Kann man palästinensisch werden?

Lina Meruanes „Heimkehr ins Unbekannte“: Eine Spurensuche oder Ein autobiographischer Versuch

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zurückkehren. Immer wieder überfällt mich dieses Wort, wenn ich das Ziel Palästina erwäge. Eine Rückkehr, sage ich mir, wäre es nicht. Höchstens der Besuch eines Landes, in dem ich nie gewesen bin, von dem ich kein eigenes Bild habe.

Damit beginnen die Überlegungen der Chilenin Lina Meruane. Der Vater wollte nie zurück, obwohl es ein Elternhaus in Beit Jala gibt, sich nicht den „willkürlichen Wartezeiten aussetzen, der peinlich genauen Durchsuchung seines Koffers, den schikanösen Verhören an der israelischen Grenze und all den Kontrollpunkten“. In Chile gibt es eine relativ große palästinensische Gemeinde, die auch Projekte in der verlorenen Heimat unterstützt, so z.B. eine Schule im Dorf der Familie. Die Tochter, also die Autorin, die seit 20 Jahren in New York lebt, unternimmt 2013 schließlich den Versuch einer „Heimkehr ins Unbekannte“.

Lina Meruane beschreibt einfühlsam und zugleich intellektuell ihre Zweifel, ihre Neugier, ihre widersprüchlichen Empfindungen, als sie die Reise ins Unbekannte endlich wagt. Der Flug von London nach Tel Aviv, die Kontrollen, ihr Name, der erstmals „erkannt“ wird, die Unterkunft beim befreundeten Schriftsteller mit der jüdisch-arabischen Familie in Haifa, der Besuch in Gaza auf der Suche nach den unbekannten, entfernten Verwandten. Diese Reise und ihre Erlebnisse lassen sie nicht mehr los, und so sucht sie, zurück in New York, Antworten bei den vielen Autoren, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, recherchiert unermüdlich, denn natürlich genügt es ihr nicht, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Sie muss auch eine Spurensuche in die Vergangenheit antreten, um zu verstehen, was nicht zu verstehen ist. Die Nakba, die gewaltsame Flucht und Vertreibung von etwa 700 000 Palästinenser 1948, nach der Gründung des Staates Israels. Der Antisemitismus. Die sich durch die Jahrhunderte ziehenden Pogrome. Der Holocaust.

Das Thema rumort weiter in ihr, und so schreibt sie ein Buch, in dem sie ihre Erlebnisse und Überlegungen, ihre Beobachtungen und ihr Entsetzen festhält, um vielleicht etwas mehr Klarheit zu gewinnen. Ein paar Jahre später unternimmt sie eine zweite Reise, diesmal mit einer bunt gemischten Gruppe, mit einer Griechin, Senegalesen, einem Ägypter, Indern, Deutschen und vier Palästinensern:

Die Kuratorin, die uns von Berlin aus eingeladen hatte; die Historikerin, aus Chicago zurückgekehrt, die mit abgelaufenem Visum unterrichtete; die feministische Anthropologin aus Jerusalem. Außerdem ein Fotograph mit dichtem angegrautem Haar und ein Journalist, der gerade aus einem israelischen Gefängnis entlassen worden war.

Sie verbringen eine Woche in Ramallah, um den harten, von Willkür und Not geprägten Alltag der Palästinenser kennenzulernen. Von dort aus überqueren sie nach den ermüdenden Kontrollen die Grenze und gelangen in die besetzten Gebiete. Sie bewundern die Kreativität verschiedener Künstler und Aktivisten unter schwierigen Bedingungen, sie sehen die Gewalt und Kontrollen der Hamas, und die Autorin will natürlich unbedingt ihre entfernten Verwandten von neuem aufsuchen. Schon bald türmen sich wieder die widersprüchlichen Bilder im Kopf und Lina Meruane bemüht sich, irgendein Gerüst zu bauen, an dem sie sich festhalten könnte.

Fragen über Fragen. Und bald kreisen sie um das Thema der Identität, was macht sie aus? Woher komme ich, was sind meine familiären Wurzeln? Genügen Papiere mit Wohnsitz oder Staatsangehörigkeit? Die in einem Land gelebten Jahre? „Dann kann man ihm angehören, aber nie dazugehören?“ Gibt es überhaupt klare Identitäten, sind sie äußerlich erkennbar, sind wir nicht alle eine jahrhundertalte Mischung, wie die gerade in Mode gekommenen Genanalysen beweisen? Die Griechin sagte an einem Kontrollpunkt: „wir sind nicht europäisch genug … waren nur eine Schnittstelle, ein Ort zwischen den Kulturen“. Eine Diskussion um „Rassen“ ist sinnlos, jede rationale Überlegung läuft sofort ins Leere. Meruane lehnt klare Zuschreibungen ab, und diese Unmöglichkeit, sich eindeutig zu definieren und zu positionieren, bestätigen dann ihre durchaus überraschten Studenten aus vielen Nationen in einem Seminar in New York.

