Die magische Drei
Ruth Wittig zeigt, was „Zu dritt“ alles möglich und unmöglich ist
Von Sabine Haupt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas alte Wort „Dreiecksbeziehung“ hat etwas verheißungsvoll Anrüchiges, etwas, das den Mief und die gepflegte Langeweile kleinbürgerlicher Beziehungskisten mit frischem Wind versorgt, doch ohne gleich alles umzupusten und grundsätzlich in Frage zu stellen. Die hier dargestellte Welt ist eng und klein, es klemmt und hemmt an allen Ecken und Enden, doch man arrangiert sich, wochen-, jahre-, oft jahrzehntelang, ohne dabei zu merken, wie die kleinen Alltagsfluchten, die man sich mit der Zeit doch irgendwie und wie zufällig zurechtgelegt hat, mehr und mehr einen schon fast unheimlichen Sog entwickeln, dem man sich immer weniger entziehen kann.
Ganz ähnlich ergeht es der Leserin bei der Lektüre des ersten Romans von Ruth Wittig. Was unter dem knappen, doch, wie sich bald herausstellt, überaus passenden Titel Zu dritt fast ein bisschen bieder, getarnt als klassischer Familienroman daherkommt, der – verteilt auf drei getrennte Romanabschnitte, verschiedene Zeitebenen und Figurenkonstellationen – das Leben und Zusammenleben von vier Generationen einer typisch westdeutschen Familie aus dem Mainzer Kleinbürgertum erzählt, erzeugt nach und nach eine diskrete, fast unmerkliche und darum umso wirksamere Dynamik der Subversion. Eine Kraft, die das Romanpersonal nicht via spektakulärer Schicksalsschläge aus der Bahn katapultiert, sondern durch ihr beharrliches, fast kindlich naives, „unschuldiges“ Spiel mit den Grenzen auf konstantem Schlingerkurs hält. Zur echten Katastrophe kommt es nie. Stattdessen wird viel gelesen, erzählt, gekocht und gegessen. Manchmal wird es regelrecht gemütlich. Doch jeder weiß und spürt, die Figuren so gut wie die Leser, wie dünn das Eis ist, auf dem diese Lebensentwürfe torkeln.
Dabei fungiert die Zahl „drei“ als magischer Motor der Beziehungsdynamik. Immer wieder lässt Wittig ihre Figuren in instabile Dreierkonstellationen hineinschlittern. Und alle, die sich je mit den Tücken von Geometrie, Trigonometrie, Logik und Dialektik oder den vieldeutigen Strukturen der Dreifaltigkeit, des Dreiklangs und des Volksmärchens auseinandergesetzt haben, wissen, dass es beim Triangulieren nicht immer nur mit rechten und ausgewogenen Dingen zugeht, weil die Drei es nämlich ganz schön in sich hat.
Sie hat es in sich, aus einer heterosexuellen, aber erstaunlich „keuschen“ Zweierbeziehung eine zumindest latent ziemlich scharfe bisexuelle Dreierkiste zu zimmern, deren polyamouröse Struktur zunächst recht simpel anmutet: „In der Zeit, die dann kam, war ich Mittelpunkt eines Dreiecks, in dem alle sich liebten. Es ruhte auf einer Basis, deren Endpunkte durch R und P gebildet wurden. Radwan und Philipp. Von beiden Punkten gingen mit einem Innenwinkel von etwa fünfundsechzig Grad Schenkel oder Geraden mit gleicher Seitenlänge in die Höhe, und oben, wo sie zusammentrafen, auf der Spitze des Winkels, saß ich. Es war sehr bequem.“ Dann wird es aber zunehmend komplexer und verzwickter, zuletzt kaum noch nachvollziehbar, vermutlich auch, weil sich das Verbindende allmählich verflüchtigt und damit die geheime Symmetrie des Dreiecks aus dem Gleichgewicht bringt: „In anderen Urlauben vermisste ich Philipp nicht. Dann entstand etwas Kostbares zwischen Radwan und mir, das nur mit uns beiden zu tun hatte.“
„Drei“ hat es aber auch in sich, wenn es darum geht, die räumlich und geistig beengten Verhältnisse der Nachkriegszeit zu erzählen, als mehrere Generationen auf engem Raum zusammenlebten und kleine, spießige, meist sprachlose Beziehungskonstellationen bildeten. Eine Welt, in der Missverständnisse und Eifersüchteleien zwischen Müttern und Töchtern, unter Schwestern und Kusinen an der Tagesordnung sind und Frauen sich wieder in ihrer traditionellen Opferrolle einrichten, aus der es außer durch Spionieren und Intrigieren kaum einen Ausweg gibt:
Die Mama steckte den Briefbogen ins Kuvert, seufzte und schob das Ganze wieder unter den weißblau karierten Stapel zurück. Natürlich würde sie so tun, als wisse sie nichts von dem Plan, aber was würde das nützen? Am Ende würde sie erfüllen, was von ihr verlangt wurde. Erstens hatte sie als fünftes Rad am Wagen keine Wahl, und zweitens hatte sie noch nie in ihrem Leben „nein“ gesagt.
