Sexualität als Metapher für Identitätsfragen

Der brasilianische Autor Alexandre Vidal Porto über den Zusammenhang von Diplomatie und Literatur, Homophobie und Vaterschaft sowie Prognosen zur brasilianischen Literatur

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Alexandre Vidal Porto (*1965) ist – wie Luiz Ruffato erklärt hat – einer der bedeutendsten Autoren der zeitgenössischen Literatur. Zu seinen Publikationen zählen die Romane Matias na Cidade / Matias in der Stadt (2005), Sérgio Y. vai à América / Sérgio Y. geht nach Amerika (2014), der in einer englischen und italienischen Übersetzung vorliegt, und Cloro / Chlor (2018). 

2012 erhielt er den Prêmio Paraná de Literatura. Bei der Verleihung der brasilianischen Literaturpreise Oceanos und Jabuti schaffte er es 2019 jeweils auf die Shortlist. Alexandre Vidal Porto ist außerdem Kolumnist bei der brasilianischen Zeitung Folha de São Paulo und Diplomat. Er hat in Brasília, New York, Santiago do Chile, Cambridge, Washington, Mexiko City und Tokio gelebt. Seit Dezember ist er Generalkonsul in Frankfurt am Main.

 

Sie sind Autor, aber auch Diplomat: Wie profitiert der Autor vom Diplomaten und umgekehrt? 

Sowohl Diplomatie als auch Literatur verlangen ein gewisses Gefühl für Distanziertheit, das sie zu kompatiblen Aktivitäten macht. So beobachten und analysieren Diplomaten Gesellschaften, zu denen sie nicht gehören; im Prinzip sind sie ausländische  wenn auch legale  Agenten. Ebenso benötigen Schriftsteller Distanz zu der Geschichte, die sie erzählen; es sind nicht ihre Geschichten, an denen sie arbeiten, sondern Geschichten, die möglicherweise jedem gehören könnten. Das ist eine erste Synergie, die ich erkenne. Zweitens hat man als Diplomat ein stabiles Einkommen, das es mir ermöglicht, ohne finanziellen Druck zu schreiben, was eine gute Sache ist. Darüber hinaus hat mich die Arbeit als Diplomat, das jahrelange Leben im Ausland, umgeben von Fremdsprachen, dazu gebracht, meine Muttersprache als einen Raum der Intimität, einen sprachlichen Schutzraum, wahrzunehmen, und diese Wahrnehmung ist für mich als Schriftsteller wichtig.

An welchem Ort und zu welcher Tageszeit schreiben Sie am liebsten?

Es hängt alles von meinem Tagesablauf ab. Normalerweise schreibe ich gerne, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme bis zum Abendessen, das sind etwa zwei bis drei Stunden. Aber ich variiere da auch und kann eigentlich jederzeit schreiben. Ich ziehe es allerdings vor, in kurzen Abschnitten zu schreiben, da zu langes Schreiben auf mich manchmal ermüdend wirken kann. Aber eigentlich ist mir die Tageszeit nicht so wichtig, sondern der Raum, in dem ich schreibe. Ich brauche einen festen Ort zum Schreiben: einen Arbeitsraum, denselben Schreibtisch, der von bestimmten Gegenständen umgeben ist, und eine Atmosphäre der Intimität und Kontrolle, eine Art Kokon.

Ihre Romane thematisieren Homo- und Transsexualität. Wenn man sich die Texte anderer brasilianischer Autor*innen anschaut, wie zum Beispiel Carola Saavedra oder Natalia Borges Polesso, scheinen diese Themen in der brasilianischen Literatur sehr präsent zu sein. Könnte man also sogar von einer neuen Welle in der zeitgenössischen brasilianischen Literatur sprechen, die sich sexueller Orientierung widmet – und wie passt das zu einem Land mit einem bekennenden homophoben Präsidenten, in dem – zugespitzt formuliert – homosexuelle Politiker*innen ermordet werden (Marielle Franco) oder ins Exil gehen müssen (Jean Wyllys)?

