Boccaccio

oder Vom Erzählen in Zeiten der Pest

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

1348 kam die Pest nach Florenz. Mit ihrer Schilderung setzt, nach der Vorrede, Giovanni Boccaccios Decameron ein. Bis heute liest man es zumeist als eine Sammlung von mehr oder weniger expliziten erotischen Geschichten. Dass es auch ein Buch über eine Katastrophe ist, verrät die Rahmenhandlung, über die manche allerdings schnell hinwegblättern. Sie entwickelt ein poetologisches Programm und zeigt, was Literatur in Krisen-Zeiten zu leisten vermag. Von ihr her erhalten auch die folgenden Novellen noch einen anderen Sinn als den derber Unterhaltung. 

Die einleitende Darstellung der Pest, die längste Erzählung des Decameron, besteht aus zwei Teilen: Im ersten (nachzulesen hier) wird von der Seuche berichtet, im zweiten von dem Entschluss sieben junger Frauen und drei junger Männern, die geplagte Stadt zu verlassen und sich aufs Land zurückziehen, um einander zehn Tage lang Geschichten zu erzählen, jeweils zehn pro Tag. Das macht das ‚Zehntagewerk‘ aus: das Decameron. Der Ausdruck, eine Anspielung auf das Siebentagewerk der Schöpfung, das Heptameron, deutet zugleich einen neuen Anfang an.

Die Schilderung der Pest ist die gedrängteste Erzählung des umfangreichen Buches. Der Massenhaftigkeit des Geschehens entsprechend, ist sie eine summarische Erzählung. Namen ‒ außer dem der Stadt ‒ werden nicht genannt, kein Einzelner wird hervorgehoben: Alle trifft das gleiche Schicksal. Tatsächlich ist das Erste, was der Erzähler von der Seuche erwähnt, außer ihrer Herkunft aus „den Morgenlanden“, ihre Unentrinnbarkeit:

Gegen dieses Übel half keine Klugheit oder Vorkehrung, obgleich man es daran nicht fehlen und die Stadt durch eigens dazu ernannte Beamte von allem Unrat reinigen ließ, auch jedem Kranken den Eintritt verwehrte und manchen Ratschlag über die Bewahrung der Gesundheit erteilte. Ebensowenig nützten die demütigen Gebete, die von den Frommen nicht ein, sondern viele Male in feierlichen Bittgängen und auf andere Weise Gott vorgetragen wurden.

Mit diesen zwei Sätzen macht der Erzähler deutlich, dass es gegen die Pest weder ein medizinisches Heilmittel gab noch ein theologisches, auf das die Menschen gern setzen, wenn die ärztliche Kunst versagt.

Die Ohnmacht gegenüber der Seuche schildert Boccaccio detailliert. Bereits die „Berührung der Kleider oder anderer Dinge, die ein Kranker gebraucht oder angefaßt hatte“, führte zur Ansteckung, die schließlich sogar von Menschen auf Tiere überging. Nur eine Rettung schien es zu geben: die Flucht, die schon Galen in solchen Fällen empfohlen hatte. Dem Erzähler ist sie allerdings zweifelhaft: „Fast alle strebten zu ein und demselben grausamen Ziele hin, die Kranken nämlich und was zu ihnen gehörte, zu vermeiden und zu fliehen, in der Hoffnung, sich auf solche Weise selbst zu retten“.

Ansonsten verhielten sich die Menschen denkbar unterschiedlich. Die einen reagierten auf die Krankheit mit einem ausschweifenden, dem gegenwärtigen Genuss gierig hingegebenen, die anderen mit einem zurückgezogenen, enthaltsamen Leben, wiederum andere wählten einen „Mittelweg“. Es half alles nicht:

Obgleich diese Leute mit den also verschiedenen Meinungen nicht alle starben, so kamen sie doch auch nicht alle davon, sondern viele von den Anhängern jeder Meinung erkrankten, wo immer sie sich befanden […]. Wir wollen davon schweigen, daß ein Mitbürger den andern mied, daß der Nachbar fast nie den Nachbarn pflegte und die Verwandten einander selten oder nie besuchten; aber mit solchem Schrecken hatte dieses Elend die Brust der Männer wie der Frauen erfüllt, daß ein Bruder den andern im Stich ließ, der Oheim seinen Neffen, die Schwester den Bruder und oft die Frau den Mann, ja, was das schrecklichste ist und kaum glaublich scheint: Vater und Mutter weigerten sich, ihre Kinder zu besuchen und zu pflegen, als wären es nicht die ihrigen.

