Wie ich zu Max Weber kam

Und dann nicht mehr von ihm wegkam

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Am 14. Juni 2020 jährt sich der Sterbetag Max Webers zum hundertsten Mal. Ein guter Anlass, auf die mir immer wieder gestellte Frage zu antworten, wie ich selbst zur Beschäftigung mit Leben, Werk und Wirkung dieses Mannes und Gelehrten gekommen bin. Und wieso ich bis heute nicht davon weggekommen bin. Max Weber wurde zur großen durchgehenden Linie in meinem Wissenschaftlerleben, ungeachtet aller mäandernden Linien meines Lebens außerhalb der Wissenschaft.

Meine Auseinandersetzung mit Max Weber begann im Wintersemester 1966/67: vor über 50 Jahren. Das Markenzeichen „Kaesler-Weber“ – neben „Klassiker der Soziologie“ – hat sich in der scientific community derart eingeprägt, dass ich es schon zweimal erlebte, dass bei der Vorstellung meiner Person – zur Verdeutlichung, wie intensiv ich mich mit Max Weber befasst habe, und zur Erheiterung des Publikums – behauptet wurde, meine Begeisterung sei so weit gegangen sei, dass ich meinem Sohn den Namen „Max“ gegeben habe. Fake news: meine beiden Söhne heißen Georg und Otto.

Wie es begann: Johannes F. Winckelmann

Von Karl Marx wird kolportiert, er habe bereits mit zwanzig Jahren einen klaren Plan gehabt, wohin er seine wissenschaftlichen Fragen richten und welche Antworten er formulieren wolle. Weder bei Max Weber noch bei mir war das der Fall. Sowohl bei ihm wie auch bei mir entwickelten sich die wissenschaftlichen Fragestellungen, die sich daraus ergebenden Beschäftigungen und deren literarischer Niederschlag eher ungeplant und zufällig. Und sehr stark gelenkt durch Anregungen und Nachfragen durch Andere.

Schon meine Wahl der Studienfächer Soziologie und Politische Wissenschaft an der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München war weniger meine ureigene Idee. In ihr schlugen sich vor allem die Anregungen meines verehrten Lehrers an der staatlichen Oberrealschule München-Pasing, Dr. Benno Graf, nieder.

Dieser 1908 in München geborene Oberstudienrat hatte, bevor er sich mit uns Schülern abplagen musste, eine bemerkenswerte und kurvenreiche Karriere hinter sich: Ab 1949 begann seine politische Karriere in der „Bayernpartei“, in der er es zum Generalsekretär brachte. Im November 1953 wurde er aus dieser Partei ausgeschlossen, da er auf der Landesliste der CSU kandidiert hatte, der er dann 1954 beitrat, um sie zwei Jahre später wieder zu verlassen und zur „Freien Volkspartei“ zu gehen. In den Jahren 1953 bis 1957 gehörte Graf zuerst der Fraktion der CSU im Deutschen Bundestag an, trat 1956 der Fraktion der FVP bei, die anschließend in der „Deutschen Partei“ aufging. Nachdem er 1957 erfolglos bei den Bundestagswahlen auf der Liste der DP kandidiert hatte, lehrte er „Sozialkunde“ an meiner Schule. Mein Abiturzeugnis belegt, dass ich in diesem Fach die Note „sehr gut“ bekam.

Es waren die Geschichten, die dieser begnadete Pädagoge von seinen abenteuerlichen und lebensgefährlichen Schmuggeleien deutscher Schulbücher über die Alpen nach Südtirol erzählte, aber vor allem die Berichte über seine Erfahrungen im Bonner Parlament, die mich dazu motivierten, die Fächer Soziologie und Politische Wissenschaft zu wählen. Mit solchen Themen wollte ich mich beschäftigen: politische Kämpfe, politische Prozesse, gesellschaftliche Konflikte. Und nicht nur darüber debattieren, sondern sie verstehen. Welche Theorien erklären diese sozialen Zusammenhänge?

Mit Studienbeginn im Wintersemester 1965/66 fingen die Ent-Täuschungen an: Alle jene Themen, die dieser von mir so sehr verehrte Lehrer im Unterricht behandelt hatte, tauchten nicht wirklich in den ersten Semestern auf. Sowohl die Soziologie als auch die Politische Wissenschaft waren spiegelbildlich besetzt: es gab einen Alten und einen Jungen.

In der Soziologie hieß der Alte Emerich K. Francis – über den ich erst sehr viel später erfuhr, dass Emerich Franzis ein in der Wolle gefärbter Deutschnationaler aus dem böhmischen Gablonz war, bevor er über Kanada und die USA 1958 auf den Lehrstuhl in München berufen wurde. Der Junge hieß Karl Martin Bolte, der seit 1964 an der LMU Soziologie lehrte, ein Schüler des Kieler Bevölkerungswissenschaftlers Gerhard Mackenroth.

In der Politischen Wissenschaft hieß der Alte Eric Voegelin – über den ich erst sehr viel später erfuhr, dass Erich Hermann Wilhelm Vögelin im Jahr 1933 Bücher veröffentlichte mit den Titeln Rasse und Staat und Die Rassenidee in der Geistesgeschichte, bevor er nach diversen Stationen an US-amerikanischen Universitäten im Jahr 1958 auf den ersten Lehrstuhl für Politische Wissenschaft an der LMU berufen wurde. Der Junge, der gerade erst drei Jahre vor meinem Studienbeginn nach München berufen worden war, hieß Hans Maier, ein Schüler des Freiburger Politikwissenschaftlers Arnold Bergstraesser.

Ungeachtet der Tatsache, dass der jeweils Alte sich in seinen Lehrveranstaltungen abfällig, ja verächtlich über den jeweils Jungen äußerte und vor dem Besuch von dessen Vorlesungen und Seminaren warnte – bei Voegelin gab es ein informell ausgesprochenes Verbot, zu Hans Maier zu gehen –, besuchte ich selbstverständlich alle Veranstaltungen dieser vier Professoren. Die Veranstaltungen von Francis waren nervtötend, vor allem dann, wenn er über Gustav Ratzenhofer und Ludwig Gumplowicz zu schwadronieren anfing. Die Veranstaltungen von Bolte waren informativ und unterhaltsam, wenn er über die deutsche Sozialstruktur, über Schichtung und Mobilität und seine Zwiebel“ – die graphische Veranschalichung des sozialen Schichtenmodells der BRD – lehrte. Voegelin war als Person faszinierend, aber mir fehlte die humanistische Basis, das Latein und das Griechisch, um ihn zu verstehen: „Wer kein Altgriechisch kann und Platon und Aristoteles nicht gelesen hat, ist hier fehl am Platz.“ Maier war spannend, wenn er über Deutsche Politik 1914-1965 große Bögen spannte, aber auch zuweilen ein wenig ausschweifend. So viele Details wollte man im ersten Semester oft gar nicht wissen.

Vor allem in der Soziologie erfüllten alle Lehrveranstaltungen nicht meinen Hunger nach intellektueller Herausforderung: Talcott Parsons, Robert K. Merton, William J. Goode, alles interessant, aber nicht aufregend. Bei Bolte wurden niemals deutsche Soziologen erwähnt, allenfalls Marx. Irgendwie fehlte mir was. Bis ich im Wintersemester 1966/67, meinem dritten Studiensemester, das Proseminar eines „Honorarprofessors“ – ich hatte nicht den Schimmer, was das bedeutete – über „Max Webers politische Soziologie“ belegte. Johannes Friedrich Winckelmann führte eine Art von verschworenes Geheimseminar, er leitete das Max-Weber-Archiv, er war seit 1954 ein von den beiden Lehrstuhlinhabern Francis und Bolte tolerierter Außenseiter im Institut für Soziologie, ein Fanatiker, wenn es um Weber und dessen Werk ging.

Ich glaube, es war diese monomanische Begeisterung, die den recht kleinen Kreis der immer gleichen Seminarteilnehmer in den Bann schlug. Wir lasen Webers Schriften wie Talmud-Schüler, Zeile für Zeile, Seite für Seite, Buch für Buch. Jedes Semester ein anderes Buch. Diese Texte packten auch mich. Doch allmählich wurde es problematisch: Winckelmann hatte sich derart mit Max Weber identifiziert, dass er sehr häufig nicht zwischen seiner persönlichen Interpretation von Weber und den Weber-Originaltexten unterschied. Wir Seminarteilnehmer spotteten dann über Max Winckelmann und Johannes F. Weber. Das Grinsen dabei musste schnell weichen, wenn man dem Herrn Professor widersprach und etwa nachfragte, wo, bitte schön, das stehen würde, was er gerade über Legitimität und Legalität bei Weber gesagt hatte: „Ich weiß das, glauben Sie mir, Kaesler. Ich beschäftige mich schon sehr viel länger mit diesen Texten als Sie, junger Mann.“

Aber anstatt auf solche Zurechtweisungen mit „Lass mich doch in Ruhe mit Deinem Weber“ zu reagieren, blieb ich – neben den Pflichtveranstaltungen in Soziologie, Politischer Wissenschaft, Volkwirtschaftslehre, Sozialpsychologie, Wirtschaftspsychologie – ununterbrochen in Winckelmanns Seminar, aufgestiegen bald in sein „Max Weber Colloquium für Fortgeschrittene“, wie mein Studienbuch ausweist: das Weber-Virus hatte mich erwischt.