In meinen Romanen habe ich Sexualität oft als Metapher für den Umgang mit Identitätsfragen gewählt. Ich glaube, meine Generation ist die erste, die von einem gesetzlichen Rahmen und einem kulturellen Trend profitiert, in dem sexuelle Minderheiten theoretisch die Möglichkeit haben, sich frei und ohne Scham zu äußern. Sexuelle Orientierung und Genderfragen sind Themen, die in Brasilien und vielen anderen Ländern relevant geworden sind. Aber es ist nicht so, dass das Problem damit gelöst sei: Brasilien hat Homophobie kriminalisiert und ist nach wie vor das Land, an dem die höchste Zahl von Transgender-Personen ermordet werden. Der Prozess ist also zwar im Gange, aber es gibt Kräfte, die sich dem Kampf um Gleichberechtigung widersetzen. In diesem Zusammenhang erhält die Tatsache, dass es schwule oder transgender Protagonisten gibt, für mich eine politische Dimension. Das ist mein Versuch zu sagen: Schwule existieren, Schwule sind hier, und sie haben Leben und Geschichten. Sie sind genau wie du und fühlen dasselbe. Das ist mein kleiner Akt des Widerstands.

In Ihrem letzten Roman Cloro ist der erste Teil der Bericht eines Toten. Schon Machado De Assis erzählt aus der Perspektive eines Toten, ebenso Jorge Amado. Zu ihren literarischen Inspirationsquellen scheinen aber eher Autoren wie Pessoa, Whitman oder Kavafis zu gehören. Welche Rolle spielen für Sie brasilianische Literatur und Weltliteratur und wo würden Sie sich verorten?

Mein Literaturgeschmack ist sehr eklektisch. Aber Lyrik mag ich besonders gerne, und unbestreitbar ist, dass meine Kreativität durch poetische Erkenntnis ausgelöst wird. Die Nationalität der Literatur, die ich lese, ist nicht wichtig. Ich glaube an die Idee der Weltliteratur, weil ich an die Idee einer gemeinsamen menschlichen Natur glaube, die meines Erachtens die Existenz der Literatur selbst ermöglicht. Ich fühle mich jedoch als brasilianischer Schriftsteller, nicht so sehr, weil ich im Land geboren und aufgewachsen bin, sondern weil ich mich künstlerisch in der brasilianischen Sprache ausdrücke. Das definiert mein Denken und letztlich mein Schreiben. Ich habe das Gefühl, dass meine Geschichten an anderen Orten stattfinden könnten, aber anders ausfallen würden, wenn ich sie in einer anderen Sprache schreiben würde.

Ihre Romane sind auch Coming-out-Geschichten. Es geht dabei nicht nur um Selbstkontrolle, sondern auch um Selbstsuche. In einem Interview haben Sie mal gesagt: ‚Wenn du nicht zufrieden mit dir bist, musst du dich neu erfinden‘. Das klingt einfach, aber es ist ja nicht immer so leicht. Was meinen Sie, wie erfährt man am besten, was man will?

Auch auf die Gefahr einer zu starken Vereinfachung hin, bin ich der Meinung, dass jemand, der unglücklich ist und Veränderungen sucht, versuchen sollte, etwas zu ändern. Erstens. Ich möchte, dass Menschen das Gefühl haben, dass Dinge anders und vielleicht besser sein können, aber auch, dass sie eine Verantwortung haben und Teil des Prozesses sein müssen: Nichts ändert sich, wenn du dich nicht selbst änderst. Die Idee ist, dass Dinge anders sein können und dass man die Macht hat, diesen Wandel in sich selbst auszulösen.

Um sich selbst zu finden bzw. verändern, wechseln ihre Protagonisten den Ort. In Cloro führt Constantino ein Doppelleben, als Familienvater in São Paulo und als Homosexueller in Brasília. In Sérgio Y. vai a América kann sich Sergio erst in New York als Transsexueller verwirklichen. Welche Rolle spielen also (diese) Orte bzw. ein Ortswechsel bei Selbstsuche und Selbstverwirklichung? 

