Purpurne Wolken und eine Armee von Raben

Das neue Marbacher Magazin begleitet klug, spannend und aufschlussreich eine Ausstellung über Friedrich Hölderlin

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei der schönsten deutschen Gedichte hat Hölderlin geschrieben: „Hälfte des Lebens“ mit dem eiskalten Ende „Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen.“ Und eine Ode, die Fragment geblieben ist:

Wenn aus der Ferne, da wir geschieden sind,
Ich dir noch kennbar bin, die Vergangenheit,
O du Theilhaber meiner Leiden!
Einiges Gute bezeichnen dir kann,

So sage, wie erwartet die Freundin dich?
In jenen Gärten, da nach entsetzlicher
Und dunkler Zeit wir uns gefunden?
Hier an den Strömen der heiligen Urwelt.

Und es endet abrupt mit den Worten

Du seiest so allein in der schönen Welt,
Behauptest du mir immer, Geliebter! das
Weist aber du nicht,

Geschrieben hat Hölderlin dieses Fragment im Jahr 1809; seine Geliebte Diotima war da bereits sieben Jahre tot, der Dichter als unheilbar krank im Tübinger Turm interniert, wo er 34 Jahre später starb. Viel hat er im Turm geschrieben, das meiste davon wurde weggeworfen, von Besuchern mitgenommen, ist verschollen. Oft versteckte er sich hinter Floskeln, ließ niemanden mehr an sich heran, ein „Immer verschlossener Mensch, mit finstrem // Aussehn.“

In Marbach versucht man sich ihm jetzt, im Hölderlin-Jahr, zu seinem 250. Geburtstag, in einer Ausstellung zu nähern, die von einem dicken „Marbacher Magazin“ als Katalog begleitet wird, mit dem Titel Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie. Hölderlin mit Celan zu verbinden, ist durchaus sinnvoll, sein Leben lang hat sich Celan mit Hölderlin beschäftigt, sich in seinen Texten auf ihn bezogen, ihn zitiert, Anspielungen gemacht. Bei Celans Tod lag eine Hölderlin-Biografie auf dem Schreibtisch, und die letzte Postkarte, die Celans Freund, der Dichter Johannes Poethen, ihm am 24. April 1970 schrieb, handelte von Hölderlin: „Wir sind wieder einmal zu Hölderlin gegangen, ich kannte diese (gute) Ausstellung noch nicht“, schreiben er, Margarete Hannsmann und Rose Ausländer – auf der Rückseite ist das berühmte Porträt zu sehen, das Franz Karl Hiemer von dem Dichter schuf. Die Karte erreichte Celan nicht mehr, er hatte sich bereits in der Seine ertränkt.

Die Ausstellung zu diesem Katalog wurde verspätet eröffnet und bietet einen sehr sinnlichen Zugang zu Hölderlins Werk, wobei immer noch vieles davon aus coronabedingten Hygienegründen verboten ist, so zum Beispiel die Hörmuscheln, die man nach jedem Gebrauch hätte desinfizieren müssen. Wie diese Ausstellung im Literaturmuseum Marbach schlägt auch der Katalog gleich mehrere Zugänge zu Hölderlins „Sprache der Poesie“ vor, zeigt viele Aspekte, von der Entstehung über ihre Machart bis zu ihrer Wirkung. Seine Biografie wird nur manchmal erwähnt, als Voraussetzung zu seiner Dichtung und dem Verständnis. Sie wird später in diesem Jahr in Tübingen und Lauffen deutlicher werden.

Viel Kleinteiliges und scheinbar Erbsenzähliges ist zu entdecken, das einem den Zugang zu Hölderlin aber erst recht erschließt: Beispielsweise die Anzahl der Konsonanten und Vokale oder die Zahl der Ausrufezeichen, die am Ende seines Lebens meist durch Kommas abgelöst werden – Hölderlins Pathos oder sein Überschwang hatte sich abgemildert. Das ist durchaus keine Erbsenzählerei, sondern ein poetologischer Rückgriff auf die Bausteine des Dichtens selbst: Wenn festgestellt wird, dass Hölderlin in seinen Gedichten 867-mal das Wort „ich“ verwendet, 598-mal das Wort „du“ und 222-mal das Wort „ihr“, zeigt sich, wie sehr seine Poesie „Gebete, Anrufungen, zumindest Ausrufe und Gespräche“ sind.