Diese Weber-Seuche hätte eigentlich nach meinem 6. Semester geheilt sein können, denn für die Monate Oktober 1968 bis Juli 1969 setzte ich mein Studium an der „London School of Economics and Political Science“ fort. Die Krankheit hielt jedoch nicht nur an, sie wurde eher schlimmer. Der von mir zutiefst verehrte Professor Michael Oakeshott, der seit 1951 „Political Philosophy“ an der LSE vertrat, fragte mich gleich zu Beginn des Michaelmas Terms, womit ich mich denn in München vor allem befasst hätte. Und prompt bekam ich ein Paper über Max Webers „Politics as Vocation“ aufgebrummt. In jenen drei Terms in London lernte ich zweierlei: Max Weber „geht“ auch außerhalb Deutschlands, vielleicht sogar noch besser als damals zu Hause. Zweitens, dass es sehr schwer ist, über Weber in jener Sprache zu reden, in der „Herrschaft“ abwechselnd mit „power“ oder „domination“ übersetzt wird oder das „stahlharte Gehäuse“ zum „iron cage“ mutiert. Zum ersten Mal geriet ich in die unendlichen Diskussionen, was Webers Deutsch – noch dazu zu seiner Zeit – bedeutete und wie man das noch am ehesten auf Englisch ausdrücken könnte. Ich kam nicht von Weber geheilt zurück an die LMU, sondern eher noch stärker infiziert. Und prompt saß ich wieder in Winckelmanns Seminar „Probleme einer soziologischen Theorie der Gesellschaft bei Max Weber und Talcott Parsons“ im Wintersemester 1969/70.

Weber, die Inkarnation der „bürgerlichen Soziologie“

Während meiner London-Zeit hatte sich das Klima an westdeutschen Universitäten radikal verändert: Die „Studentenrevolution“ der „68er Bewegung“, zusammen mit den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg der USA, die auch die Münchner Universität tief erschüttert und gespalten hatte, ließen mich vieles nicht mehr wiedererkennen. Nicht nur die eisernen Gitter, die das Hauptgebäude der LMU in meiner London-Zeit geschützt hatten, vor allem der Ton in den Lehrveranstaltungen gerade in meinen beiden Hauptfächern war nicht mehr derjenige, den ich bis zu meiner Übersiedelung nach England gekannt hatte. Ohne nun hier zu sehr ins Anekdotische zu geraten und um es vorsichtig zu sagen: Die Beschäftigung mit Max Weber war nicht mehr sonderlich beliebt. Weder bei manchen Lehrenden und schon gar nicht bei den meisten Mitstudierenden. War Webers Werk schon vorher eher etwas für eine esoterische Lese-Sekte gewesen, so wurde es nun für viele zum Inbegriff einer „bürgerlichen Soziologie“ gemacht, die dem faschistoiden Denken nahestehe.

Am Institut für Soziologie der LMU lehrte seit 1964 als Wissenschaftlicher Assistent bei Bolte der ehemalige Frankfurter Soziologe Horst Holzer, der 1971 zum Wissenschaftlichen Rat und Professor ernannt wurde, bis ihm 1980 nach einem Disziplinarverfahren wegen seiner DKP-Mitgliedschaft diese Stelle entzogen wurde. Er war wahrlich nicht der einzige, der seinen Studierenden deutlich zu machen suchte, dass die Lektüre von Schriften Max Webers ganz gewiss nicht zu einer „aufgeklärten“, emanzipatorischen, progressiven und antibürgerlichen Soziologie führen würde. Es war jene Zeit, in der flächendeckend an westdeutschen Universitäten eine Dichotomie zwischen Karl Marx und Max Weber propagiert wurde. In der DDR war das ja schon immer so gewesen, aber nun schwappte es auch in die BRD über.

Wer das auch nur ansatzweise nachvollziehen möchte, ziehe wenigstens die Einführung in die Gesellschaftstheorie des Autorenkollektivs Veit Michael Bader, Johannes Berger, Heiner Ganßmann und Jost von dem Knesebeck zu Rate. Dieses Lehrbuch, ursprünglich geschrieben für das Grundstudium am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin, lieferte – neben einer Unzahl ähnlicher Bücher zur Kritik der bürgerlichen Soziologie – durch einen Vergleich der Soziologien von Marx und Weber die Blaupause nicht nur für die Polarisierung sozialwissenschaftlicher Theorien, sondern auch von Personen. Das Spiel „Gute Soziologie (Marx)“ gegen „Böse Soziologie (Weber)“ beherrschte die Fronten zwischen den fortschrittlichen, emanzipatorischen, „guten“ Studenten und den reaktionären, bürgerlichen, faschistoiden, „bösen“ Studenten, den Helfershelfern des kapitalistischen Ausbeutersystems, des Schweinesystems. Die meisten meiner Mitstudierenden besuchten nun Lektürekurse zum „Kapital“ von Marx, ich ging weiter in Winckelmanns Lehrveranstaltungen, las und diskutierte über Weber.

Wir waren zahlenmäßig nicht gerade mehr geworden. Professor Winckelmann, seine Assistenten Constans Seyfarth, Walter M. Sprondel, Elisabeth Konau und Gert Schmidt, dazu die omnipräsente Sekretärin Frau Kreitmair bewachten und behüteten die Weberei in der zweiten Etage des Institutsgebäudes in der Schwabinger Konradstraße 6, unabhängig davon, wie viele Menschen an dem einen durchgängigen Tisch in der Mitte des holzvertäfelten Seminarraums saßen. Auf einem hohen Sockel betrachtete Max Weber das Geschehen: Es handelte sich um eine Kopfbüste Webers, geschaffen von dem Bildhauer Arnold Rickert, Sohn des Philosophen Heinrich Rickert, mit dem Weber seit Freiburger und Heidelberger Zeiten befreundet gewesen war. Wie Winckelmann an diese Büste gekommen war, wussten wir Studenten nicht. Er sammelte vieles, was auch nur im Entferntesten mit seinem Hausheiligen in Verbindung gestanden hatte oder gestanden haben könnte. So kaufte er beispielsweise von seinem eigenen Geld Ausgaben jener Bücher, die Weber zu seiner Zeit las bzw. zitierte. Zudem verwahrte er viele Schätze und Reliquien aus dem persönlichen Besitz von Marianne Weber, der Witwe Max Webers, darunter das vermutlich bedeutendste Reliquiar, die Totenmaske Max Webers. Es hatte jedenfalls immer etwas geradezu Sakrales, unter dieser Weber-Büste ein Referat über einen Abschnitt des Werkes des so Verewigten zu halten.

Mein Studienbuch dokumentiert, dass ich nach meiner Rückkehr von der LSE unverdrossen sämtliche Winckelmann-Veranstaltungen belegte, ebenso wie Vorlesungen von Bolte/Holzer über „Deutsche Sozialstruktur“. Zum Ende des Sommersemesters 1974 wurde ich exmatrikuliert, denn bereits seit dem 1. Mai 1972 wirkte ich am Institut für Soziologie der LMU, erst als „Wissenschaftliche Hilfskraft auf einer Assistentenstelle“, dann als „Verwalter der Dienstgeschäfte eines Wissenschaftlichen Assistenten“. Im Juni 1972 legte ich mein Examen für das Diplom als Soziologe erfolgreich ab. Meine Diplomarbeit beschäftigte sich nicht mit Max Weber!

Angeregt durch die Lehrveranstaltungen von Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt ging ich der Frage nach, ob die Methoden, Funde und Theorien der Humanethologe für die Soziologie nutzbar gemacht werden könnten. Mein Ergebnis lautete, dass es für die wissenschaftliche Soziologie keine guten Möglichkeiten in dieser Richtung gebe. Die theoretischen Ansätze von Talcott Parsons, Ralf Dahrendorf, George Caspar Homans und Dieter Claessens erschienen mir geeigneter, menschliches Sozialverhalten zu verstehen und zu erklären, als die der Ethologie, auch nicht der Humanethologie. Diese beobachteten nur und hatten keine Theorie.

Doch bevor ich mich für meine Diplomarbeit intensiv in die Arbeiten der beiden Ethologen aus Seewiesen am Starnberger See vertiefte, hatte sich Weber noch in London in meine Bemühungen eingeschlichen, die dramatischen Prozesse zu verstehen, die sich während der Studentenunruhen weltweit abspielten, auch an der LSE als der einzigen britischen Hochschule, an der es überhaupt zu Unruhen kam! Durch einen meiner Münchner Lehrer, Theo Stammen, Assistenten von Hans Maier, bekam ich die Einladung, einen wissenschaftlichen Aufsatz zu verfassen. Von London aus schickte ich das Manuskript eines Textes an die Redaktion der Zeitschrift Hochland mit der Überschrift „Revolution wider die Vernunft“. Ich hatte keine Ahnung, dass es sich bei dieser Zeitschrift um eine einigermaßen berühmte katholische Kulturzeitschrift handelte, die sich seit ihrer Gründung 1903 darum bemühte, die Widersprüche zwischen katholischem Glauben und modernem Weltbild aufzuheben. Ich war ein Student nach seinem 6. Fachsemester, war 25 Jahre alt und stolz auf meine erste wissenschaftliche Publikation.