Ich denke, dass Entfernung eine Möglichkeit zur Neuerfindung ist. Ich habe mich schon immer für Immigration interessiert und dafür, wie Menschen, die eingewandert sind, ein völlig neues Leben begannen, indem sie Namen, Berufe und Identitäten wechselten. In Sergio Y. sagt der Urgroßvater, dass er das Glück in Brasilien nur gefunden habe, weil er vor dem Unglück in Armenien geflohen war. Wenn man also das Glück nicht dort finden kann, wo man ist, muss man es woanders suchen. Das haben einige meiner Figuren getan.

Welche Rolle spielt der Körper bei diesen Prozessen der Selbstsuche und Selbstverwirklichung?

Ich neige dazu, den Körper als ein Mittel zum Leben zu sehen, als eine Stütze des Lebens. Durch den physischen Körper wird der Mensch von der Welt als solcher wahrgenommen. Durch den Körper interagiert eine Person mit anderen. Der Körper einer Person kann die Identität weitgehend definieren, aber ebenso einschränken.

Nachdem sie sich gefunden haben, müssen Ihre Protagonisten sterben. Sergio wird Opfer eines – sich doch nicht als homophob erweisenden – Mords, Constantino stirbt in einer Homosexuellen-Sauna in Tokio – das könnte als Märtyrertod interpretiert werden. Warum lassen Sie ihre Protagonisten sterben? Ist das ein versteckter Hinweis auf Homophobie?    

Vielleicht ist es ein unbewusster Hinweis auf Homophobie, ich weiß es nicht. Aber eigentlich will ich Folgendes sagen: Menschen sterben. Junge Menschen und alte Menschen sterben jeden Tag. Das ändert sich nicht für dich, nur weil du schwul bist. Wenn überhaupt, dann denke ich, dass die Tatsache, dass meine Figuren sterben, sie dem Mainstream näherbringt. Wenn jemand unerwartet oder dummerweise sterben kann, dann können auch sie unerwartet oder dummerweise sterben.  

In Cloro finden sich sehr kluge Überlegungen zu Beziehungen. Constantino trifft sein erstes unverbindliches Date über eine App, seinen längerfristigen Partner Emílio trifft er allerdings bei einem Arbeitstreffen. Die Beziehung zwischen Constantino und Emílio hält zwar zunächst, allerdings zerbricht sie als Emílio, der Diplomat ist, nach Indonesien geht und nicht, weil Constantino seine Familie nicht verlassen kann. Trotzdem erfahren wir später von Emílio, dass er zu einer längerfristigen Beziehung bereit gewesen wäre. Warum scheitert diese Beziehung trotzdem?

Der Name „Constantino“ ist eine Anspielung auf Constantine Cavafy im Zusammenhang mit einem Gedicht mit dem Titel „Ihr Anfang“, in dem es um eine unscheinbare sexuelle Begegnung in einer traurigen, verschlossenen Atmosphäre zu einer Zeit geht, als homosexuelle Liebe nicht erlaubt war. Dagegen ist „Emílio“ eine Anspielung auf Emile Zola und den letzten Absatz von Germinal, in dem eine neue Zeit sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit angekündigt werden. Constantino und Emílio kommen aus unterschiedlichen homosexuellen Traditionen und Generationen und haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was es bedeutet, schwul zu sein. Emílio ist jung und schwul und stolz und hat ein schönes Leben vor sich. Er hat die verinnerlichte Homophobie, die Constantino in sich trägt, nicht und will sie auch nicht dulden.

Der Aphorismus in Cloro „Você só sabe que uma relação é duradoura se ela já durou.“/ „Man weiß nur dann, dass eine Beziehung dauerhaft ist, wenn sie bereits von Dauer ist.“ ist sehr überzeugend. Constantino scheint eine Unsicherheit zu begleiten, was den Status seiner Beziehung oder Affäre zu Emilio betrifft. Glauben Sie, dass aus Unverbindlichkeit Verbindlichkeit ganz von allein entstehen kann, ohne dass man sie explizit ausspricht oder in irgendeiner Form besiegelt?  