Die Kranken, allein gelassen, mussten sich Hilfe kaufen, bei „Männer[n] und Weiber[n] von geringer Einsicht, die meist auch zu solchen Dienstleistungen gar kein Geschick hatten“. Die taten wenig mehr, als dass sie den Kranken „zusahen, wenn sie starben“. Doch nicht einmal das konnten sich die „kleinen Leute“ leisten, die „täglich zu Tausenden erkrankten und bei dem vollständigen Mangel an Pflege und Hilfe rettungslos starben“. 

Die große Zahl der Toten, von denen viele „bei Tag oder Nacht auf offener Straße verschieden“, machte bald ordentliche Begräbnisse unmöglich. Es fanden sich kaum noch Trauergesellschaften zusammen, man entledigte sich einfach der Toten, machte „statt der kirchlichen Gottesäcker, weil diese bereits überfüllt waren, sehr tiefe Gruben und warf die neu Hinzukommenden in diese zu Hunderten“. So wurden „die Leichen aufgehäuft wie die Waren in einem Schiff und von Schicht zu Schicht mit ein wenig Erde bedeckt, bis die Grube bis zum Rand voll war“.

Nicht nur die Städter, auch die Bauern ließen ihren Besitz verkommen, Haustiere blieben unversorgt, die sich jedoch, verglichen mit ihren Herren, verhielten, „als ob sie mit Vernunft begabt seien“. Häuser, kleine wie große, ärmliche wie prächtige, verwaisten, Familien starben aus, „viele umfassende Verlassenschaften und berühmte Reichtümer“ blieben „ohne Erben“:

Wieviel rüstige Männer, schöne Frauen und blühende Jünglinge, denen, von anderen zu schweigen, selbst Galen, Hippokrates und Äskulap das Zeugnis blühender Gesundheit ausgestellt hätten, aßen noch am Morgen mit ihren Verwandten, Gespielen und Freunden, um am Abend des gleichen Tages in einer anderen Welt mit ihren Vorfahren das Nachtmahl zu halten!

Die Pest schildert Boccaccio als eine medizinische, ökonomische, soziale und moralische Katastrophe. Zu der Schrecklichkeit der Seuche kam die „Unfähigkeit der Ärzte“, die Heillosigkeit kirchlicher Riten, das Verlassensein der Kranken und die Mitleidlosigkeit und Gier der Gesunden hinzu. Boccaccio beschreibt nicht nur ein großes Sterben, das für jeden Einzelnen qualvoll war, sondern auch den Zusammenbruch einer Gesellschaft, in der nichts mehr galt als der Grundsatz des Rette-sich-wer kann. Dabei zeigt er sich als Moralist im doppelten Sinn: Er schildert den Zerfall der Sitten, um ihn zu verurteilen.

Die Pest-Erzählung steht im Zeichen der Anrede an die ‚holden Damen‘, von denen der Erzähler im ersten Satz der Vorrede sagt, „wie mitleidig ihr alle von Natur aus seid“. Zur Katastrophe wird die Seuche für ihn vollends dadurch, dass die Menschen, während sie herrscht, nicht nur immer wieder gegen die allgemeine Moral verstoßen, sondern auch gegen ihre Natur handeln, zu der für Boccaccio Mitleiden gehört.

