgt. Daß er aber von seinen frühen Jahren bis ins hohe Alter ein Erotiker war und daß sexuelle Motive in seinem Werk eine zentrale Rolle spielen, das haben wir damals zwar nicht verkannt, doch mit Sicherheit unterschätzt. Manche der Schriftsteller, die lauthals erklärt hatten, niemand sei ihnen gleichgültiger als der Autor des „Zauberbergs“, dies allerdings mit vor Wut bebender Stimme beteuerten, zeigten sich von den Tagebüchern ergriffen und überwältigt. Peter Rühmkorf sprach 1985 wohl nicht nur im eigenen Namen von „neugewonnener Wertschätzung eines bislang sträflich vernachlässigten Prosaartisten“.

Die Tagebücher ließen auch das Exemplarische der Familie Mann erkennen. Aber es war kein Buch, sondern Heinrich Breloers Film, der einem Millionenpublikum bewußtmachte, daß die Geschichte dieser Familie ein Lehrstück für Deutsche ist. Das alles hatte zur Folge, daß viele Leser zum ersten Mal oder noch einmal zu den Romanen und Erzählungen Thomas Manns griffen.

Die Absatzziffern für die Zeit von 2000 bis Mitte 2005 sind so verblüffend wie erfreulich. Von den „Buddenbrooks“ wurden 280000 Exemplare verkauft, vom „Tod in Venedig“ 247000 Exemplare, vom „Zauberberg“ 175000, von verschiedenen Erzählungsbänden ebenfalls 175000, vom „Tonio Kröger“ 152000. Die Aufzählung weiterer Titel erspare ich Ihnen, nur noch die Gesamtzahl für diesen Zeitraum: Es wurden von den Werken Thomas Manns vom Jahre 2000 bis Mitte 2005 rund 1,4 Millionen Exemplare verkauft.

Thomas Mann wäre glücklich. Ihm war immer an der Zustimmung der großen Leserschaft gelegen. Als Hermann Hesse 1910 den Roman „Königliche Hoheit“ rezensierte, glaubte er dem Autor „Antreibereien des Publikums“ vorwerfen zu müssen. Er wünschte sich von ihm ein Buch, in dem dieser an die Leser gar nicht denken und in dem er niemand zu verlocken trachten würde. Davon wollte Thomas Mann nichts hören: Er zeigte sich zufrieden, daß offenbar Menschen mit sehr unterschiedlichen Ansprüchen bei seinen Büchern auf ihre Kosten kämen. Die populären Elemente in „Königliche Hoheit“ seien „ebenso ehrlicher und instinktiver Herkunft wie die artistischen“.

Zu sehr liebte Thomas Mann im Leben und in der Literatur das Kulinarische, um es in seinem Werk zu vernachlässigen. Das Kulinarische? Man kann auch sagen: das Unterhaltsame. Ihm sei vor allem – bekannte er gern – an „höherem Spaß“ gelegen. Oft wiederholte er bei verschiedenen Gelegenheiten das Wort „Spiel“. Er nannte die künstlerische Arbeit eine „schwere und leidenschaftliche Spielerei“, er bezeichnete die Kunst als „ein Spiel tiefsten Ernstes, Paradigma allen Strebens nach Vollendung“. Schillers provozierendes Wort, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spielt, gilt im zwanzigsten Jahrhundert vor allem für zwei deutsche Autoren – für Bertolt Brecht und eben für Thomas Mann. Ich bin sogar versucht, Thomas Manns scherzhaftes und überspitztes Wort, ein Dichter sei ein „auf Allotria bedachter Kumpan“, auch auf ihn selber zu beziehen. „Mich verlangt durchaus nach Komik“, schrieb Thomas Mann 1948.

In seinem Roman „Der Erwählte“ heißt es gleich am Anfang, er werde „zur Unterhaltung“ erzählt. Die Kritik war enttäuscht und zeigte für das Buch wenig Verständnis. Ich habe den „Erwählten“ erst später, 1980, gelesen und in meiner Kritik vermutet, dies sei doch wohl der prächtigste, der raffinierteste deutsche Unterhaltungsroman des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich bekam viele Protestbriefe, weil das Wort „Unterhaltungsroman“ in Deutschland als diffamierend gilt. Übrigens wird „Der Erwählte“ nach wie vor unterschätzt.