Diesen Hochland-Aufsatz, der im September/Oktober-Heft 1969 erschien, begann ich mit dem Satz „Das Wort ‚Revolution‘ erfährt zur Zeit eine Inflation.“ Und ich endete mit dem Satz: „Auch eine Revolution, und sei sie noch so umfassend, gewaltig und radikal – auch sie wird ‚die Freiheit‘ nicht herstellen können.“ Die zentrale theoretische Figur, die ich für dieses Argument heranzog, war das Theorem von der „Veralltäglichung des Charisma“ bei Max Weber. Im Anschluss an mein Diplom war ich Assistent bei Walter L. Bühl, einem der früheren Assistenten von Emerich Francis, geworden. Dieser ermutigte mich, der Fragestellung meines Aufsatzes für eine Theorie postrevolutionärer Prozesse ausführlicher nachzugehen. Das Weber-Virus wurde erneut sehr wirksam. In dieser Arbeit mit dem Titel „Revolution und Veralltäglichung. Eine Theorie postrevolutionärer Prozesse“ (1977) ging es mir um den Versuch, das Webersche Theorem von der Veralltäglichung mit dem systemtheoretischen Ansatz von Talcott Parsons zu einer Synthese zu verschmelzen. Die Pointe der Arbeit kam zu keinem anderen Ergebnis als der schmale Aufsatz im Hochland: Auf Dauer kann selbst die gewalttätigste, blutigste und umfassendste Revolution nicht verhindern, dass das jeweilige soziale System erneut soziale Strukturen im Bereich der Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur ausbildet und verfestigt. Um es platt zu formulieren: Die Müllabfuhr, das Krankenhaussystem, die Postzustellung und die Grundbuchämter müssen auch nach einer Revolution funktionieren. Anarchie ist keine Lösung.

Das verschaffte mir keine neuen Freunde bei den revolutionär gesinnten Kollegen am Institut. Denn nun hatte ich Kolleginnen und Kollegen im Lehrkörper, neben den  Studierenden in meinen eigenen Lehrveranstaltungen. In insgesamt 24 Semestern besuchten ab 1972 sehr viele Studierende entweder meinen vierstündigen „Grundkurs für Hauptfachstudierende der Soziologie“, eine Pflichtveranstaltung, oder eines meiner Proseminare zu Max Weber. Jedes Semester bot ich alternierend entweder den Grundkurs oder ein Weber-Seminar an.

Die Inhalte meiner Grundkurse und ganz besonders meine Weber-Seminare führten dazu, dass ich mehr oder weniger durchgängig „Besuch“ bekam von Mitgliedern der „Marxistischen Gruppe“, der „MG“. Wer nicht weiß, um was es sich bei der MG handelt, lese wenigstens den einschlägigen Eintrag in der Wikipedia. Ich wurde, neben Bolte und Bühl, der am meisten von dieser Gruppe angegriffene Soziologe, als Vertreter der verhassten „bürgerlichen Wissenschaft“, deren „Kritik“ die MG zu ihrem Hauptziel erklärt hatte. Meine Lehrveranstaltungen dienten als Trainingsfeld für „Sympathisanten“ (unterste Stufe), „Kandidaten“ und „Vollmitglieder“ der MG. Eines Tages wurde mein Seminar sogar beehrt durch den gemeinsamen Besuch der drei Oberhäupter der MG: Ludwig Fertl, Karl Held und Theo Ebel. Max Weber zu lehren, war für diese Menschen mit das Schlimmste, was der gesamte bürgerliche Wissenschaftsbetrieb anzubieten hatte. Rückblickend gesehen, glaube ich, dass mich diese streckenweise sehr heftigen Situationen und „Diskussionen“ gelehrt haben, Weber so zu präsentieren, dass auch diejenigen, die der MG nahestanden, doch nicht total ideologisch fixiert waren, hinhörten. Es musste darum gehen, zu zeigen, wie sehr viele der Begriffe und Konzepte Max Webers zum besseren Verständnis der Prozesse des Siegeszuges von Kapitalismus und Bürokratie beitragen können als die beiden zentralen Kräfte der universalen Rationalisierung.

Der Schüler überholt den Lehrer

Mein Chef und Doktorvater Walter Ludwig Bühl hatte den Kontakt zur Nymphenburger Verlagshandlung und deren Inhaber Berthold Spangenberg aufgebaut. Dieser Verlag plante eine Reihe „nymphenburger texte zur wissenschaft“, in ihr erschien im Jahr 1972 ein von Bühl herausgegebener Sammelband zum Thema Konflikt und Konfliktstrategie. Durch die Gespräche mit Spangenberg und seinem Lektor Hans A. Neunzig entstand die Idee, dass ich einen Sammelband über Max Webers Werk und seine Wirkung planen und herausgeben sollte. Dieser Band erschien ebenfalls noch im Jahr 1972. Der noch nicht promovierte Diplom-Soziologe hatte dafür korrespondiert mit Reinhard Bendix, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Thomas Luckmann, Hans Bosse, Wolfgang J. Mommsen, Karl Loewenstein, Guenther Roth, Karl Löwith und Eric Voegelin. Alle gaben ihre Zustimmung zur Aufnahme ihrer Texte. Noch heute staune ich über meinen Mut zu diesem Vorhaben. Das schmähliche Schicksal des für das Nachkriegsdeutschland so wichtigen Verlags wurde auch das Schicksal meiner ersten Bücher: Die Nymphenburger Verlagshandlung wurde erst an die Herbig-Verlagsgruppe verkauft und gehört inzwischen zum Langen Müller Verlag. Der Sammelband zu Max Weber sowie meine Dissertation über postrevolutionäre Prozesse gingen mit diesen Verlagsveränderungen unter und lassen sich heute nur noch in Universitätsbibliotheken finden.

1972 jedoch schlug das Erscheinen meines Weber-Sammelbandes wie eine Explosion im Münchner Institut für Soziologie ein: Bolte und Bühl waren begeistert, Winckelmann war nicht amüsiert. Zwar freute ihn das Dokument der aufgegangenen Saat seiner jahrelangen Bemühungen als Lehrer. Aber nachdem ich keinerlei Anlass gesehen hatte, ihn in einem Vorwort zu erwähnen, geschweige denn einen seiner Aufsätze in meine Sammlung aufzunehmen, war er beleidigt. Das Ganze nahm dann noch eine sehr unerfreuliche Wendung, als es darum ging, die Nachfolge des Lehrstuhls von Emerich Francis zu regeln. Plötzlich wurde das Max Weber-Archiv und das nunmehr bestehende Max Weber-Institut zum Objekt der Begierden. Und ich wurde zu einer Schachfigur gemacht: ein kleines Bäuerchen in einem Spiel, von dem ich erst sehr viel später in Gänze erfuhr.

Während ich noch an meiner Dissertation schrieb, mit der ich im Juli 1976 mein Promotionsverfahren an der LMU abschloss, saß ich gleichzeitig an einem sehr viel größeren Vorhaben, bei dem Max Weber erneut eine wichtige Rolle spielte. Der damalige Verlagsleiter Wolfgang Beck und sein Lektor Werner Brede im Verlag C. H. Beck hatten mich gefragt, ob ich nicht ein Pendant zu den sehr erfolgreichen beiden Bänden Klassiker des politischen Denkens (1974), herausgegeben von Hans Maier, Heinz Rausch und Horst Denzer, für die Soziologie planen und herausgeben wolle. Im Jahr 1976 erschien der erste Band Klassiker des soziologischen Denkens, 1978 der zweite Band. Für diesen hatte ich einen Beitrag von 137 Seiten über Leben, Werk und Wirkung Max Webers verfasst. Der beachtliche Erfolg beider Bände führte zur Anfrage des Verlags, ob ich aus meinem Weber-Kapitel nicht ein Lehrbuch zu Max Weber machen wollte: Im Jahr 1979 erschien dann meine Einführung in das Studium Max Webers, von der bereits zwei Jahre später eine Übersetzung ins Japanische und neun Jahre später eine englische Übersetzung vorlag. Bis heute meinen einige, dieses Lehrbuch sei meine Dissertation gewesen. Doch mit einem solchen Buch hätte man 1976 an der LMU nicht promovieren können! Nicht zuletzt das schnelle Verschwinden der Druckfassung meiner Promotionsschrift vom Buchmarkt führte zu dieser Wahrnehmung: das Markenzeichen Kaesler-Weber schien sich allmählich durchzusetzen.

