Zwischen Sterben und Wiedergeburt

Neuherausgabe eines Klassikers der buddhistischen Literatur, das „Totenbuch der Tibeter“

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Bardo Thödol, auch Tibetisches Totenbuch genannt, ist eine alte buddhistische Schrift, deren Ursprung im 8. Jahrhundert liegt. Im Vorwort der vorliegenden Neuausgabe führen die Herausgeberinnen Francesca Fremantle und Chögyam Trungpa in Herkunft und Funktion des Buches ein. Der zugrundeliegende Text soll in einer Hütte von Padmasambhava, dem Gründer des tibetischen Buddhismus, vergraben worden sein. An diesem Ort wurde später ein Kloster gegründet. Ein Schüler fand die Schriften wieder. Chögyam Trungpa erhielt die Überlieferung mit acht Jahren und übt sich seitdem in dessen Lehre. Als wichtige Anleitung nennt er den regelmäßigen Umgang mit sterbenden und toten Menschen, um statt einer philosophischen Theorie über das Bardo die lebendige Erfahrung von Vergänglichkeit zu verinnerlichen. Durch stetiges Befolgen der Unterweisungen des Totenbuchs gelangen die Schüler zur Befreiung.

Die Einleitung klärt die Verwendung der Begrifflichkeiten in Anlehnung an die Besonderheiten im Denken, in der Sprache und in der „buddhistischen Psychologie“. Hinzu kommt noch ein Kommentar von Chögyam Trungpa, der auf ein von ihm abgehaltenes Seminar zum Tibetischen Totenbuch zurückgeht. Die betitelte „Botschaft des Buches“ zielt darauf, weniger das Phänomen des Todes als solches zu untersuchen oder gar die Frage zu beantworten, wie ein Leben nach dem Tod aussehen könnte, als vielmehr ein Verständnis vom „Raum“ zu vermitteln. Einem Raum, der sowohl Geburt als auch Tod umfasst. Die Schrift könnte demnach auch als „Buch der Geburt“ oder „Buch des Raumes“ gelesen werden. „Er [der Raum, Anm. d. Verf.] bringt die Umwelt hervor, in der wir uns verhalten, atmen und handeln.“ „Bardo“ meint demzufolge eine um diesen Aspekt erweiterte Perspektive und nicht nur einen nachtodlichen Zwischenzustand.

Bardo heißt Lücke; es ist nicht nur das Intervall des nachtodlichen Schwebezustandes, sondern auch der Schwebezustand in der Lebenssituation; der Tod vollzieht sich auch in der Situation des Lebens. Die Bardo-Erfahrung ist Teil unserer grundlegenden psychologischen Struktur. Wir machen immer wieder alle möglichen Bardo-Erfahrungen, Erfahrungen der Paranoia und der Unsicherheit im Alltagsleben; es ist, als seien wir uns unseres festen Bodens nicht gewiss, als wüssten wir nicht genau, wonach wir eigentlich verlangt haben, oder in was wir da eigentlich hineingeraten.

So erfährt der Leser, dass „die fundamentale Lehre dieses Buches […] die Erkenntnis der eigenen Projektionen und die Auflösung der Empfindung eines Ichs im Licht der Wirklichkeit“ ist. Es werden die verschiedenen Bewusstseinsbereiche der „Hölle“, der „hungrigen Geister“, der „Tiere“, der „Menschen“, der „eifersüchtigen Götter“ und der „Götter“ erläutert. Die sechs Bereiche der Welt sind Quelle der Samsara-Thematik, sprich des beständigen Zyklus‘ von Werden und Vergehen, aber auch die Quelle für den Eintritt in den Bereich des Dharmakaya, der ursprünglichen und erleuchteten Natur des Geistes. Der ursprüngliche Geist ist leer, zeit- und todlos, endlos und weit. Er bildet den neutralen Grund und ist Dharmakaya, der „Körper der Wahrheit“.

Es folgen Erläuterungen zum „Wesen der Visionen“ und zum Auftreten der Gottheiten, die mit bestimmten Energien und Zuständen zu assoziieren sind. Das Kapitel „Der sterbende Mensch“ macht darauf aufmerksam, wie schwer im Westen der Umgang mit dem Sterbeprozess fällt. Es ist ein Plädoyer dafür, vor der „letzten Wahrheit“ nicht zurückzuschrecken und sie dem Sterbenden zu sagen. In dem Wissen, dass Sterben wirklich passiert und kein „Mythos“ ist, keine Vielleicht-Option, treffen sich Angehörige und Sterbender in einem gemeinsamen Raum, der tiefes Vertrauen und echten Beistand ermöglicht. Wir erhalten den Ratschlag, nicht einfach das Bardo Thödol vorzulesen, sondern stattdessen eher ein Gespräch mit dem Sterbenden zu führen. Darin sollen ein Gefühl von Wärme und Verständnis vermittelt werden. Der Sterbende muss spüren können, dass das Gesagte nicht theoretisch ist, sondern auf Vertrauen und Wahrheit basiert. Das ist von größter Wichtigkeit. Man könne ihn ermutigen: „Was für Visionen und Halluzinationen du auch immer haben magst, nimm einfach hin, was geschieht, anstatt zu versuchen zu entfliehen. Bleibe, wo du bist, und nimm an, was kommt.“ Gegenwärtigkeit hat in dieser Situation immense Kraft. Da sich Körper und Gehirn auflösen, bietet der Begleitende den „festen Grund“ und stärkt in der Gegenwärtigkeit mit Mitgefühl und Wahrhaftigkeit das Vertrauen in den Geist.