Das Spiel, der Spaß, das Unterhaltsame, das Kulinarische und ein wenig Allotria – auch damit hat die wachsende Resonanz zu tun, die Thomas Manns Epik in den letzten Jahren zuteil wurde: Das Publikum suchte und fand in seinen Romanen und Erzählungen, was es in der schönen Literatur immer sucht – das Vergnügliche, das Amüsante.

Und die Universitäten? Zunächst einige statistische Angaben, die Lehre betreffend. Als es in den fünfziger und sechziger Jahren immer wieder hieß, Kafka sei es, der die moderne deutsche Prosa repräsentiere, galt Thomas Mann bestenfalls als Erzähler von gestern. Daher werde Kafka von den Germanisten häufiger behandelt als Thomas Mann. Jetzt erfahren wir aber, daß an den Universitäten im ganzen deutschen Sprachraum auf hundert Veranstaltungen über Thomas Mann je vierzig über Kafka und Brecht kommen, zwanzig über Heinrich Mann und je fünfzehn über Döblin und Musil. So ändern sich die Zeiten.

Wie aber ist es um die Forschung bestellt? Kein Monat vergeht, ohne daß neue Arbeiten über Thomas Mann erscheinen: Würdigungen und Erörterungen, Monographien und Abhandlungen. Die internationale Thomas-Mann-Industrie blüht und gedeiht mehr denn je. Ihre Dimensionen sind kolossal, Hunderte, nein Tausende von Bänden sind über ihn erschienen, und während wir uns hier Gedanken über Thomas Mann und sein Werk machen, wird irgendwo auf Erden eine neue Abhandlung gedruckt, vielleicht über den Bleistift oder die Zigarre als Phallussymbol in seinen Romanen. Nicht nur über ihn, auch über seine Angehörigen erscheinen allerlei Bücher, zuletzt, wer hätte das gedacht, eine durchaus lesenswerte Monographie von Inge und Walter Jens über Thomas Manns Schwiegermutter Hedwig Pringsheim.

Unermüdlich werden die Tagebücher und die neuerdings zugänglich gemachten Dokumente ausgewertet. Allerdings enthalten die erst dank der Großen kommentierten Ausgabe bekannt gewordenen Briefe nichts Neues, doch mitunter Interessantes. Diese Überspitzung läuft darauf hinaus, daß die Briefe zum bisherigen Bild von Thomas Mann nur noch Details und Nuancen beitragen. In seinem Werke werden jetzt von den Germanisten mühevoll Einzelheiten gesucht, die immer nur belegen, was er selber erklärt hat. So hat es den Anschein, als würden manche Thomas-Mann-Forscher es für ihre allerwichtigste Aufgabe halten, die in ihren Augen offenbar unbelehrbaren Leser von den homoerotischen Neigungen und Interessen Thomas Manns zu überzeugen. Überraschen konnte dieses Bekenntnis in den Tagebüchern nur jene Wissenschaftler, die nie, beispielsweise, den „Tod in Venedig“ gelesen und die die zahlreichen homosexuellen Akzente in seinen Romanen und Erzählungen schlicht übersehen haben.

Ähnlich ist es mit einem anderen bei den Forschern jetzt sehr beliebten Thema: Thomas Mann und die Juden. Mit Zitaten kann man da, ähnlich wie im Fall Fontane, allerlei nachweisen. Auch bei Thomas Mann gibt es überaus positive Äußerungen über die Juden und auch solche, die zeigen, daß ihm die Juden nicht so selten auf die Nerven gingen. Das hat nicht zuletzt mit seiner Erziehung zu tun. In Lübeck, schrieb mir einmal Golo Mann, waren die jungen Kleinstadt-Patrizier der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts Antisemiten. Diese Verallgemeinerung mag übertrieben sein, ganz abwegig ist sie wohl nicht. Aber niemand wird mir einreden können, daß Thomas Mann Antisemit war. Das ist barer Unsinn, und ich werde mich nicht damit beschäftigen, hier die entsprechenden Fakten und Zitate anzuführen.

Doch läßt sich die Frage nicht unterdrücken, ob man der germanistischen Forschung den Vorwurf ersparen könne, daß sie ein besonders wichtiges Aufgabenfeld bisher kaum wahrgenommen habe. 1949 zitierte Thomas Mann den amerikanischen Literarhistoriker Harry Levin, der glaubte, der Joycesche „Ulysses“ sei „a novel to end all novels“. Das würde wohl auf den „Zauberberg“, den „Joseph“ und den „Doktor Faustus“ nicht weniger zutreffen. Und: Es sähe so aus – fährt Thomas Mann fort –, „als käme auf dem Gebiet des Romans heute nur noch das in Betracht, was kein Roman mehr sei“.