Nach dem Abschluss meines Promotionsverfahren hatte ich – man traut es sich heutigen Doktorandinnen und Doktoranden kaum zu sagen – vier Angebote: Karin Schuster, meine Münchner Referentin der Studienstiftung des deutschen Volkes, bot mir eine Stelle als Referent der Studienstiftung an, Hans Maier, mein Prüfer im Rigorosum im Fach Politische Wissenschaft und seit 1970 bayerischer Kultusminister, bot mir eine Stelle im von ihm neu gegründeten Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung an, Irenäus Eibl-Eibesfeldt bot mir eine Stelle in seiner Arbeitsgruppe des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie in Seewiesen an und mein Doktorvater Bühl fragte mich, ob ich nicht sein – erster – Assistent am Münchner Institut für Soziologie werden wolle. Bei Eibl-Eibesfeldt war ich in Sorge, dass ich als Soziologe zum wissenschaftlichen Feigenblatt für seine Humanethologie und Kulturethologie genutzt werden könnte, auch wenn er als Person und Wissenschaftler etwas sehr Charismatisch-Verführerisches hatte. Vielleicht hätte ich seinen bedauerlichen Weg in einen biologischen Reduktionismus verhindern können, in dem dann von „angeborener Fremdenfurcht“ und weiteren fremdenfeindlichen Theoremen immer häufiger die Rede war.

Auch wenn mir bewusst war, dass der Weg in die akademische Wissenschaft riskanter war als die beiden Stellen in der angewandten Wissenschaft – immerhin hatte ich Wissenschaft als Beruf von Max Weber gelesen und wusste also um den „Hazard“ dieses Vorhabens –, entschied ich mich für die Assi-Stelle an jenem Institut, an dem ich fast mein ganzes Studium absolviert hatte. Dort, wo ich bereits elf Jahre meines Lebens als Student, Diplomand und Doktorand verbracht hatte, sollte ich nun selbst lehren.

Erster Versuch, von Weber wegzukommen

Es war die sich bei mir abzeichnende Fixierung auf Weber, von der mein Chef Walter Bühl meinte, dass sie in eine Sackgasse für meine eigene wissenschaftliche Karriere führen könne. Für mein Habilitationsvorhaben müsse ich den Horizont erweitern und nicht immer nur über Weber arbeiten. Da meine historischen Interessen an der Soziologie, speziell der deutschen Soziologie, mittlerweile immer ausgeprägter geworden waren, beschloss ich der Frage nachzugehen, wie die Soziologie im deutschen akademischen System zu einer eigenständigen Disziplin und einem regulären Universitätsfach geworden ist. In meiner Schrift „Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus“ (1984) mit der ich im Juli 1983 die Lehrbefähigung für das Fach Soziologie von der LMU verliehen bekam, spielte Max Weber allenfalls eine marginale Rolle. Entgegen aller heutigen Erzählungen, denen zufolge Weber die deutsche Soziologie „gegründet“ habe, konnte ich zeigen, dass ganz andere die Soziologie zu akademischen und universitären „Würden“ geführt haben: Ferdinand Tönnies und Leopold von Wiese allen voran. Zwei Vorläufer meines Faches, von denen heute so gut wie niemand mehr spricht. Hätte man eine Umfrage unter deutschen und nichtdeutschen Soziologen im Jahr 1920 – dem Todesjahr Max Webers – durchgeführt, wer in der deutschen Soziologie zählt, wäre der Name Max Webers nicht gefallen, jedoch Tönnies und von Wiese ganz sicherlich, ergänzt allenfalls durch den Namen Georg Simmel, der allerdings bereits 1918 gestorben war.

Ein Kampf um Max Webers Erbe in München

Da ich seit 1972 Mitglied der Lehrenden am Institut für Soziologie der LMU war, beschäftigte auch mich die Frage, wie es mit diesem Institut als Ganzes weitergehen würde. Denn „der Alte“, Emerich Francis, wurde im Jahr 1972 emeritiert. Das Verfahren um die Wiederbesetzung dieses Lehrstuhls zog sich hin, nicht zuletzt weil der eigentlich dafür von einigen vorgesehene Mario Rainer Lepsius die Fakultät mit überaus langwierigen Verhandlungen hinhielt. Hauptgrund für seine bewusste Verschleppungstaktik war die Tatsache, dass seine Frau, Renate Lepsius, erst im Jahr 1972 ein Mandat für die SPD im Deutschen Bundestag errungen hatte. Ein Wohnortwechsel vom badischen Weinheim bei Heidelberg nach München hätte sie das Mandat gekostet.

Für Winckelmann jedenfalls war Lepsius der absolute Wunschkandidat für diesen Lehrstuhl – „ein ausgewiesener Max Weber-Kenner“, schrieb er an den Rektor der LMU –, auch wenn Lepsius zu diesem Zeitpunkt mit seinem Schrifttum auf dem Feld der Weber-Forschung nicht sonderlich präsent war. Der Jurist Winckelmann hatte, als ehemaliger Ministerialbeamter und als früheres Vorstandsmitglied der Hessischen Landeszentralbank, ungeachtet seiner nachrangigen Position als Honorarprofessor nicht unerheblichen Einfluss in die Münchner Ministerialbürokratie und in die anderen Institute der Staatswirtschaftlichen Fakultät hinein, namentlich auf  die Wirtschaftswissenschaftler. Spätestens seitdem er im Jahr 1964 eine Ringvorlesung der LMU aus Anlass der hundertsten Wiederkehr des Geburtstags von Max Weber organisiert hatte, stand er für das Erbe Max Webers an dessen letzter universitärer Wirkungsstätte. Lepsius hinwiederum, der bereits an der LMU promoviert worden war und sich dort für Soziologie habilitierte, kannte diese Universität sehr gut, nicht zuletzt aus seine Zeit als Assistent, erst bei dem Wirtschaftshistoriker Friedrich Lütge und dann bei dem Soziologen Alfred von Martin, dem Lehrstuhlvorgänger von Francis. Lepsius war der Wunschkandidat nicht allein von Winckelmann, sondern auch von vielen in der Fakultät.

Ich erwähne das, weil sich im Sommer des Jahres 1974 ein Drama im Rahmen der Wiederbesetzung des Francis-Lehrstuhls entwickelte, in dem es auch um das Erbe Max Webers in München ging. Und plötzlich auch um mich.

Als noch viele davon ausgingen, dass Lepsius nach München zurückkommen würde, wurden sowohl das „Max Weber-Archiv“ (seit 1960) als auch das „Max Weber-Institut“ (seit 1966) als Bestandteile der Ausstattung des Francis-Lehrstuhls bestimmt. Beide waren originäre Schöpfungen des unermüdlich seine Fäden spinnenden Winckelmann, der zum ehrenamtlichen Vorstand des Instituts bestellt worden war und dem sogar dessen selbständige Etatisierung gelungen war. Mit der endgültigen Absage von Lepsius und der Rufannahme des ehemaligen Hamburger Unilever-Managers Horst Jürgen Helle, der sehr kurzzeitige Professuren an der RWTH Aachen und der Universität Wien innehatte, stand die ganze schöne Konstruktion in Frage. Als sich abzeichnete, dass Helle den Ruf annehmen würde, hielten Winckelmann und Helle noch gemeinsam in einem Memorandum fest, dass das Max Weber-Institut Bestandteil des Lehrstuhls Helle sei. Die Aufgabe dieser Einrichtung sei die eines „umfangreichen Dokumentariums des geistigen Erbes Max Webers mit unersetzlichen Handschriften, wertvollen Erstausgaben und Teilen der Handbibliothek Max Webers“. Die angesammelte Spezialbibliothek umfasse mehrere tausend Bände, die nicht nur von deutschen, sondern von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt direkt oder indirekt genutzt werde, vor allem als Auskunftszentrale. Sie werde zudem bei der „Vorbereitung für die hoffentlich alsbald in Angriff zu nehmende Max Weber-Gesamtausgabe“ von entscheidender Bedeutung sein.

Was genau zwischen Winckelmann und Helle ablief, weiß ich nicht. Am 4. Oktober 1974 wurde mir jedenfalls von Winckelmann ein Schreiben von Helle an den damaligen Rektor der LMU Nikolaus Lobkowicz vom 23. September 1974 übermittelt. Darin schrieb der designierte Lehrstuhlnachfolger von Francis, dass mit seiner Berufung auf den soziologischen Lehrstuhl zugleich seine Bestellung zum „Vorstand des Max Weber-Instituts“ verbunden sei. Seit dem 1. Januar 1974 sei diese Geschäftsführung von Winckelmann auf ihn übergegangen. Und in genau diesem Schreiben, von dem ich zeitgleich keine Ahnung hatte, wurde mein Name genannt: „Der schon jetzt als Assistent bei Herrn Prof. Bühl tätige Dipl. Soziologe Dirk Käsler, dessen Promotion bevorsteht, wird aufgrund seiner besonderen Qualifikation (vgl. Publikation) am Max Weber-Institut die Tradition der Interpretation der Schriften Max Webers unter Leitung der zukünftigen Vorstände (Helle, Bühl) fortsetzen. Dabei wird er in manchen Punkten von der bislang allein herrschenden Max Weber-Exegese des Herrn Prof. Winckelmann abweichen.“

Eine offensichtlich schon damals diskutierte Auflösung des Max Weber-Instituts wies Helle in diesem Brief energisch zurück: „Der Verfasser dieses Schreibens hat den Ruf nach München nicht zuletzt darum angenommen, weil die Übernahme des Max Webers Instituts mit der Ernennung gekoppelt war.“ Diesen Brief schickte Helle am selben Tag in Kopie an Winckelmann, der offensichtlich in Urlaub gewesen war, als Vorbereitung eines Gesprächs mit dem Rektor Lobkowicz. Ein achtseitiger Erwiderungsbrief von Winckelmann an die Magnifizenz war die Reaktion. Dieser Brief ist Paradestück eines brieflichen Fehdehandschuhs. Auch ihn übermittelte Winckelmann mir am 4. Oktober 1974 in Kopie.