Im dritten Teil des Romans hilft die magische Drei einem 89jährigen bei seinem letzten erotischen Abenteuer, das dieser als Dritter im Bund und gewissermaßen als Trittbrettfahrer seiner sexuell recht aktiven polnischen Pflegerin erlebt. Parallel zu dieser mit großer Sensibilität und Menschenkenntnis erzählten Episode verhilft der Zahlenzauber seiner Enkelin zu einem Kind mit dem schwulen „hilfsbereiten Nachbarn aus dem dritten Stock“.
Die Magie der Zahl Drei funktioniert aber nur durch die höchst subtilen, psychologisch genauen, stets von einer sanften und überaus menschenfreundlichen Ironie durchzogenen Erzählstrategien der Autorin. Mit ihrem ersten Roman bekräftigt Ruth Wittig nun diese besondere, bereits den Erzählband Camouflage (2014) prägende Qualität ihres realistischen Schreibens. Was diesen auf den ersten Blick vielleicht etwas allzu gepflegten Realismus kennzeichnet, ist nicht nur die Kunst der exakten, oft symbolisch pointierten Beschreibung von Orten und Menschen, gepaart mit einem geschulten Blick für Widersprüche, Ambivalenzen, Alltagssadismus, Ausflüchte und Lebenslügen, der seine Figuren aber niemals seziert oder bloßstellt, sondern sich mit Sorgfalt und liebevollem Verständnis in sie hineindenkt und -fühlt. Das wirklich Bemerkenswerte an diesem Realismus aber ist sein latenter, oft kaum spürbarer Hang zur verkappten Katastrophe, das langsame, unterschwellige Erodieren von Normalität, das mich entfernt an Filme von Ruben Östlund erinnert.
Wittig kann formulieren, beherrscht die Kunst der treffenden Wortwahl, der einleuchtenden und anschaulichen Schilderung aus dem Effeff. Manche Szenen sind von geradezu filmischer Präzision, beispielsweise, wenn sie in allen Details beschreibt, wie ein alter, gehbehinderter Mann in ein Auto gehievt wird. Nur manchmal lässt sie sich dazu hinreißen, den flotten, vorhersehbaren Jargon wortgewandter Gebrauchsbelletristik zu verwenden, dann „pflücken“ sich ihre Protagonistinnen Kleinkinder von der Schulter der Schwester, „angeln“ sich Pullover aus dem Schrank oder „zaubern“ ein Essen auf den Tisch.
Besonders beeindruckend sind die Passagen, in denen es darum geht, eine tabuisierte Erotik – zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn oder zwischen einem bettlägerigen Greis und seiner jungen Pflegerin – ganz langsam und behutsam, mit all ihren noch so absurden Wenns und Abers, all den kleinen Lügen, Zweifeln und Selbstbetrügereien, und damit absolut plausibel aus der Normalität herauszuschälen und ganz allmählich, unter beständigem Rühren und vorsichtigem Blasen, hochzuköcheln. Und da gibt es noch etwas, das mich berührt, etwas das entfernt zwar den von Roland Barthes beschriebenen Mythen des Alltags entspricht, mit vermeintlich ähnlichen literarischen Verfahren – ich denke hier vor allem an das ironische Namedropping von Markenlabels oder Songtiteln, wie es von Bret Easton Ellis oder Rainald Goetz in die sogenannte Popliteratur eingeführt wurde – aber nicht das Geringste zu tun hat. Die alte, längst vergangene Bundesrepublik von Konrad Adenauer bis Willy Brandt erfährt in diesem Roman ihre kleine Auferstehung nämlich nicht nur durch minuziöse Orts- und Personenbeschreibungen, sondern auch durch den quasi pawlowschen Wiedererkennungseffekt gewisser Wirtschaftswunder-Symbole, die immer wieder ganz nebenbei zitiert werden. Nie hätte ich für möglich gehalten, das mich bei Namen wie Vélosolex, Erdal, Blendax oder Allibert, Readers Digest, Bravo und Hörzu, Goldfischli, Kaviarersatz, Knickebein, Strammer Max oder bei der Erwähnung von Senfgläsern mit Comic-Figuren bis hin zur Losung „Kobra, übernehmen Sie!“ so etwas wie Nostalgie befallen könnte. Mit ihrem sehr prägnanten Realismus macht Ruth Wittig aber auch diese Unmöglichkeit möglich.
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