Wahrscheinlich habe ich nicht alles verstanden

Harry Mathews fährt in einem kleinen Roman erlesene Weine auf und zaubert einen Zwilling weg

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spieleröffnung, Spieler/innen, Spielfeld und das Spiel selbst sind in diesem letzten Roman Harry Mathews fürs erste übersichtlich, dabei fluffig erzählt. Mehrere Personen, allesamt irgendwie aus dem Ostküstenadel, irgendwie sophisticated, und so reden sie auch, sind in einem schicken Fischerdorf, das sich seit 1870 zu einem hotspot für reiche Leute entwickelte, versammelt.

Man bleibt zwar nicht unter sich, aber Krethi und Plethi werden da nicht hinkommen, denn um das Areal verläuft, quasi als symbolische Grenze, eine Straße, über die hinaus sich das Dorf nie ausgedehnt hat. Und was treiben die da? Und wer sind diese Leute? Sie sind hier, weil sie sich aus verschiedenen Gründen für die Zwillinge John und Paul, die sich in jenem Fischerdorf niederließen, interessieren. Nun sind Zwillinge per se nicht gar so spannend (ich weiß, wovon ich rede), aber bei John und Paul, da ist das anders. Sie verhalten sich zwar, wie es sich für Zwillinge gehört, ähnlich, gehen sich aber aus dem Weg gemäß einer Übereinkunft, die sie irgendwann getroffen haben. Der eine wohnt im Ort hier, der andere dort.

Warum tun sie das? Jedenfalls ist das für das federführende, frisch ineinander verliebte Paar, Andreas und Berenice, spannend genug, um sich in dem Dorf die Zeit zu vertreiben und zu versuchen, da etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Das lässt sich auch leicht machen, wenn man sich permanent erlesene Weine, fangfrischen Fisch etc.pp. (von der gourmetzeitschrifthaften Auflistung der Köstlichkeiten lebt dieser Roman auch) in verschiedenen Zweier- und/oder Viererkonstellationen zu Gemüte führt.

Berenice, die später ins Ich-Erzählen wechselt, ist von Beruf behavioristische Psychologin und möchte die Prachtexemplare John und Paul studieren. Andreas wiederum, Spross einer Ostküstenfamilie (wie übrigens auch Mathews selbst), kann es sich leisten, Bücher zu verlegen, die nicht gerade weggehen wie geschnitten Brot – und er möchte unbedingt einen Lebensbericht von einem der beiden Zwillinge veröffentlichen.

Ein zweites Paar tritt auf, Geoffrey und Margot, man muss sich ja kennenlernen (und, siehe oben: erlesene Speisen zu sich nehmen) und auch sie sind gespannt wie ein Flitzebogen, was es mit John und Pauls Anwesenheits-Abwesenheits-Distanz-Leben auf sich hat. Geoffrey: „Sicher steckt irgendetwas Seltsames hinter dem Verhältnis der Zwillinge, aber ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, was.“ Da ist er nicht allein.

Dann folgt sowas wie ein Decamerone, vorgeschlagen von Andreas. Jede/r der vier erzählt eine Geschichte, das ergibt also mindestens vier Abendessen. Dazwischen versuchen Berenice und Andreas näher an die Zwillinge heranzukommen. Das gelingt auch, wiederum über eine aparte Ostküstenbraut, die auch eine lange Geschichte reicher Leute zu erzählen hat und sowohl mit John als auch Paul schläft. Doch John lässt sich nicht erweichen. Bei einem Treffen mit Berenice und Andreas blockt er. Er und Paul hätten die Abmachung, nicht in der Öffentlichkeit über- oder miteinander zu reden. Dieser Pakt sei „die Folge lang zurückliegender Ereignisse. Sie ermöglicht es uns, nahe beieinander zu wohnen, ohne dass unsere Vergangenheit zu Streit oder auch nur irgendeiner Meinungsverschiedenheit führt“.

Bevor Margot als letzte ihre Geschichte erzählt (die schräg-verdrehten Geschichten der anderen wären auch wert, erzählt zu werden, es soll aber nicht alles verraten werden), vertraut sie sich Berenice an. Sie habe mit John geschlafen, und das muss prima gewesen sein („nach dem fünfzehnten Mal hörte ich auf zu zählen, wie oft es mir kam“). OK.