Es ging Winckelmann vor allem um das Schicksal der zu diesem Zeitpunkt bereits geplanten Max Weber-Gesamtausgabe, die er – nach dem Streit mit Helle – aus der LMU herausziehen und in die Bayerische Akademie der Wissenschaften verlagern wollte. Dazu wollte er vor allem „die Dokumentensammlung, die Spezialbibliothek und die sonstigen Materialien und Unterlagen“ aus dem Bestand der LMU herauslösen und an die Akademie transferieren. „Die Max Weber-Gesamtausgabe ist ein nationales Anliegen der gesamten westdeutschen Wissenschaft, und dieses Unternehmen wird nicht nur im Inland, sondern gleichzeitig vom Ausland mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt und mit größtem Wohlwollen begleitet.“

In seinem Schreiben vom 2. Oktober 1974 wehrt Winckelmann sich mit leidenschaftlicher Vehemenz gegen den Verbleib seines Max Weber-Instituts im Institut für Soziologie der LMU. Selbst das Nebeneinander einer Max Weber-Arbeitsstelle an der Akademie der Wissenschaften und eines Max Weber-Instituts an der Universität könne nicht hingenommen werden: „Zwei Max Weber-Einrichtungen am gleichen Ort und unter einem äußerst ähnlichen Namen brächten zudem die nahezu unvermeidliche Gefahr mit sich, zu gänzlich überflüssigen Verwechslungen und allfälligen ‚Erklärungen und Gegenerklärungen‘ Anlaß zu geben, sodaß sachlich und administrativ eine reinliche Scheidung der Ingerenzen (exodus et separatio bonorum) als einzig vertretbares Arrangement für die Zukunft zu erachten sein wird.“ Der Weber-Forscher Winckelmann zeigte seine Zähne, indem er sich auch über die wissenschaftliche Qualifikation des neuberufenen Lehrstuhlinhabers Helle äußerte: „Daß er der internationalen Fachwelt nicht als ausgewiesener Max Weber-Kenner präsentiert werden kann, bedarf keiner Erörterung und ist ihm selbst klar. Schon garnicht kann er für eine Beteiligung an der Max Weber-Gesamtausgabe in Betracht kommen. (Beides ändert sich auch dadurch nicht, daß Herr Helle sich in seinem Schreiben auf die Mitwirkung eines – nicht nur nicht habilitierten, derzeit nicht einmal promovierten – und sei es noch so gescheiten Assistenten beruft, der tatsächlich eine Anthologie zur Kritik der Wirkungsgeschichte Max Webers veröffentlicht hat.)“

Die MWG wird etabliert: ohne mich

Es kam genauso, wie Winckelmann es gewollt hatte: Die gesamten Materialien und Bestände des Max Weber-Instituts wurden von der Konradstraße in Räume unter dem Dach der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verlagert. Denn nun sollte von dort das Großunternehmen der Max Weber-Gesamtausgabe gestartet werden. Die ersten Vorgespräche dazu hatten im Herbst 1974 begonnen, im Juni 1975 konstituierte sich ein „Beauftragter Editorenkreis“ einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Schriften, Briefe und Vorlesungen Max Webers. Nach ersten Ausscheidungsprozessen gehörten dem Kreis endgültig an: die Soziologen Horst Baier (Konstanz), M. Rainer Lepsius (damals Mannheim, später Heidelberg) und Wolfgang Schluchter (damals Düsseldorf, später Heidelberg), der Historiker Wolfgang J. Mommsen (Düsseldorf) und der Münchner Honorarprofessor Johannes Winckelmann. Selbstverständlich betrachtete Winckelmann, der sein ganzes Forscherleben, sein weitgefächertes Netzwerk an Beziehungen in die Verwaltung, Politik und Wissenschaft und einen Großteil seines privaten Vermögens in den Aufbau des Max Weber-Archivs bzw. -Instituts investiert hatte, die MWG als sein Kind. Er hatte nicht mit dem Selbstverständnis und Machtanspruch von echten Ordinarien gerechnet, die dem Privatgelehrten aus Rottach-Egern sehr schnell klarmachten, wer ab nun das Sagen in Sachen MWG haben würde.

Ich selbst geriet bei dem nun beginnenden Kampf innerhalb der Max Weber-Zentralverwaltung unter die Räder, denn der „noch so gescheite Assistent“ wurde als „zu nah“ an Winckelmann eingeordnet. Meine Bewerbung auf die Stelle als erster Redakteur der MWG scheiterte mit genau dieser Begründung, wie mir Lepsius in einem durchaus freundlichen Gespräch in den Räumen der Akademie mitteilte. Die Herren Professoren befürchteten, dass ich nur der willfährige Gehilfe von Winckelmann werden könnte, und noch dazu, dass Winckelmann und ich dann täglich allein in München wären, sie jedoch allenfalls von ihren Dienststellen von außerhalb Münchens die drohende Dominanz von Winckelmann zu unterbinden hätten.

Und so kam es, dass der Ethnologe Martin Riesebrodt, der 1973 in Heidelberg mit einer Arbeit „Zur Theoriediskussion in der Wirtschaftsethnologie“ promoviert worden war, als Erster diese Stelle antrat. Nie werde ich mein Erstaunen – nein: meine Verärgerung – vergessen, als er mir beim ersten persönlichen Kennenlernen in München gestand, dass er „keine Ahnung“ von Weber, aber nun viel zu lesen habe und sich darauf freue, wenn wir uns öfter sehen und sprechen würden, denn ich sei ihm auf diesem Feld ja schon weit voraus. Er, seine Frau Gitti und ich wurden gute Freunde, gerade auch in der Zeit, als er mit seinen Editionsarbeiten an den beiden ersten Bänden, die in der MWG erschienen, über „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ befasst war (MWG I/3, 1984). Es sollte jedenfalls ganz anders kommen, als die Herren Professoren gedacht hatten: Riesebrodt arbeitete während seiner Akademie-Zeit außerordentlich eng und vertraut mit Winckelmann zusammen, so sehr, dass er ihm seine beiden MWG-Bände widmete. Riesebrodt kam Winckelmann sehr viel näher, als ich es das vermutlich je gewesen wäre. Allein dessen herrisches Auftreten hätte mir das unmöglich gemacht, bei allem Respekt vor der Leidenschaft dieses über 70jährigen.

Wie so viele, die im Laufe der zurückliegenden 46 Jahre mit dem Riesenunternehmen der MWG verbunden waren, blieb auch Martin Riesebrodt nicht in der Weberei. Nach seiner Habilitation an der LMU 1990 mit der Arbeit „Radikaler Patriarchialismus, religiöser Fundamentalismus als städtische Protestbewegung in den USA 1910-28 und im Iran 1961-79“ entwickelte er sich immer mehr zum Religionssoziologen und ging, nach diversen Zwischenstationen, von 1990 bis 2011 an die Divinity School und das Department of Sociology der University of Chicago; ab 2012 war er Inhaber der Yves Oltramare Chair for Religion and Politics in the Contemporary World in Genf.

Nach Riesebrodts Ausscheiden trat an seine Stelle ab 1982 als Hauptredakteur der MWG der Historiker Karl-Ludwig Ay, ein Schüler meines eigenen Lehrers in Bayerischer Landesgeschichte Karl Bosl. Ihm folgte nach seiner Pensionierung 2004, die Historikerin Edith Hanke, ehemalige Mitarbeiterin an der Düsseldorfer Arbeitsstelle der MWG bei Mommsen.

Ich schiebe an dieser Stelle ein, dass mich naturgemäß die MWG ebenso wenig losließ wie die Beschäftigung mit Max Weber überhaupt. Nach diversen anderen Publikationsorten wurde – dank der Unterstützung ihres Herausgebers Thomas Anz – ab 2006 die Zeitschrift literaturkritik.de meine wichtigste Anlauf- und Publikationsheimat für meine die MWG begleitende Rezensionsarbeit. Alleine die Zugriffszahlen belegen, dass diese Besprechungen eine erstaunliche Resonanz gefunden haben, auch wenn sie in der Weber-Sekundärliteratur nur sehr sporadisch zitiert werden. Solange sie gelesen und genutzt werden, bin ich damit sehr zufrieden.