Das glaube ich voll und ganz. Wie viele Menschen haben ihr Leben durch einen, sagen wir, unverbindlichen One-Night-Stand völlig verändert? Ich kenne solche Geschichten. Liebe bewegt sich auf geheimnisvolle Weise. Man muss sie für bare Münze nehmen: Was man sieht, ist das, was man bekommt, in Echtzeit. Unsicherheit ist immer ein Problem, aber ich glaube, wenn du nicht erkennst, was in deinem Garten sprießt, lass es wachsen, und die Zeit wird zeigen, was für ein Kraut du am Ende gezüchtet hast.

In Cloro reißen Sie ein – bisher eher vernachlässigtes – Thema an, nämlich das der Vaterschaft. Constantino betrachtet Vaterschaft als Erfolg und Kontinuität, bringt sie aber mit einem klassischen Familienideal in Verbindung. Wie kann dieser Wunsch, Vater zu werden von einem klassischen Familienideal (basierend auf einer heterosexuellen Beziehung) entbunden werden? 

Heutzutage könnte er ein Kind mit einer Leihmutter zeugen. Oder einen Säugling adoptieren. Das wäre überhaupt nicht seltsam. In seiner Vorstellung gab es jedoch nur eine einzige Möglichkeit, seinen Wunsch, Vater zu werden, zu stillen: heiraten. Er musste das ganze Paket bekommen, „the respectable-man kit“.

Cloro könnte man ja fast mit Prousts Recherche in Verbindung bringen. Auch hier ist es eine sinnliche Erfahrung, der Geruch von Chlor, der zur Schlüsselszene, zum leitenden Motiv wird. 

Ich hänge besonders an Gerüchen, vielleicht als Konsequenz oder Kompensation für meine sehr schlechten Augen. Daher waren Gerüche und Aromen für mich schon immer mit Bedeutung und Information geladen. Jeder Mensch und jeder Ort haben einen Geruch für mich. Vielleicht ist das in den Roman gesickert.

In ihren Romanen findet man nicht nur intertextuelle, sondern auch intermediale Bezüge, z.B. Filme, Musik und in Cloro meine ich auch eine Anspielung auf Hockneys Sprungbrett in A Bigger Splash zu erkennen – welche Rolle spielen diese Medien/Künste für Ihr Schreiben? 

Ich bin ein begeisterter Konsument verschiedener Kunstarten. Kunstwerke dienen der Inspiration und auch als Denkanstoß. Außerdem ist es für mich immer beruhigend, in den Werken von Künstlern, die ich bewundere, Ähnlichkeiten zwischen meiner Arbeit und ihren Vorstellungen zu finden. Es ist, als fände man eine Art Bestätigung und Trost.

Was sehen Sie für Trends in der brasilianischen Gegenwartsliteratur? Wie wird sie sich entwickeln? 

Trotz all der enormen Schwierigkeiten sehe ich Vitalität und Widerstandsfähigkeit. In diesem kritischen Augenblick erwarte ich, dass sie politischer wird und sich mit den Themen Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit beschäftigt. Das erwarte ich.

Ihre Romane sind an unterschiedlichen Orten entstanden. Momentan leben Sie in Frankfurt. Schreiben Sie gerade an einem Roman? Wie würde Deutschland diesen Roman beeinflussen?  

Meine erste Arbeit in Frankfurt war eine Kurzgeschichte für Granta auf Portugiesisch, „Raben“ genannt, die gerade erschienen ist. Zurzeit befinde ich mich in der Anfangsphase eines neuen Romans und habe mit der dilettantischen Übersetzung ins Portugiesische von Garth Greenwells „Cleaness“ begonnen. Mein erster Eindruck ist also, dass meine Zeit hier für mein Schreiben produktiv sein wird. Schauen wir mal.

Beeinflusst die gegenwärtige seltsame Pandemie-Zeit in irgendeiner Weise Ihre Arbeit?

In größerer Hinsicht als mir lieb ist, würde ich sagen. Aber ein weiser Freund von mir sagte, das sei normal, ich solle mir keine Sorgen machen. Das ist es also, was ich zu erreichen versuche.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Martina Kopf.