Doch auch jene Geschichte, die Margot für die anderen (Andreas, Berenice, Geoffrey) beim Dinner erzählt, hat es in sich. Margot lernte a certain Meredith auf einem englischen Internat kennen als sie fünfzehn war. Meredith ließ sich mit dem dreißig Jahre älteren Dockarbeiter Shanks ein („ein echtes Mannsbild!“). Es kommt wie es kommen muss; Schwangerschaft. Shanks ist aber tofte, will Meredith heiraten, ist supernett zu ihr. Doch als der Sohn auf die Welt kommt, ist er wie ausgewechselt. Shanks brüllt ihn an, verabscheut ihn, prügelt ihn, Jahre der Qual für das Kind folgen, Meredith schafft es nicht, Shanks zu verlassen. Man wird nicht überrascht sein, wer Meredith ist: Margot natürlich: „Doch als ihr Sohn sechs Jahre alt war und Shanks ihn mit einem kleinen Brett traktierte und ihm dabei die Hüfte brach …. Kam ich endlich zu Sinnen. Ich hielt es nicht mehr aus.“  Sie verlässt ihn, ihr Sohn Timothy kommt ins Internat, sie hat später nur noch wenig Kontakt. Shanks kriegt raus, wo Meredith-Margot wohnt, folgt ihr und lebt nun auch in besagtem Fischerdorf, wird aber durch die Drohung einer Klage abgehalten, sie zu behelligen.

Erneute Volte. Der örtliche Polizist und sein Assistent, Sergeant Kerr, kommen zum Essen der vier Decameronistas hinzu – es ist etwas Grausiges passiert. Kerr sah zwei Männer an der Küste, Paul und Shanks. Paul zwingt Shanks zu seinem Bootshaus, fesselt ihn – erneutes Bäumchenwechseldich: Paul ist Timothy, er tötet seinen Vater mit dem Brett von ehedem, und das nicht auf die feine Art. Er fährt den Toten hinaus aufs Meer, packt (der Wolf lässt grüßen) zwei Ziegelsteine in den Bauch, dass da ja niemand mehr auftaucht. Danach tötet er sich selbst. Der Polizeichef will mehr Informationen, ruft das Internat an, auf das Timothy ging. Auf Schulfotos sei Paul sehr gut zu erkennen gewesen, doch auf den Fotos, „die seinen letzten Bewerbungen beigefügt waren, dagegen überhaupt nicht“. Margot ist bestürzt, was habe sie nur getan? Captain Kipper, der Polizeichef bleibt neugierig: Wenn nun Timothy Paul sei, „was war dann Johns Vorname?“ Denn John, Pauls Zwilling, sei „verschwunden – spurlos, wie man so schön sagt“ – aber in diesem Roman ist wenig spurlos, man weiß nur nicht, wohin die Spuren führen. Erneute Volte. Margot ist verwundert, Kipper wisse doch durch seine Recherche im Internat, „dass ich nie mehr als ein Kind gehabt habe. – meinen geliebten Timmy“. Aha.

Was zum Teufel ist hier los? Habe ich einige Anspielungsabbiegungen nicht mitgekriegt? Habe ich etwas nicht verstanden? Sehr vieles nicht, aber das macht wahrscheinlich nicht viel. Denn, das könnte vielleicht eine Idee sein, egal wie man hier den Text durchläuft, irgendwas geht immer nicht auf. Das könnte die Absicht und der Spaß für Mathews gewesen sein. Denn nun, nach dem Ende der Geschichte wird klar: „Wenn der April zu Ende geht, beginnt der Herbst“ (da ist Mathews aber schnell): „eine Zeit der Nebel und nasseren Winde sowie gelegentlicher Kälteeinbrüche; der lokalen Weine, über lange Zeiten kühl gereift, der frühen Nächte bei elektrischem Licht“ – so weit so gut, aber jetzt kommt´s: eine Zeit „der Fantasienamen und Ratespiele; und dann dein leises Lachen“.

Wahrscheinlich hatte Mathews eine diebische Freude, diesen Roman zu schreiben, zu basteln, zu verrätseln. Ist er das Du, das da leise lacht – das weiß ich nicht genau, das habe ich nicht recht verstanden. Ist das schlimm? Überhaupt nicht, Spaß hat man trotzdem und wer gern semantische und Anspielungsratespiele spielt, der ist hier gut bedient.  

Titelbild

Harry Mathews: Der einsame Zwilling.
Aus dem Englischen von Michael Mundhenk.
Diaphanes Verlag, Berlin 2020.
128 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783035801385

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