Hamburg, Bloomington, Paris, Marburg: Max Weber immer dabei

Im Juli 1983 hatte ich das Habilitationsverfahren an der LMU abgeschlossen, meine allererste Bewerbung auf eine Professur war erfolgreich, zum 1. April 1984 trat ich meinen Dienst als Universitätsprofessor (C 2) für Allgemeine Soziologie am Institut für Soziologie am Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg an. Diese Stelle sollte ich bis zum 28. Februar 1995 wahrnehmen. Ab dem 1. März 1995 bis zu meiner vorzeitigen Emeritierung am 31. März 2009 war ich als Universitätsprofessor (C 4) für Allgemeine Soziologie am Institut für Soziologie des Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg tätig. Sowohl an diesen universitären Stellen in Deutschland als auch an den Stätten meiner Gastprofessuren gab es zwei Gebiete, die ich in Lehre und Forschung bediente: Theorien und Geschichte der Soziologie und Max Weber-Forschung.

Ungeachtet des Misserfolgs bei meinem Bemühen, aktiv an der MWG mitzuwirken, blieb ich bei Weber und bot jedes Semester eine Lehrveranstaltung über ihn an, egal, wo ich war. Auch in Hamburg bekam ich sehr bald Besuch von der MG, die noch im Jahr 1984 die Lehre über Weber immer noch glaubte, bekämpfen – zumindest stören – zu müssen. Ein großes Teach-in, zusammen mit dem Freund und Kollegen Herbert Schnädelbach und dem Asta, lockte sogar den Münchner Funktionär Theo Ebel nach Hamburg. Unvergessen ist mir seine Antwort auf die Frage seitens der Asta-Vertretung: „Was wollt ihr denn nun wirklich erreichen? An der Uni und überhaupt.“ „Das, was alle wollen: schöne Weiber und Freibier.“

Auf der Grundlage meiner Bemühungen in der Lehre um Weber entstanden meine einschlägigen Publikationen, allen voran die vollkommen überarbeitete Fassung meines Lehrbuchs. Nachdem der Verlag C. H. Beck mit seinem damaligen Lektor Günther Schiwy beschlossen hatte, dass Soziologie in meinem geschätzten Hausverlag „keine Zukunft“ mehr haben würde, war ich überaus glücklich, dass Adalbert Hepp vom Campus Verlag meinem Buch eine neue Heimat anbot. Im Jahr 1995 erschien meine Einführung in Leben, Werk und Wirkung Max Webers in diesem Verlag, die dort bis heute in nunmehr vierter Auflage angeboten wird. Die seitdem erschienenen Übersetzungen ins Französische (1996), Chinesische (2000), Italienische (2004) und Polnische (2010) belegen, dass es sehr wohl eine Zukunft für diese Art von Büchern gab – und hoffentlich auch in Zukunft geben wird.

Durch das negative Beispiel meines Münchner Lehrers Bühl hatte ich gelernt, dass es von Vorteil ist, eine Art von Markenzeichen für das eigene wissenschaftliche Arbeiten zu entwickeln. Bühl veröffentlichte fast jedes Jahr ein Buch zu immer wieder neuen Themen: Konflikt- und Wissenschaftssoziologie, Transnationale Politik, Ökologische Knappheit, Phänomenologische Soziologie, Musiksoziologie, Historische Soziologie usw. Der OPAC der Deutschen Nationalbibliothek listet 35 Seiten seiner Publikationen. Es waren und sind gute Bücher, jedoch überfordert eine derartige Publikationspolitik das offensichtlich sehr begrenzte Aufnahmevermögen des Wissenschaftssystems. Immer wieder erlebte ich es, dass mich Kollegen auf meinen von mir verehrten Chef ansprachen: „Bühl, Bühl, helfen Sie mir: Worüber arbeitet der gleich wieder? Das ist doch der Konfliktsoziologe? Oder ist das der mit der Verstehenden Soziologie?”

Es war nicht nur dieses strategische Denken, das mich bei Weber ließ, es war vor allem mein immer wieder aufs Neue gewecktes Interesse an seinen Arbeiten, aber natürlich auch der Erfolg der Ergebnisse meines Publizierens. Weber führte mich an viele Orte, akademische und nicht-akademische Einrichtungen, auf Tagungen und Konferenzen, für einmalige Auftritte und längere Aufenthalte. Sehr oft fuhr ich mit einem Vortrag über ihn und sein Werk in die USA, meinen ersten ausländischen Auftritt zu Weber hatte ich im März 1978 an der University of Wisconsin in Milwaukee. Weber begleitete mich nach Mexiko, in die DDR, nach Indien, Italien, Österreich, Schweden, Ungarn, Spanien, in die Schweiz, nach England, die Niederlande, Frankreich, Estland, Wales, Polen, Japan, Irland, Australien, Argentinien, in die Tschechische Republik und in die VR China. Er brachte mich auf Evangelische Kirchentage, mitten in eine Berliner Tagung der Deutschen Bank, in das Goethe-Institut in Dhaka, Bangladesch, in die Burschenschaft Allemannia zu Heidelberg, in Evangelische wie Katholische Akademien, in die VHS des Vogelbergkreises in Alsfeld, in die Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe in Bielefeld und einmal sogar auf die Kanzel der Lutherischen Pfarrkirche St. Marien in Marburg. Mit einer Mischung aus Erstaunen und Dankbarkeit scrolle ich durch das Verzeichnis meiner Vorträge, bei denen es zum größten Teil um Weber-Themen ging.

Was war mein eigentliches Anliegen beim Lehren und Publizieren? Ich wollte Weber verständlich machen. Und Menschen dazu anregen, seine Schriften zu lesen. Es ging mir immer um ein historisches und systematisches Verständnis von Weber als Person und von seinen Schriften. Es ging mir nicht um die Propagierung eines „Weber-Paradigmas“, wie das Wolfgang Schluchter und seine Heidelberger Kollegen bis heute betreiben. In den nachfolgenden Passagen über meine Max Weber-Biographie komme ich ausführlicher auf dieses Thema zu sprechen.

Der Große Weber

Im Februar 1995 beschloss ich endgültig, mich an das Vorhaben einer Biographie Max Webers zu wagen. Und erneut waren es eher Anstöße Anderer, die mich zu diesem Entschluss geführt hatten. Und mir damit eine neue Etappe meiner Auseinandersetzung mit diesem Mann und seinem Werk eröffneten.

Von August 1994 bis zum Januar 1995 hatte ich das Glück, als Fellow am Institute for Advanced Study der Indiana University in Bloomington schreiben zu dürfen, ohne Verpflichtungen in Lehre und akademischer Selbstverwaltung. Der Zufall wollte es, dass das mir zugeteilte Arbeitszimmer genau zwischen den Zimmern von zwei anderen soziologischen Kollegen aus Deutschland lag, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Niklas Luhmann und Hans Joas. In vielen Gesprächen mit diesen beiden lotete ich aus, womit ich mich ab nun als meinem größeren Vorhaben befassen sollte. Ich hatte immerhin meinen 50. Geburtstag in Bloomington gefeiert, mir blieben noch 15 Jahre aktiver Universitätsdienst. Von Bloomington sollte es – nach einer leider nur sehr kurzen Zeitspanne in Paris an der École des Hautes Etudes en Sciences Sociales – nach Marburg als meiner neuen und vermutlich letzten Wirkungsstätte gehen. Was also sollte ich mir als größeres Vorhaben für die kommenden Jahre vornehmen? Es konnten ja nicht immer nur Vorträge sein, die zu Beiträgen in Sammelbänden oder Zeitschriftenaufsätze wurden. Ein Buch sollte es werden, ein großes Buch, ein „Opus Magnum“.

Ich schwankte zwischen einem Projekt zur Frage „Gibt es eine spezifisch deutsche Politische Kultur?“ oder einer Max Weber-Biographie. Sollte ich nicht endlich wegkommen von Weber?

Es war erstaunlich: Sowohl Luhmann als auch Joas redeten auf mich ein, ich müsse mich unbedingt an die Weber-Biographie machen. „Wer denn sonst? Außer Ihnen? (Luhmann) Außer dir?“ (Joas) Seit dem Erscheinen der Neuauflage meines Weber-Lehrbuchs hatte bereits Wilhelm Hennis aus Freiburg auf mich in dieser Weise eingeredet. Also sagte ich zu mir: „Dann mach dich an die Arbeit. Setz erstmal alles zusammen, was du schon hast und schau, was dir fehlt.“ Denn, wie jeder, der sich an ein Großvorhaben macht, sorgte ich mich darum, dass ich nicht schaffen würde, es zum Abschluss zu bringen. Nicht, dass es dann am Ende heißen würde: „Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, daß er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertigstellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen.“ (Lukas Evangelium 14, 25-35)

Die Aufgaben, die auf mich am Marburger Institut für Soziologie in einem politisch und persönlich einigermaßen zerstrittenen Fachbereich nach meiner Ankunft im hessischen Universitätsstädtchen an der Lahn im Februar 1995 warteten, waren nicht dazu angetan, ein dickes Buch zu schreiben. Dieser Zustand hielt im Grunde genommen bis zu meinem Ausscheiden Ende März 2009 an. Alle, die die Rahmen- und Arbeitsbedingungen deutscher staatlicher Universitäten kennen, wissen, dass zumindest in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften keine guten Voraussetzungen für das Verfertigen großer Bücher gegeben sind. Es ist ja kein Zufall, dass die meisten umfangreichen Arbeiten entweder Qualifikationsarbeiten wie Dissertationen oder Habilitationsschriften jüngerer Wissenschaftler sind oder „Alterswerke“ von Wissenschaftlern, die aus dem aktiven Universitätsdienst ausgeschieden sind.