Das Stichwort von der Natur bestimmt den zweiten Teil der Erzählung. Von den sieben Frauen, die in der berühmten Kirche Santa Maria Novella, „die nahezu von niemanden besucht war“, zusammenkommen, beruft sich ihre Wortführerin Pampinella auf nichts weniger als die Natur:

Das natürliche Recht eines jeden, der auf Erden geboren ward, ist es aber, sein Leben, soviel er vermag, zu pflegen, zu erhalten und zu verteidigen […]. Erlauben nun die Gesetze, denen es obliegt, darüber zu wachen, daß jeder recht und schlecht leben kann, solche Handlungen, wieviel mehr muß es uns und jedem andern freistehen, alle Mittel, die wir kennen, zur Erhaltung unseres Lebens anzuwenden, ohne daß wir dadurch irgend jemand zu nahe träten.

Pampinella schlägt den anderen Frauen vor, dass sie sich auf ihre „ländlichen Besitzungen“ zurückziehen, „wo wir uns dann Freude, Lust und Vergnügen verschafften, soviel wir könnten, ohne die Grenzen des Erlaubten irgendwie zu überschreiten“. Für diesen Plan gewinnen die sieben jungen Frauen dann noch drei ihnen bekannte Männer, die durch Zufall gerade auch die Kirche aufsuchen.

Was Pampinella vorschlägt, ist mehr als die ebenso exklusive wie egoistische Flucht reicher Leute aufs Land: eine unangebrachte Vergnügungsfahrt ins Blaue, um dem Schwarzen Tod zu entkommen. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt: ein Versuch, im gesellschaftlichen Zusammenbruch sozialen Zusammenhalt neu herzustellen. Dass die kleine Gesellschaft von Landsitz zu Landsitz zieht, einer schöner als der andere, zeigt den idyllischen Zug der Rahmenerzählung: Sie ist eine Utopie. Ihren Höhepunkt erreicht sie am Ende des sechsten Tages, als erst die jungen Damen, dann die Herren ein sie vollends veränderndes symbolisches Bad im ‚Frauental‘ nehmen, einem Ort größter Naturschönheit, den der Erzähler ein „Kunstwerk der Natur“ nennt.

Der Kultiviertheit der Gesellschaft widerspricht es nicht, dass die meisten Geschichten im Decameron erotische Schwänke sind, deren Anstößigkeit dem Erzähler bewusst ist. Ausdrücklich rechtfertigt er sie sowohl in der Vorrede wie im Nachwort. Die Sexualität steht in den Erzählungen vor allem für „die Freuden und die Kraft der Gefühle“, von denen es in der Einleitung zum vierten Tag heißt, dass sie „die Natur in uns gelegt“ hat, die „mehr vermochte als menschlicher Verstand“. Das eine mit dem anderen zusammenzubringen, die menschliche Natur mit Verstand, ja verständig zu betrachten, üben die jungen Leute im Gespräch über die Geschichten, die sie sich erzählen: Das ist ihr Zehntagewerk. Dass sie, nach zwei Wochen, in die Stadt zurückkehren, in der die Pest immer noch wütet, deutet an, dass es ihnen gelungen ist.

Das Zehntagewerk der kleinen Gesellschaft ist ein moralphilosophisches, vor allem aber ein künstlerisches Unterfangen. Denn das Mittel, Gemeinschaft in der Katastrophe wiederherzustellen, ist das „Geschichtenerzählen“, das von gelegentlichem Liedersingen begleitet wird: Kunst also. Boccaccio setzt auf die humane Kraft der Literatur, die Menschen nicht trennen, sondern verbinden soll – nicht zuletzt durch die von ihr ermöglichte Einsicht in die menschliche Natur, an der sie alle teilhaben. Sie zu kennen ist für ein ‚vernünftiges‘, ein ‚ordentliches‘ Zusammenleben unerlässlich. Sich immer wieder über sie auch lustig zu machen, sie nicht zu ernst zu nehmen, verdankt sich einer überlegenen Kenntnis der Welt des Menschen und seiner Natur.