Man liest derartiges mit Verwunderung: Hier stimmt doch kein einziges Wort. In den mehr als achtzig Jahren, die uns vom „Ulysses“ trennen, sind viele englische und amerikanische, französische und italienische und auch deutsche Romane – von Kafka und Musil über Döblin und Roth bis zu Günter Grass – entstanden. Allesamt beweisen sie, daß Joyce mit dem „Ulysses“ keineswegs den Roman zu einem Ende gebracht hat. Im Gegenteil: Die Romanform leistet im zwanzigsten Jahrhundert allen düsteren Befunden und Untergangsprophezeiungen hartnäckig Widerstand. Sie ist nach wie vor die dominierende Form der Weltliteratur. Indem Thomas Mann die Diagnose Harry Levins akzeptiert und auf das eigene Werk erweitert hat, ist ihm das Malheur passiert, das Ende des eigenen, des Thomas-Mannschen Romans für das Ende des Romans schlechthin zu halten.

Mehr noch: Trotz der bahnbrechenden Bedeutung des „Ulysses“, die niemand leugnen will, ist der Roman der letzten, sagen wir, dreißig Jahre zur Überraschung der Propheten der Moderne keineswegs James Joyce verpflichtet. Jede neue Generation sucht sich ihre Vorbilder, ohne sich viel um die Theoretiker zu kümmern.

Und wie sieht es nun mit dem Roman Thomas Manns aus?

Es fällt auf, daß die schon klischeehaft wiederholte Behauptung, seine Prosa sei hoffnungslos veraltet, nicht mehr zu hören ist. War dieser Vorwurf, war diese Beschimpfung denn je berechtigt, konnte eine Prosa veralten, deren wichtigste Voraussetzung das unerschütterliche Vertrauen zur Sprache ist?

Überdies fällt die Hinwendung vieler deutscher Autoren der jüngeren und mittleren Generation zum Erzählen auf. Man will nicht mehr experimentieren, sondern Erlebtes und Erfahrenes ausdrücken. Das auktoriale und genuine, das traditionelle Erzählen ist nicht mehr verpönt. Alle wichtigeren deutschen Prosadebütanten der letzten Jahre sind ihm eindeutig verpflichtet.

Damit hängt ein unerwartetes Phänomen zusammen: Der noch unlängst von manchen Kritikern verspottete Familien- und Generationenroman ist wieder modern. Er ist äußerst beliebt – überall und bei allen, bei den Schriftstellern, den Lesern und auch bei den noch unlängst so skeptischen Kritikern. Nur ein Titel sei hier genannt: Was immer man von Jonathan Franzens „Korrekturen“ halten mag, es ist ein Welterfolg, den man in der Heimat des Autors, in den Vereinigten Staaten, sofort mit den „Buddenbrooks“ verglichen hat.

Die alte Familien-Saga, einst von Thomas Mann aus dem neunzehnten Jahrhundert ins zwanzigste hinübergerettet und kräftig modernisiert, lebt auch noch im einundzwanzigsten Jahrhundert, in Deutschland zumal und in Österreich. Ob die vielen Autoren, die jetzt diese Gattung aufgegriffen haben, tatsächlich die „Buddenbrooks“ gelesen haben, weiß ich nicht. Nur bin ich sicher, daß diese Erzähler der Prosa Thomas Manns ungleich näherstehen als jener von James Joyce.

Ich frage mich, ob es nicht eine lohnende Aufgabe für die Germanistik wäre, das Moderne und Innovatorische im Werk Thomas Manns zu entdecken und zu analysieren. Dies jedenfalls ist sicher: Fünfzig Jahre nach dem Tod des Autors lebt dieses Werk so herrlich wie am ersten Tag.

Hinweis: Der Beitrag ist (mit dem Zusatz im Untertitel: Die Lübecker Festrede zum Gedenken an den Schriftsteller) zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. August 2005, Feuilleton, S. 29 und 31. Eine Sammlung früherer Essays zu Thomas Mann sowie zu Heinrich, Erika, Golo und Katia Mann enthält „Thomas Mann und die Seinen“ (zuerst 1987, erweitert 2005). Siehe dazu die Hinweise auf die 2020 erschienene Neuausgabe!