Ich beschloss, das Unternehmen wie eine Art von Puzzle anzulegen: Eine Einladung an die Universität Göttingen führte zu einem Vortrag über die USA-Reise und dem Puzzle-Stein „Weber in Amerika“, ein Vortrag in Wien zum Kapitel „Weber in Wien“, eine Tagung über „Geist und Geld“ am Berliner MPI für Wissenschaftsgeschichte motivierte mich, systematisch der Frage nachzugehen, wovon Max Weber eigentlich den Lebensunterhalt zeit seines Lebens bestritt. Von meinen Stipendiaten der Studienstiftung hatte ich gelernt, wie die Kollegenschaft in den Naturwissenschaften das macht, vor allem in der Medizin, wenn sie sehr große Themenfelder angeht: Wer die Ursachen und Therapiemöglichkeiten von Brustkrebs erforschen will, kartiert das Forschungsfeld und verteilt kleine Stückchen an Studierende, Absolvierende, Mitarbeiter. Bei mir folgte eine ganze Serie von Seminaren, in denen ich solche Kleinthemen vergab. Und auch wenn ich die meisten schriftlichen Ergebnisse nicht direkt gebrauchen konnte oder wollte, weil die Qualität nicht genügte, half mir die Auseinandersetzung mit den entstandenen Arbeiten weiter, vor allem dann, wenn es sich nicht nur um einfache Seminararbeiten, sondern um Qualifikationsarbeiten handelte. Namentlich erwähnen möchte ich Karl Henckel, der über Max Weber sen. forschte, Achim Seiffarth, der über die Sprache Max Webers forschte, Katja Eckhardt und Stefan Klingelhöfer, die beide über die „Gefährten-Ehe“ von Max und Marianne Weber forschten, Susanne Schirmer, die über das Verhältnis von Weber und Friedrich Naumann geschrieben hatte, Kerstin Schmidtke, die sich mit den psychischen Krankheiten im Familiensystem Weber befasst hatte, Silke Schmitt, die sich mit Webers Zeit in Rom auseinandergesetzt hatte, Wiebke Pekrull, die sich mit der Beziehung Webers zu Russland befasste. Sie alle habe ich in den Literaturhinweisen des Buches genannt.

Dieses fast 60seitige Verzeichnis der von mir herangezogenen Literatur illustriert mein Vorgehen: Ich war ja wahrlich nicht der erste, der sich mit Leben und Werk Max Webers beschäftigte. Also galt es, versuchsweise alles zur Kenntnis zu nehmen, was es bereits zu den jeweiligen Abschnitten dieses Lebens und Werks an Literatur gab. Um es dann, ergänzt mit den eigenen Vorstellungen, Kenntnissen und Recherchen, zusammenzufügen. Dazu kam, dass das Buch unter keinen Umständen langweilig sein sollte. Und nicht akademisch, im schlechten Sinn. Es sollte eine Erzählung werden, eine Familiensaga, ohne Fußnoten und ohne Anmerkungsapparat. Zu meinem Glück unterstützten der Verleger Wolfgang Beck und sein Programmleiter Detlef Felken diesen Plan. Auch sie wünschten sich ein Buch, das unter dem Weihnachtsbaum der pensionierten Deutschlehrerin liegen würde und nicht auf dem Schreibtisch eines Kollegen, der sich für einen Weber-Experten hält.

Bei meiner Schreibarbeit beherzigte ich drei Grundannahmen: Erstens, Max Weber ist nicht unser Zeitgenosse: Meine Biographie muss alles dransetzen, ihn in seiner Zeit zu verstehen. Zweitens, wer Max Weber als Person isoliert, versteht nicht viel: Meine Biographie muss alles dransetzen, ihn in seinem Familiensystem, seinem gesellschaftlichen Milieu und seinem Freundes- und Kollegennetzwerk zu verorten. Drittens, jede Trennung von Leben und Werk wird dazu führen, weder sein Leben noch sein Werk zu verstehen: Meine Biographie muss alles dransetzen, zu zeigen, dass man kein einziges Werkstück dieses Wissenschaftlers wirklich versteht, wenn man es nicht biographisch verortet, zusätzlich zum jeweiligen wissenschaftlichen und politischen Kontext.

Es gab zwei Bücher, an denen ich mich für mein eigenes Vorhaben orientierte: zum einen die Richelieu-Biographie des Schweizer Diplomaten, Essayisten und Historikers Carl Jacob Burckhardt. Von ihm übernahm ich den Versuch, dieses Leben und Werk eines französischen Aristokraten, Kirchenfürsten und Staatsmannes in konzentrischer und chronologischer Manier geradezu einzukreisen: „Allgemeine Lage Frankreichs zur Zeit von Richelieus Geburt“ lautet die Überschrift des ersten Kapitels dieses dreibändigen Unternehmens. Zum anderen blätterte ich immer wieder in der ebenso umfangreichen Biographie des niederländischen Künstlers Rembrandt Harmenszoon van Rijn aus der Feder des britischen Historikers Sir Simon Schama. Von ihm übernahm ich die Idee, dass man den Geruch des faulenden Waid in den Fässern der Färber in Erfurt riechen sollte, dass man das Blut auf dem Paukboden der Burschenschaft Allemannia sehen müsste, und vor allem, dass man alle Häuser zumindest von außen betrachten sollte, in denen Max Weber und sein Familiensystem gelebt hatten, von der Weber-Villa in Bielefeld bis zur Mietwohnung in der Schwabinger Seestraße. Ich nahm mir vor, an alle Orte zu fahren, die für dieses Leben wichtig geworden waren, und nach Möglichkeit in jene Räume zu treten, in denen dieser Mann gelebt hat. Und so führte mich dieses Vorhaben in eine Zahnarzt-Praxis in der Schillerstraße 22 in Freiburg im Breisgau, in die Reste des Sanatoriums des Dr. Richard Klüpfel in Urach, in das Café Landtmann und die Pension Baltic in der Wiener Skodagasse, ins Isartal, um vor dem „Schweizerhäuschen“ von Edgar Jaffé und der „Villa Vogelnest“ von Else Jaffé in Wolfratshausen zu stehen, oder auf den Monte Verità, um über Webers Aufenthalte bei den „Zauberweibern“ zu sinnieren.

An einem solchen Vorhaben neben den regulären Verpflichtungen eines Universitätsprofessors zu schreiben, erwies sich schwerer als gedacht. Sowohl die reine Schreibzeit von 24 Monaten als Writer in Residence der Monacensia, Literaturarchiv und Bibliothek der Landeshauptstadt München, die mir Jan Philip Reemtsma schenkte, als auch ein Forschungssemester am Department of Sociology der University of California in Berkeley, das mir meine Marburger Universität ermöglichte, brachten die größten Schübe im Vorankommen. Von Kalifornien aus beantragte ich meine vorzeitige Entlassung aus dem aktiven Hochschuldienst: Ich wollte nicht als „Modul Zwei“ in einem „BA-Studiengang Sozialwissenschaften“ weitermachen. Ab nun hatte ich hinreichend Zeit, das Vorhaben abzuschließen. Denn, es gab einen Termin: Am 21. April 2014 jährte sich der Geburtstag von Max Weber zum 150. Mal. Am 1. März 2014 erschien mein Buch: es war geschafft!

Begleitet während meiner Schreib- und Recherchearbeit hatten mich eine Reihe von Kollegen, die sich bereit erklärten, ganze Kapitel zu lesen und inhaltliche und formale Vorschläge zu machen. Besonders hervorheben möchte ich Heinz Steinert und Hubert Treiber, die wirklich alles lasen. Größere Teile lasen Wilhelm Hennis und Guenther Roth. Die weiteren Namen aller jener, die mitlasen, stehen in meiner Danksagung, dazu gesellten sich vom Verlag C. H. Beck Sebastian Ullrich, Simone Gundi und Carola Samlowsky. Gewidmet habe ich das Endergebnis meinen vier Kindern, aber vor allem dem Andenken meines geliebten Großvaters Hans Otto Paul Mahrenholz. Dieser 1876 geborene, ehemalige kgl. bayerische Rittmeister a.D. hatte mir durch seine Erzählungen die Lebenswelten des 1864 geborenen Max Weber vertrauter als vielen meiner Generationsgenossen gemacht. Und so konnte ich sehr leicht jenen Studenten, die mich an der Louisana State University in Baton Rouge fragten, ob ich Max Weber persönlich kennengelernt, wie ich ihn gefunden hätte und ob der Kaiser noch lebe, gut informierte und anschauliche Auskunft erteilen, wie es so zuging zwischen 1864 und 1920 in Deutschland. Und das tat ich nicht nur mit amerikanischen Jugendlichen, sondern auch mit deutschen Studierenden.

