Der vor 100 Jahren geborene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und die Zeitschrift literaturkritik.de

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Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Ohne Marcel Reich-Ranicki, dem der Themenschwerpunkt der Mai-Ausgabe von literaturkritik.de in den Wochen vor seinem 100. Geburtstag am 2. Juni 2020 gewidmet ist, hätte die Zeitschrift vor mehr als zwanzig Jahren nicht das Licht der damals noch jungen Internet-Welt erblickt. In einem ausführlichen Rückblick der Februar-Ausgabe 2009 auf das erste Lebensjahrzehnt von literaturkritik.de stehen dazu einige autobiographische Passagen, die ich heute kurz vor dem Geburtstag gerne noch einmal in Erinnerung rufe:

Es mag etwas pathetisch klingen, aber für mich war literaturkritik.de Teil der Erfüllung eines alten Traums. Die Entstehung der darin ausphantasierten Wunschvorstellungen lässt sich auf das Jahr 1982 datieren. Ein Jahr vorher, ich war damals Assistent an der Universität München, rief aus heiterem Himmel und ohne dass ich jemals vorher mit ihm persönlichen Kontakt gehabt hätte, Marcel Reich-Ranicki bei mir zu Hause an und stellte mir ohne lange Einleitungen eine kurze Frage: „Wollen Sie Literaturredakteur bei der F.A.Z. werden?“ Er hatte eine ausführliche Rezension von mir in der „Süddeutschen Zeitung“ über einige neu erschienene Sozialgeschichten der Literatur gelesen und sich dann nach mir bei Michael Krüger im Hanser Verlag erkundigt, wo zwei von mir herausgegebene Bücher erschienen waren. Es ging alles ganz schnell, in einem Tempo und in einem bürokratiefreien Verfahren, das ich von der Universität überhaupt nicht gewohnt, doch für die Arbeit in Zeitungen, wie ich bald merkte, typisch war: ein Treffen im Restaurant mit Reich-Ranicki und Joachim Fest, ein kurzes Vorstellungsgespräch mit dem Geschäftsführer, die Unterzeichnung des Vertrages, und ohne irgendjemandem auch nur meinen Ausweis zeigen zu müssen, war ich in der Redaktion angestellt, zunächst auf Probe, dann ohne Befristung. Die Redaktionsarbeiten waren lehrreich und spannend, die Kollegen Franz Josef Görtz und Uwe Wittstock ausgesprochen nette Menschen. Und Reich-Ranicki selbst erwies sich als viel freundlicher und umgänglicher, als es sein öffentlicher Ruf damals erwarten ließ. Er wurde zu einem väterlichen Freund und ist es bis heute geblieben. Als Kritiker kannte ihn jeder, aber dass er hinter den Kulissen ein hervorragender Ressortleiter war, wussten vergleichsweise wenige. Ich habe sehr viel von ihm gelernt und 2004 in meiner Biographie über ihn den Stil seiner Redaktionsarbeit ausführlich beschrieben.

Dass ich nach einem Jahr das Angebot meines Universitätslehrers Walter Müller-Seidel zur Rückkehr an seinen Lehrstuhl annahm und der täglichen Büroarbeit in der F.A.Z. die akademische Freiheit vorzog, war keine leichte Entscheidung. Ich habe sie zwar nie bereut, aber das damit Verlorene lange vermisst. In der Redaktion fehlte mir vor allem die Möglichkeit, mich lange und intensiv mit einem Thema auseinanderzusetzen, mit enthusiastischen, alle möglichen Anregungen in sich aufsaugenden Studenten zu kommunizieren und mir die Zeit selbst einzuteilen. Die Universität wiederum nahm ich nach diesem Jahr deutlicher als zuvor als eine schwerfällige, überbürokratisierte Institution wahr, das wissenschaftliche Forschen und Publizieren als eine zähe, einsame und in der Resonanz vergleichsweise dürftige Angelegenheit von Spezialisten. Redaktionsarbeit hingegen ist Arbeit mit anderen zusammen; was man angeregt, bearbeitet oder selbst geschrieben hat, wird oft schon am nächsten Tag von Tausenden von Lesern wahrgenommen und zeigt deutliche Wirkungen. Und wenn man neugierig, bücher- und informationssüchtig ist, dann kann man sich eine Literaturredaktion als Paradies vorstellen, in dem es keinen Mangel gibt. Kurzum: Mit literaturkritik.de konnte ich meine akademische Freiheit behalten und viel von dem Vermissten zurückgewinnen.