Der Anfang des Decameron ist bis heute die berühmteste Pest-Erzählung der Weltliteratur, unerreicht selbst von Thomas Manns Der Tod in Venedig oder Albert Camus’ La Peste. Zu Recht hat der Erzähler Boccaccio zahllose Verehrer gefunden – mehr jedenfalls als der fleißige Humanist, dessen Ruhm verblasst ist. Unter seinen Lesern war auch der Seigneur de Montaigne, der im Essay „Von der Physiognomie“ seine eigenen Erfahrungen mit der Seuche geschildert hat. Auch das Programm eines gemeinschaftsstiftenden Erzählens in Zeiten der Not hat Schule gemacht, bis in unsere Zeit.

Wie neuartig Boccaccios Darstellung der Pest war, ist nicht eindeutig zu sagen. Seine Erzählung erinnert in manchem an den Bericht, den Thukydides in seiner Geschichte des peloponnesischen Krieges von der Epidemie gegeben hat, die Athen um 430 v. Chr. heimsuchte. Gemeinsam haben sie den doppelten Blick auf die Seuche: den medizinischen und den sowohl moralistischen wie moralischen. Die Anteile sind aber ungleich verteilt. Thukydides beschreibt etwa die Krankheitssymptome eingehender, zweifellos weil er von der Seuche selbst betroffen war, während Boccaccio wahrscheinlich nicht in Florenz war, als die Pest ausbrach, und sich ausführlicher ihren gesellschaftlichen Folgen zuwendet.

Was an Boccaccios Pest-Erzählung, jenseits aller schrecklichen Einzelheiten, auffällt, ist ihr geschliffener Stil, der sich an antiker Rhetorik orientiert. Das mag ihn am meisten mit Thukydides verbinden, auch wenn er ihn nicht gelesen haben sollte. Der Erzähler gibt sich als Augenzeuge aus, doch erst am Ende seines Berichts gestattet er sich, in drei elliptischen, aber wohlgesetzten Ausrufesätzen, eine Klage: die Summe seiner summarischen Erzählung. Seine Sätze sind ansonsten zumeist klassische Perioden, ausgreifend, dabei wohlgeordnet und rhythmisch gebaut, mal aufzählend, mal unterscheidend, mal vergleichend. Schon mit dem ersten Satz der Erzählung:

Ich sage also, daß seit der heilbringenden Menschwerdung des Gottessohnes eintausenddreihundertachtundvierzig Jahre vergangen waren, als in die herrliche Stadt Florenz, die vor allen anderen in Italien schön ist, das tödliche Pestübel gelangte,

führt der Augenzeuge sich als ein Geschichtsschreiber ein, der Abstand zum Geschehen hält.

Bevor seine Figuren zu Wort kommen, gibt er eine Probe seiner Erzählkunst, der weitere folgen, bis hin zum Bad im Tal der Frauen. Es ist ein nicht nur geordnetes, sondern auch ordnendes Erzählen, das dem Chaos eine Form entgegensetzt. Ohne darüber ein Wort zu verlieren, zeigt der Erzähler, dass er darauf besteht, die Katastrophe zum Gegenstand der Kunst zu machen. Das ist seine Art, der alles zerstörenden Seuche zu begegnen, nicht sie, wohl aber sich zu beherrschen, sodass sie ihn nicht beherrschen kann.

Literaturhinweise

Auch das Decameron ist oft übersetzt worden. Die vielleicht flüssigste Übertragung stammt von dem Hallenser Juraprofessor Karl Witte, der auch Dantes Göttliche Komödie übersetzt hat. Sie ist zuletzt 2005, mit einem einlässlichen Nachwort von Winfried Wehle, im Verlag Artemis & Winkler herausgekommen. Nach ihr wurde hier zitiert. Kurt Flasch hat 1992 im Mainzer Dieterich Verlag unter dem Titel Poesie nach der Pest den Anfang neu übertragen und vor allem moralphilosophisch kenntnisreich kommentiert.

Scherenschnitt von Simone Frieling

Der Beitrag gehört zu Dieter Lampings Kolumne: Wiedergelesen