Authentische Sichtweisen um 1900

Korrespondenzen Karl Mays mit jungen Lesern und Leserinnen wurden in „Briefwechsel mit seinen ‚Kindern‘“, Band 95 der „Gesammelten Werke und Briefe“, mustergültig ediert

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schriftsteller Karl May (1842–1912) ließ allen aus seiner Leserschaft, die ihm schrieben, eine Antwort zukommen. Er war da ähnlich zuverlässig wie Theodor Fontane. Der jetzt erschienene Band enthält die Korrespondenzen Mays mit vier jungen Menschen, die, anfänglich noch Gymnasiasten, sich an ihn gewandt hatten. Um genau zu sein: Es sind die Briefe der Jahre 1896 bis 1909; die späteren wird ein Folgeband vorlegen. Es war die Zeit, in der May in seinem Schaffen neue Wege einschlug. Sein altes Konzept des „edlen Wilden“  Winnetou und seine Abenteuer- und Heldenfantasien wandelte er um zu einer allegorischen Erzählweise, in der es um Weltfrieden und Verbrüderung der Nationen ging. „Fast alles, was das Abendland besitzt, hat es vom Morgenlande“, schrieb May 1907 in seinem Roman Der Mir von Dschinnistan.

Die vier Briefpartner waren Marie Hannes (1881–1953) aus Wernigerode und ihr um zwei Jahre älterer Bruder Ferdinand, der Münchner Willy Einsle (1887–1961) und die Stettinerin Marieluise, genannt Lu, Fritsch (1890–1959). Hinzu trat ab 1909 der junge promovierte Literaturwissenschaftler Adolf Droop (1882–1938), der soeben eine Studie über May veröffentlicht hatte (Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen) und später Lu Fritschs Ehemann wurde. Das Ehepaar Karl und Klara May ließ sich von den jungen Leuten mit Onkel und Tante anreden und nannte sie gelegentlich ihre „Kinder“.

Die Korrespondenzen haben einen emotionalen Grundton – man schwärmt sich gegenseitig an –, entwickeln sich aber rasch zu einer Art Diskussionsforum. Zur Sprache kommen die Evolutionstheorie, die „Sozial-Demokratie“ und das Toleranzgebot gegenüber fremden Religionen und Rassen. Im Brief an Einsle vom 8. April 1905 betont May, er „tadle die Inhumanität“ und betrachte die Menschheit „nicht durch unsere europäische Brille“. Die 23-jährige Hannes kritisiert das völlig zu Unrecht „triumphierende“ christliche Europa; die 18-jährige Fritsch spricht von „Europas heuchlerischen Kirchen“. Angeregt dazu werden die beiden Frauen von Mays Roman Und Friede auf Erden (1903), der eine Auseinandersetzung mit Deutschlands China-Politik ist. Erörtert werden auch die naturalistische Literaturströmung, die von May abgelehnt wird, und die Hoffnung auf einen ‚neuen Menschen‘, der bei May „Edelmensch“ heißt. Bemerkenswert ist Mays Bekenntnis, er sei „ein Forscher auf dem Gebiete der Psychologie“. Das ist gewiss übertrieben, aber immerhin stand er mit dem österreichischen Sexualforscher Friedrich Salomon Krauss im Gedankenaustausch. Die Briefe behandeln auch Mays Vortrag in Augsburg am 8. Dezember 1909, bei dem er zum ersten Mal seine Vision vom „Stern Sitara“ vorstellt, der ein Abbild der Erde und der Erdbevölkerung mit ihren ethischen Bestrebungen ist.

Natürlich spielen auch private Erlebnisse und Bedrängnisse der jungen Leute eine Rolle; sie berichten May ihre Studienfach- und Berufswahl und ihre Auseinandersetzungen mit Eltern, Lehrern, Freunden und bitten um seinen Rat. Der Katholik Einsle schreibt kurz vor seinem Abitur, das „Blech“ von den Kanzeln widere ihn an. May, der Protestant, lobt ihn für diesen aufmüpfigen Geist und empfiehlt ihm doch, bei seiner Konfession zu bleiben: Zur „Person“ könne er sich in jeder Religion „erheben“, die Religion sei nur ein „Kleid“. Harte Töne fallen gegenüber Marie Hannes: Sie hatte sich bisher im Schreiben lustiger Gedichte geübt und wollte (laut ihrem Brief von Ende 1902) für May – der als einstiger Vagabund und Kleinkrimineller bei vielen einen schlechten Ruf hatte – publizistisch eintreten, was dieser ablehnte. Wie auch immer, man muss staunen über die Offenheit zwischen dem Schriftsteller und seinen Wahlkindern.

Wir erfahren also viel Persönliches über die Briefpartner und viel über Karl May und die Leitlinien seines Schaffens. May reihte sich, obwohl oder weil er auch als Außenseiter galt, in vielerlei Hinsicht in das politisch sensible und fortschrittliche deutsche Bürgertum ein. Kein Zweifel: Die Moderne zog ihn an. Somit sind diese Korrespondenzen längst nicht nur für den May-Interessierten lesenswert. Mit ihren engagierten Stellungnahmen, also ihren Zustimmungen und Einsprüchen gegenüber damaligen Wertvorstellungen, liefern sie ein gutes Bild ihrer Zeit.

Dieser Briefband ist in der Reihe Karl Mays Gesammelte Werke und Briefe des Bamberger Karl-May-Verlages erschienen; die Reihe ist eine Erweiterung der sehr bekannten Serie Karl Mays Gesammelte Werke, die in großen Teilen sorglos bezüglich Texttreue war. Diese Erweiterung, die der Verlag 2007 vollzog, ist editorisch beachtlich. Das Lob gilt erst recht für den neuen Band. Seine Herausgeber haben minuziös recherchiert. Alle Briefe werden textgetreu samt nachträglichen Einfügungen und Streichungen wiedergegeben. Die Anmerkungen nennen Querverbindungen zwischen den Briefen und Parallelstellen in Mays Erzählwerk. Auch erläutern sie seltene Namen und Begriffe und entschlüsseln – ich möchte sagen: restlos – die verschiedensten zeitgenössischen Anspielungen. Kurz ausgedrückt: Dieser Briefband, der einen überraschend niedrigen Preis hat, ist eine philologische Spitzenleistung. 

Titelbild

Hartmut Vollmer / Hans D. Steinmetz / Florian Schleburg (Hg.) / Karl May: Briefwechsel mit seinen ‚Kindern‘ I. Band 95 der Gesammelten Werke.
Karl-May-Verlag, Bamberg 2020.
608 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783780200952

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