Auch die Häufung von Oxymora sind bei Hölderlin sprechend: sorglosarm, langsamtraurig, mutatmend und die ganzen „heiligen“ Zusammensetzungen wie heilignüchtern, heiligjugendlich, heiligkühn, heiligliebend, heiligschön sind auffällig und so bei anderen Dichtern seiner Zeit nicht zu finden. Das bekannteste andere Beispiel eines zusammengesetzten Worts ist Tiecks „Waldeinsamkeit“, ein Topos der romantischen Dichtung. Die Herausgeberin Heike Gfrereis nennt diesen Zugang zum Dichter „Zählen. Hölderlin mit den Fingern lesen.“ Auch Hölderlin selbst, der griechische Versmaße in die deutsche Dichtung holte, hat derart gelesen, an den Fingern abgezählt und mit dem Bleistift Hebungen und Senkungen notiert.

Schön ist auch das Kapitel der Rezeption. So schrieb Bettine von Arnim, dass Hölderlins Freund Isaac von Sinclair gesagt habe: „ihm zuhören sei grade, als wenn man es dem Tosen des Windes vergleiche, denn er brause immer in Hymnen dahin, die abbrechen, wie wenn der Wind sich dreht – und dann ergreift ihn wie ein tieferes Wissen, wobei einem die Idee, daß er wahnsinnig sei, ganz verschwinde, und daß sich anhöre, was er über die Verse und über die Sprache sage, wie wenn er nah dran sei, das göttliche Geheimnis der Sprache zu erleuchten“. Es erklingen die Stimmen von Mörike („Der Eindruck des Lesers ist der peinlichst-glücklichst-complicirteste. Man fühlt sich ergriffen, wie mit Götterfingern plötzlich an der leisesten Seelenfaser berührt, kräftig erhoben und dann wieder so krank, so pusillanim (ängstlich), hypochondrisch u. elend“) über Brahms und Raabe bis zu Döblin, der seinen ersten Roman „Den Manen“ Hölderlin widmet. Hermann Hesse, der als Pseudonym für „Demian“ Emil Sinclair nimmt, schwärmt von „dieser wunderbaren geheimnisvoll schöpferischen Unterströmung“, es erscheinen Rilke, Trakl, Benn und Heidegger. Dessen Technikphilosophie, die von „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“ ausgeht, Adorno mit den Worten abkanzelt: „Die kahl zusammenfassende Beteuerung ‚Denn alles ist gut‘ ist die durch solche Reduktion trostlose Quintessenz des Idealismus.“ Bis Rühmkorf, Mayröcker und Robert Gernhardt geht diese Spurensammlung, die mit klugen Worten begleitet wird.

Es sind schöne Fundstücke aus dem Marbach-eigenen, unerschöpflichen Archiv versammelt: der Zettelkasten von Friedrich Kittler, der Belege für die Farben des Mondes und der Wolken in der Literatur sammelte und bei Hölderlin purpurne Wolken fand, einen Kalauer von Bernward Vesper in seinem LSD-Trip-Roman „Die Reise“ oder Helga M. Novak, die über ein Blatt mit Hölderlins Handschrift schrieb: „Die Feder ist gespreizt und jeder Ansatz ein Druck wider Druck. Der Schreiber hat die Tinte nicht sorgfältig abgestreift und dann versäumt, beizeiten wieder einzutauchen. Die Feder verdoppelt ihre Schlingen, vielleicht zieht sie auch Härchen und Fasern hinter sich her. Spuren, als zöge eine Armee von Raben übers Blatt. Wie muß das geklungen haben, dieses Aufdrücken beim Schreiben, dieses Kratzen.“

Und immer wieder geht es im Marbacher Magazin um Celan: Celan und Bachmann, Celan und das Dichten als Handwerk, Celan und Tübingen und, eigentlich unfassbar, Celan und Heidegger: der dem Holocaust entgangene Jude auf der einen und das Mitglied der NSDAP auf der anderen Seite, der nach dem Krieg Lehrverbot hatte. Helmut Böttiger hat dieser Beziehung ein instruktives Buch gewidmet. Im Marbacher Magazin kommt Celan aber dann doch kürzer weg, als der Titel ankündigt.

Was der Katalog bewirkt, ist eine neue, immer wieder neu ansetzende und immer wieder sich entzündende und ansteckende Beschäftigung mit Hölderlins Dicht- und Sprachkunst. Und auch wenn viele Aspekte wie die Rolle des Mythos und das hohe Sprechen fehlen und viele Anspielungen Hölderlins, die Neuinterpretation des Äthers und der Gottheiten und seine philosophischen Gedanken nicht gedeutet, nicht einmal angesprochen werden: seine Sprachmusik bleibt.

Titelbild

Heike Gfrereis: Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie.
Deutsches Literaturarchiv Marbach, Marbach 2020.
336 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783944469508

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