Die Beziehungen zwischen der an Universitäten betriebenen Literaturwissenschaft und journalistischer Literaturkritik ist eines der Problemfelder, dem der Themenschwerpunkt zu Reich-Ranickis 100. Geburtstag in literaturkritik.de gewidmet ist. Er selbst hat sie in seiner Autobiographie Mein Leben bei den Erinnerungen an die Jahre seiner Redaktionsleitung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wiederholt angesprochen und mit einigem Stolz auf die Ergebnisse seiner Bemühungen zurückgeblickt, die Kluft zwischen akademischen und journalistischen Auseinandersetzungen mit Literatur zu überbrücken: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Überwindung der traditionellen, der unseligen Kluft zwischen der deutschen Universitätsgermanistik und der Literaturkritik, vornehmlich der Kritik in der Presse, zum Wichtigsten gehört, was mir in den fünfzehn Jahren in der Frankfurter Allgemeinen gelungen ist.“

Zur Überwindung der Kluft zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft haben deutsche Universitäten, sieht man von der 1974 erfolgten Ernennung Reich-Ranickis zum Honorarprofessor an der Universität Tübingen ab, relativ spät beigetragen – im Gegensatz zu Universitäten in anderen Ländern: 1968 lehrte Reich-Ranicki ein Semester lang deutsche Literatur an der Washington University in Saint Louis. Von 1971 bis 1975 war er wiederholt als Gastprofessor für neuere deutsche Literatur an den Universitäten von Stockholm und Uppsala tätig. In Uppsala erhielt er 1972 die erste Auszeichnung in seiner Kritikerkarriere: die Ehrendoktorwürde der Universität. Erst nach zwei Jahrzehnten folgten entsprechende Auszeichnungen an deutschen Universitäten, zuerst 1992 an den Universitäten Augsburg und Bamberg, zuletzt 2006 und 2007 an zwei Universitäten in Berlin. 2007 fand in Frankfurt die Einweihung des Marcel-Reich-Ranicki-Lehrstuhls der Universität Tel Aviv statt. Der Literaturwissenschaftler Peter von Matt hielt dabei den Festvortrag.

Im Rahmen des Studien- und Forschungsschwerpunktes „Literaturvermittlung in den Medien“ an der Universität Marburg, in dem auch literaturkritik.de stand, wurde von mir im Sommer 2010 die „Arbeitsstelle Marcel Reich-Ranicki für Literaturkritik in Deutschland“ eingerichtet. Die Arbeitsstelle archivierte alle Zeitungsartikel, die der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bisher veröffentlicht hat und die von ihm selbst gesammelt wurden, seine Buchpublikationen, Bücher über ihn und aus seiner Bibliothek sowie diverse andere Arbeitsmaterialien, die Reich-Ranicki mir damals übergeben hatte. Nach seinem Tod wurden mir als seinem „Literarischen Nachlassverwalter“, zu dem er mich in seinem Testament bestimmt hatte, weitere Bestände aus seinem Archiv überlassen und in der Arbeitsstelle deponiert.

2020 wurde die Arbeitsstelle aufgelöst und vor wenigen Tagen, am 27. Mai 2020, der dort archivierte Nachlassbestand von Reich-Ranicki in das Deutsche Literaturarchiv Marbach verlagert. Ihm hatte Reich-Ranicki schon in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts den größten Teil seines Archivs übereignet. Und dort ist auch der Nachlass einer seiner engsten und längsten Freunde archiviert: der von Siegfried Lenz. Der Themenschwerpunkt von literaturkritik.de enthält einige Beiträge und Dokumente zu dieser Freundschaft. Dazu gehört die Erzählung Der Große Zackenbarsch, die unter diesem Titel zuerst am 19. Juli 1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien und „Marcel Reich-Ranicki zum siebzigsten Geburtstag“ gewidmet war. Die Erzählung wurde später unter dem Titel Ein geretteter Abend in etlichen Editionen der Erzählungen von Lenz veröffentlicht. Das „Geleitwort“ Reich-Ranickis zu der 2006 im Umfang von über 1500 Seiten veröffentlichten Ausgabe endet mit dem Absatz:

Und schließlich schätze und liebe ich – auch aus sehr persönlichen Gründen – die Geschichte „Der Große Zackenbarsch“, ein humoristisches Gleichnis über den Kritiker und die Kritik. Für diese Parabel gilt wie für das meiste aus seiner Feder: Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr.