Gilt es nicht vielmehr, nationale und genetische Einengungen als obsolet zu entlarven? Gibt es „jüdische Gene“, wie eine in Israel stattfindende Debatte suggeriert? Ist das nicht problematisch?

Meruane stellt viele aufschlussreiche Fragen, die zu einem längeren Nachdenken einladen und uns alle angehen, vor allem in diesen beklemmenden Zeiten mit erstarkenden Nationalismen, den aberwitzigen Diskussionen um „white supremacy“, den verheerenden Langzeitfolgen des Kolonialismus, insbesondere in Afrika, dem zunehmenden Antisemitismus, der Verunglimpfung oder Ablehnung der muslimischen Welt, weil von dort der Terror exportiert werde? Wie geht man gegen die bizarren Thesen der AfD von „Umvolkung“ vor? Was tun mit der wachsenden Angst vor China? Eine Studentin sagt anklagend, dass ihre „geschlitzten Augen sie zu einer Fremden machte, auch wenn sie aus Colorado sei und nur Englisch spreche“. Äußere Merkmale, Gene, Staatsangehörigkeit …. Was definiert jeden Einzelnen? Was definiert eine Nation?

Was werden die Rabbiner sagten, wenn sie entdecken, dass es durch einen Ausrutscher in der Liebe in der Vergangenheit, durch einen nicht von der Geschichte verzeichneten sexuellen Übergriff Muslime gibt, die genetisch von Juden abstammen oder Juden mit palästinensischen Genen? … Can you prove religious identity scientifically?, fragt sich Oscar Schwartz. Wie viel genetisches Material ist nötig, um das Jüdische oder das Muslimische zu beweisen? Reichen 51%?

„Israel, das 20% arabische Bürger beherbergt, wurde zu einem ‚ausschließlich‘ jüdischen Staat erklärt“. Das weckt schlimme Assoziationen und Erinnerungen. Die „Reinheit des Blutes“ war nach der Vertreibung der Juden und Mauren 1492 aus Spanien jahrhundertelang Voraussetzung, um im Staat und in den Kolonien, also in Lateinamerika, in Amt und Würde zu gelangen. Die Inquisition wütete, die Scheiterhaufen mit „Ketzern und Hexen“ loderten. Es gibt zahllose weitere Beispiele für den Wahn der reinen Rassen – aus Afrika, Indien oder Indonesien. Der „arische“ Wahnsinn endete im Holocaust.

Die Lektüre dieses Buches ist eine herausragende Möglichkeit oder Einladung zur Selbstbefragung, zum Nachdenken. Und die Kritik an Netanyahu und seiner Politik ist definitiv kein Antisemitismus.

Die spanische Ausgabe von 2014 fand den Weg in andere Länder und Sprachen, u.a. ins Arabische. Das führte zu einer Einladung der Autorin nach Kairo und dort erzählt sie auch von ihrer zweiten Reise … nennt das Verb „zurückkehren“ in verschiedenen Sprachen, bis der einladende Freund den Beginn des Buches auf Arabisch vorträgt.

Der zweite Teil des Buches behandelt die Erfahrungen dieser Reise und wurde eigens für die deutsche Ausgabe geschrieben. Der Text zeugt davon, wie intensiv und engagiert Lina Meruane sich seit zehn Jahren intellektuell und emotional mit dem Thema auseinandersetzt. Irgendwie will es ihr nicht gelingen, aus ihrer chilenischen Staatsbürgerschaft, dem palästinensischem Familienhintergrund und dem seit zwei Jahrzehnten neuen Wohnsitz in New York einen Einklang zu schaffen. Ist vielleicht ein Umdenken nötig, damit wir alle unsere vielfältigen Wurzeln als gleichbedeutend akzeptieren und etwas Neues (er)schaffen?

Ein paar Anregungen dazu liefert dieser wichtige, gewichtige Essay.

Titelbild

Lina Meruane: Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange.
Berenberg Verlag, Berlin 2020.
206 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334682

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