Argentinien entmythifiziert

In „Väterland“ begibt sich der argentinische Schriftsteller Martin Caparrós auf eine Reise ins Buenos Aires der 30er Jahre

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten Blick ist Väterland zunächst einmal eine Art historischer Kriminalroman; das ist gut, denn es lockt nicht nur die argentinischen Leser an, sondern eröffnete Martín Caparrós auch die Möglichkeit, dass sein Text im Ausland Beachtung findet. Gleichzeitig ist der Roman jedoch auch eine historische Abhandlung über eine dunkle Zeit, nicht nur für das korruptionsgeplagte Argentinien, sondern für die ganze Welt – steht doch die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kurz bevor. Vor allem aber ergeht sich Caparrós im Sezieren von argentinischen Alltagsmythen.

Alles hat in den 30ern seinen Ursprung: Der Tango als Massenphänomen und mit ihm Carlos Gardel, der Mate als Nationalgetränk, der Fußball, die Texte Jorge Luis Borges‘. Vor allem letzterer taucht wiederholt als zunehmend lächerlich wirkende Nebenfigur auf, die nichts von dem großen Schriftsteller und argentinischen Nationalhelden hat, der er werden sollte. Im Grunde, so kann man getrost behaupten, ist die Krimihandlung zu vernachlässigen. Es geht in Väterland um nichts anderes als um das Konzept der ‚Argentinidad‘, das mehr auf Mythen basiert denn auf tatsächlicher Geschichte.

Und mit Sicherheit ist Caparrós der richtige Autor, eine solche Dekonstruktion jener Argentinidad zu leisten. Bekannt wurde er in Lateinamerika vor allem über seine Reportagen. Doch als Autor wurde er bislang nur punktuell in Deutschland vermittelt. Das epische Sachbuch Hambre, das die weltweiten Aspekte der Unterernährung als Folge der Globalisierung behandelt, wurde ins Deutsche übertragen; El interior, eine 1000-seitige Reise ins argentinische Hinterland naturgemäß nicht. Ähnlich erging es ihm bislang mit seinen Romanen. Als Ergebnis seiner intensiven Beschäftigung mit der argentinischen Militärdiktatur gelangte A quién corresponda auf den deutschen Markt, der formidable, jedoch anspielungsreiche wie komplexe Roman Los living wiederum nicht. Bei Väterland hat Wagenbach-Lektor Linus Guggenberger die Möglichkeit gesehen, den Text als Kriminalroman zu rezipieren und ihn hierzulande goutieren zu können, auch ohne die zahlreichen Anspielungen auf die argentinische Kultur und Geschichte zu verstehen.

Andrea, der sich nur Andrés nennen lässt, um in der argentinischen Machokultur nicht als verweichlicht abgestempelt zu werden, ist ein junger, nicht besonders intelligenter Tagedieb, der davon träumt, Tangodichter zu werden. Durch mehrere Zufälle gerät er mitten in den Skandal um einen verschwundenen Fußballstar, der, statt weiter für den Hauptstadtclub River Plate zu spielen, sich in seinem Heimatdorf bei Junín versteckt hält, weil man ihm nicht das von ihm geforderte astronomische Gehalt zahlen möchte. Der halbseidene Clubboss, hauptberuflich natürlich Fleischfabrikant, erpresst nun den unbedarften Andrea, seinen Star zurückzuholen. Doch plötzlich wird bekannt, dass eine Tochter aus gutem Hause in Buenos Aires tot aufgefunden wurde, und der Fußballstar soll mit ihr ein Verhältnis gehabt haben. Andrea versucht es in der Folge, hinter das Geheimnis des Mordes zu kommen und es trotzdem irgendwie allen Recht zu machen: Dem mafiösen Clubchef, dem aufgespürten, aber störrischen Fußballspieler, der Familie des Opfers sowie einem windigen Zeitungsredakteur, mit dem er zusammenarbeitet. Mit dabei ist eine schöne, rothaarige Frau mit russischen Wurzeln, eine Freundin des Opfers, in die Andrea verliebt ist, und die ihm bei der Suche nach der Wahrheit hilft.

Tatsächlich geht es aber in Väterland um viel mehr, nämlich, wie bereits erwähnt, um die Dekonstruktion des Mythos der Argentinidad. Der Tango? Eigentlich die Musik von kleinen Ganovenkaschemen am Stadtrand, die Borges in seinen frühen Texten glorifiziert und die nun mit dem Emporkömmling Gardel dem Mainstream geopfert wird. Der Mate? Eigentlich ein Bauerngesöff, das zwanghaft als Nationalgetränk etabliert werden soll, was natürlich, so die Protagonisten dieses Romans, niemals klappen wird. Die Fleischindustrie? Nur ein Tarngeschäft für Kriminelle. Der Fußball? Bewusst zur Betäubung der Massen eingeführt. Borges? Ein verklemmter, blasser Dichter, der sich an jede Frau, die ihm über den Weg läuft, ranschmeißt und keine abbekommt.

Genüsslich seziert Caparrós die zentralen argentinischen Mythen und offenbart, bei allem grotesken Humor, der das Buch dominiert, ein Einwanderungsland, dessen Bewohner zwanghaft nach einer eigenen Identität suchen. Gleichzeitig zeigt er aber auch, wie diese verschiedenen Identitäten Argentinien erst zu einem so fruchtbaren Nährboden für populäre Mythen haben werden lassen. Und hier liegt das ganz große Verdienst dieses Romans. Im Übrigen ebenso wie in der Tatsache, dass es Caparrós gelingt, die Gegenwart mit der entmythisierten Vergangenheit zu spiegeln, gerade im Kontext des populistischen Siegeszuges, der auch Lateinamerika längst erreicht hat.

Titelbild

Martín Caparrós: Väterland.
Aus dem argentinischen Spanisch von Cartsen Regling.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
288 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783803133236

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