Die Erzählung ist ein markantes Beispiel für ein bisher wenig beachtetes Phänomen, über das Uwe Neumann zu Reich-Ranickis 100. Geburtstag eine über 500 Seiten umfassende Darstellung und Dokumentation im Verlag LiteraturWissenschaft.de (zu dem auch literaturkritik.de gehört) veröffentlicht und dabei den ursprünglichen Titel der Erzählung übernommen hat. Hier geht es um „Marcel Reich-Ranicki als literarische Figur“ und dabei um Beziehungen zwischen Literatur und Kritik, die noch spannungsreicher sind als die zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Neumann geht auf literarische Auseinandersetzungen von über 300 Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit Reich-Ranicki ein. Teile seines Kapitels „Der Aufstieg zum Großkritiker (1958-1973)“ betreffen seine Präsenz in der Gruppe 47 und sind in die Mai-Ausgabe übernommen worden.

In ihr sind neben zwei weiteren literarischen Beiträgen über ihn einige Artikel erneut veröffentlicht, die von Personen geschrieben wurden, die ihm nahestanden und viel über ihn publiziert haben: von Uwe Wittstock über „Reich-Ranicki – als Literaturchef in der FAZ“, von Volker Weidermann über die von ihm in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung betreute Kolumne „Fragen Sie Reich-Ranicki“ sowie von Volker Hage über Reich-Ranickis Beziehung zu Golo Mann und über seine Autobiographie Mein Leben. Auf sie geht auch eine Rede von Jürgen Habermas ein, die wir zusammen mit einer Rede Reich-Ranickis über Habermas und seine Rolle im „Historikerstreit“ zum Nachlesen anbieten. Und einen Beitrag zu dieser Autobiographie von Andrew Ranicki, dem 2018 gestorbenen Sohn von Marcel Reich-Ranicki, haben wir ebenfalls nochmal veröffentlicht. Er endet mit den Sätzen:

Als ich von einer deutschen Illustrierten um ein Interview aus Anlass des achtzigsten Geburtstags meines Vaters gebeten wurde, lautete die letzte Frage, was ich meinem Vater verdanke. Meine Antwort war: „Mein Leben. Meine Mutter und er konnten dem Tod im Ghetto gerade noch entfliehen. Daran denke ich unentwegt.“

Veröffentlicht sind in der Ausgabe weiterhin Auszüge aus und Hinweise zu Büchern, die erst kürzlich zu Reich-Ranickis 100. Geburtstag erschienen sind, darunter ein Gespräch, das Paul Assall mit ihm 1986 über Literaturkritik und sein Leben geführt hat, bisher aber unveröffentlicht geblieben war.

Veröffentlicht haben wir nicht zuletzt aber auch wie schon in vielen früheren Ausgaben und im Verlag LiteraturWissenschaft.de Beiträge von Reich-Ranicki selbst. Am Ende des Themenschwerpunktes steht sein Aufsatz von 1995 Über Juden in der deutschen Literatur und fungiert hier gleichsam als Überleitung zu dem, was an den Themenschwerpunkt anschließt: Beiträge zum 50. Todestag von Paul Celan und von Nelly Sachs.

Im Anschluss an die Rubrik zu „Jubiläen und Gedenktagen“ hat unsere Redaktion an der Universität Mainz ihre Serie über das „Lesen in der Corona-Krise“ fortgesetzt. Von der Krise ist auch der 100. Geburtstag Reich-Ranickis betroffen. Eine vom Deutschen Literaturarchiv Marbach für den 23. April 2020 angekündigte Veranstaltung dazu musste abgesagt werden. Ein neuer Termin wurde noch nicht festgelegt. Die für den 15. Mai vorgesehene Eröffnung der von Uwe Wittstock kuratierten Ausstellung zu Reich-Ranickis 100. Geburtstag in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt wurde ebenfalls abgesagt und auf den November 2021 verschoben. Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt wird immerhin im Internet eröffnet – und ist dort bei Google Arts & Culture zu sehen. Und die Jüdische Gemeinde in Frankfurt hat zum Livestream eines Gesprächs  von Salomon Korn mit Ina Hartwig über Reich-Ranicki eingeladen, das am 2. Juni um 20 Uhr im Ignatz Bubis-Gemeindezentrum stattfindet.

Abschließen sei allen gedankt, die mit ihren Beiträgen oder ihren Genehmigungen zur erneuten Veröffentlichung älterer Publikationen von und über Reich-Ranicki diese Ausgabe ermöglicht haben. Gewidmet ist sie dem jüngsten Nachwuchs von Reich-Ranicki: seinen im März 2015 und im Februar 2020 geborenen Urenkeln Nico Marcel und Alex Andrew. Ihre Mutter Carla Ranicki hat mir am 2. Juni ein Foto von ihnen geschickt – und nach Rückfrage erlaubt, es zum Geburtstag ihres Großvaters zu veröffentlichen. Der Fünfjährige versucht hier, den drei Monate alten Bruder für ein Buch zu begeistern …