Der springende Punkt ist, dass du in Wirklichkeit zu dir selbst sprichst, wenn du einen sterbenden Menschen unterweist. Der sterbende Mensch hat Anteil an deiner eigenen Festigkeit; wenn du also gefasst bist, dann wird die Person im Bardo-Zustand automatisch davon angezogen. Mit anderen Worten, präsentiere dem sterbenden Menschen eine sehr geistesgegenwärtige und gefasste Situation. Gehe einfach auf ihn ein, öffnet euch gleichzeitig füreinander und entwickelt das Zusammentreffen von zwei Seelen.

In der „Großen Befreiung durch Hören im Bardo“ werden Anleitungen zum Verlesen der Anweisungen in der Nähe des Sterbenden gegeben. Sie begleiten ihn durch möglicherweise erschreckende Projektionen, die seinem eigenen Geist entstammen, und leiten ihn durch die aufkommende Verwirrung, indem an Meditationsübungen zu Lebzeiten angeknüpft beziehungsweise erinnert wird. Geräusche, Erscheinungen und anderes Erschreckendes können jedoch nicht wirklich bedrohlich sein, denn der Körper wurde bereits zurückgelassen. Es geht darum, sich nicht beirren zu lassen und auf dem Weg durch das „Bardo“ voranzuschreiten.

Im „Bardo des Werdens“ sind die Sinne klar und geschärft. Was immer einem an Projektionen begegnet, es gilt, sich nicht beirren zu lassen, weiter auf den Wortlaut zu hören und sich nicht zu ihnen hinziehen zu lassen. Als „Gedankenkörper“ ohne materielle Anbindung reist man gemäß seiner Gedanken ohne Hindernis durch den Raum; „alles, was du denkst, kannst du ausführen, keine Handlung ist dir unmöglich“. Auch eine Zeit des Leidens wird es geben. Getrennt von den Verwandten zu sein und ihr Leiden mit anzusehen, ohne sich mitteilen zu können, wiegt schwer. Doch hilft es nichts, man muss weiter vorangehen. Je nach karmischen Handlungen werden einem weitere Projektionen begegnen. Seien sie unangenehm oder angenehm, immer wieder heißt es, „lasse dich nicht zu ihnen hinziehen, sehne dich nicht danach“. An keinem Ort kann man sich dauerhaft niederlassen, daher macht es keinen Sinn sich mit allen möglichen auftauchenden Gedanken zu beschäftigen. Besser ist es, seinen „Geist in seinem grundlegenden Zustand ruhen“ zu lassen. Im Zustand der „Absichtslosigkeit“.

„Wo immer Raum ist, da ist Geist, und wo immer Geist ist, da ist der Dharmakaya; verharre im Zustand der Einfachheit und Selbstlosigkeit des Dharmakaya.“ Ein solcher Zustand verhindert eine neuerliche Geburt und führt zur Buddhaschaft. Der Bardo kennt fünf Unterweisungen zum Verschließen eines neuerlichen Mutterschoßes. Dazu bedarf es eines Abschwörens gegenüber jeglicher Aggression und Leidenschaft. Man leiste Widerstand. Der Wunsch nach spiritueller Vervollkommnung muss stark gemacht und aufrecht erhalten werden. Um sich daraufhin zu sammeln, führe man sich vor Augen, dass alle „Phänomene […] ihrer Natur nach trügerisch“ sind.

Wie sie auch erscheinen, sie sind nicht wirklich. Jeder Stoff ist trügerisch und unwirklich. Sie sind wie ein Phantom, sie sind nicht beständig, sie sind nicht unveränderlich. Was soll mir Begierde? Was soll mir Furcht? Heißt das doch, das Nicht-Existente für existent zu halten.

Konnte auch diese Chance nicht genutzt werden, um Samsara zu umgehen, dann folgt der Eintritt in einen Mutterschoß. Nunmehr dienen die Unterweisungen dazu, eine günstige Geburt zu erlangen, beispielsweise in ein spirituelles Umfeld, das zu Lebzeiten Aussicht auf Unterweisung durch einen spirituellen Lehrer hat. Solch ein Umfeld böte die Gelegenheit zur Befreiung aus Samsara. Abschließend wurden „Inspirations-Gebete“ aufgenommen, die der Sammlung von Terma-Texten entstammen, welche mit dem Bardo Thödol verbunden sind. Diese Gebete tauchen bereits im Bardo Thödol selbst auf und Verse daraus dienen der Unterweisung im Bardo. „Inspiration“ heißt, den Geist auf das Gute zu vereinen und entsprechend nach dem Guten zu streben. In einem Anhang finden sich eine Ausspracheregelung für Sanskritwörter, ein Glossarium, ein Abbildungsverzeichnis und ein Register.

Dieses Buch kann für alle Geborenen die Chance bieten, „das psychologische Bild unser selbst anzusehen, nämlich in der Form einer praktischen meditativen Situation“. Denn es zeigt sich, dass auftauchende Eindrücke individueller, projizierter Form sind, so dass das Individuum auf seinem Weg durch Zwischenzustände auf sich selbst vertrauen muss und durch wahrhaftige Weisung positiv begünstigt werden kann.

Titelbild

Francesca Fremantle / Chögyam Trungpa: Das Totenbuch der Tibeter.
Neuausgabe.
Aus dem Englischen von Stephan Schumacher.
Diederichs Verlag, München 2020.
176 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783424351095

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