Begegnung mit einer Reliquie und ein Drama

Ich steckte noch mitten in der Schreibarbeit, als mich im Herbst 2007 die Anfrage ereilte, ob ich bereit wäre, die Authentizität eines vermutlichen Originalschriftstücks von Max Weber zu überprüfen: es handele sich vermutlich um das Original der „Handzettel“ zum Vortrag Webers über Politik als Beruf. Diesen Vortrag hatte Weber am 28. Januar 1919 in der Münchner Buchhandlung Steinicke im Haus Adalbertstraße 15 vor dem Landesverband Bayern des linksliberalen „Freistudentischen Bundes“ gehalten. Der frei gehaltene Vortrag war mitstenographiert worden, Weber hatte die ihm zugesandte Abschrift überarbeitet und zu einem Aufsatz geformt. Die stark erweiterte Fassung hatte einen Umfang von 67 Druckseiten und erschien als Broschüre im Leipziger Verlag Duncker & Humblot im Oktober 1919.

Historische Augenzeugenberichte belegen, dass Max Weber für diesen Vortrag ein eigenhändiges Stichwortmanuskript benutzte, das aus Zetteln unterschiedlicher Größe bestand. Diese acht Zettel waren, nach einer wahren Odyssee, nun offensichtlich bei dem renommierten Antiquar Heribert Tenschert gelandet, dessen Jagdleidenschaft und internationale Kontakte zu diesem überaus erfreulichen Wiederauftauchen geführt hatten.

Der Beginn der Odyssee lag, wie so vieles in Sachen Max Weber, bei Marianne Weber, die alle hinterlassenen Dokumente Webers nach dessen Tod am 14. Juni 1920 in München zu ordnen begonnen hatte, um sie nach Heidelberg mitzunehmen, wo sie 1954 verstarb. Bereits im Jahr 1945 hatte Marianne Weber den gesamten handschriftlichen Nachlass an Eduard Baumgarten, den Cousin zweiten Grades von Max Weber, übergeben. Darunter auch die „Zettel“ von „Politik als Beruf“. Mitte der 1950er Jahre übergab Baumgarten eine Vielzahl von Dokumenten an Johannes Winckelmann für dessen Münchner „Max Weber-Archiv“. In einem Beitrag zu einem Sammelband über „Das Faszinosum Max Weber“ habe ich ein Porträt dieser beiden ehemaligen NSDAP-Mitglieder und späteren Weber-Forscher, Baumgarten und Winckelmann, und ihrer komplizierten Beziehungen vorgelegt.

Wie oben geschildert, wanderte der gesamte Bestand des Winckelmann-Archivs, zusammen mit Winckelmann selbst, in die Räume der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Darunter auch die diversen Reliquien, die Winckelmann beschützend gesammelt und aufbewahrt hatte. Wenigstens einmal hatte mir Winckelmann die Totenmaske Max Webers noch in den Räumen des Instituts in der Konradstraße gezeigt. Diesen gruseligen Moment vergesse ich wohl nie: ich sah in das Gesicht eines Toten.

In der ultimativen Publikation des Textes von „Politik als Beruf“ im Jahr 1992 (MWG I/17) heißt es lapidar zum Verbleib der „Zettel“ im Akademiebestand: „Das Original ist in den 1970er Jahren verschollen.“ Ich hatte sie nie gesehen, gehörte ich doch nicht zu dem allerkleinsten Kreis der Winckelmann-Mitarbeiter und schon gar nicht zu den Weber-Forschern in der Akademie. Eine Überprüfung der Authentizität stellte dennoch keine übermäßige Herausforderung dar: Wolfgang Mommsen hatte, bei der Arbeit an seiner Dissertation über Max Webers politische Positionen, bereits 1958 eine gute Kopie des Originals anfertigen lassen, die als Fotoreproduktion mehrfach abgedruckt worden ist, so auch im angeführten Band der MWG. Es war also nicht allzu schwer, Heribert Tenschert bei meinem Besuch in seiner atemberaubenden Schatzkammer der „Bibermühle“ im schweizerischen Ramsen zu attestieren, dass es sich ganz eindeutig um die Originale der „Zettel“ handeln müsse. Ein sehr schön gemachter Band mit dem Titel Leidenschaft und Augenmaß entstand im Januar 2008 aus diesem Besuch und dem Berühren eben jener Papiere, die Max Weber am Abend des 28. Januars 1919 in Händen gehalten hatte. Die Aura der Handschrift wirkte auch auf mich.

Immer wieder wurde ich nach dem Schicksal dieser „Zettel“ gefragt. Ich kenne es nicht wirklich, habe aber eine Vermutung. Auf der Liste, die Johannes Winckelmann über die „am 8. 7. 1970 dem Max Weber-Institut München aus dem ‚Ebneter Archiv‘ übersandten Stücke für die MWG“ anfertigte, steht „Politik als Beruf“ an erster Stelle bei den Handschriften. Ebnet verweist auf jenen Stadtteil von Freiburg im Breisgau, in dem Eduard Baumgarten lebte. Baumgarten besaß vieles aus dem Nachlass Max und Marianne Webers, so auch die Liebesbriefe Max Webers an Mina Tobler und Else Jaffé, die er nicht an Winckelmann gab. Die Zettel zu „Politik als Beruf“ jedenfalls gelangten mit Winckelmann in die Bayerische Akademie der Wissenschaften. Dort begann der bald 80jährige Begründer des Max Weber-Archivs ab 1976 seine Mitarbeit an der MWG, als Mitglied der „Abteilung für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ mit der Dienstbezeichnung „Wissenschaftlicher Berater“ und Mitherausgeber. Als sein eigentliches Lebenswerk betrachtete er die Edition des (angeblichen) Hauptwerkes Wirtschaft und Gesellschaft, das er zuletzt als 6. revidierte Auflage mit textkritischen Erläuterungen in zwei Bänden und einem Erläuterungsband bei Mohr-Siebeck im Jahr 1976 publiziert hatte.

Nun begann eine Tragödie, denn seine professoralen Mitherausgeber fassten den Plan, diese Text-Konstruktion, die zuerst Marianne Weber im Jahr 1922 und ab 1956 Johannes Winckelmann produziert hatten, in Einzelbände zu zerlegen. Heute liegt Wirtschaft und Gesellschaft in der MWG als eine Folge von sechs Bänden vor (MWG I/22-23), dazu kamen eine Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte aus der Feder von Wolfgang Schluchter (I/24) und ein Gesamtregister (I/25). Winckelmann nahm sich dieses Filetieren seines Lebenswerkes zutiefst zu Herzen, setzte seine Mitherausgeber erheblich unter moralischen Druck und drohte mit Selbstmord, falls es zu diesem Vorhaben kommen würde. Erst war ihm seine von ihm in Jahrzehnten aufgebaute „Max Weber-Evidenzzentrale“, die von deutschen und internationalen Wissenschaftlern besucht worden war, weggenommen worden. Und nun sollte auch noch sein Lebenswerk Wirtschaft und Gesellschaft zerstört werden.

Um das zu verhindern, begann er ein Buch zu schreiben, mit dem er seinen Plan von und für „Max Webers hinterlassenes Hauptwerk“ sozusagen für immer festhalten wollte. Unter dem Kennwort „Max Weber-Forschung – ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘“ hatte er – ebenso wie die anderen Herausgeber der MWG – von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) nicht unerhebliche finanzielle Mittel für die Fortsetzung seiner Forschung an dem definitiven Aufbau von Wirtschaft und Gesellschaft in zwei Tranchen bewilligt bekommen. Das beinhaltete unter anderem die Möglichkeit, einen Mitarbeiter, Franz Josef Bonfig, in den Jahren 1976 bis 1979 zu beschäftigen. Aber auch das emsige Schreiben seines Abschlussberichts an die DFG hielt den Gang der Dinge nicht auf: Wirtschaft und Gesellschaft wurde zerstückelt!

Ich schließe es jedenfalls nicht vollkommen aus, dass der verbitterte und unglückliche Mann in jener Zeit – auch aus Rache – wenigstens die „Zettel“ wieder an sich nahm und sie möglicherweise einem Dritten anvertraute. Jedenfalls ging Winckelmanns Verzweiflung so weit, dass er sich mit einer Handfeuerwaffe in die Schläfe schoss. Er überlebte mit einer Schusswunde und wurde weitgehend zum Pflegefall. Dieses Ereignis wurde offiziell als „Schlaganfall“ bezeichnet, am 21. November 1985 verstarb er in einem Wohnstift in Bad Dürrheim.

Wer Vorworte zu lesen weiß, findet Hinweise auf den insgesamt tragischen Verlauf dieser Geschichte eines Weber-Besessenen. In seinem Vorwort zur Buchausgabe vom April 1986 schrieb M. Rainer Lepsius: „Johannes Winckelmann konnte das Erscheinen dieser Schrift nicht mehr erleben, er starb am 21. November 1985. Das Manuskript gab er noch selbst nach seinem 85. Geburtstag zum Druck; dies war sein großes Ziel in den letzten Lebensjahren. Gesundheitliche Behinderungen, insbesondere die fortschreitende Abnahme seiner Sehkraft, haben die Endredaktion erschwert, obgleich er den Text fast seitengenau im Kopf trug. Die Frage nach dem ‚immanenten Kompositionsgedanken‘ von ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘ beschäftigte Johannes Winckelmann jahrzehntelang (…). Das Ergebnis von Johannes Winckelmanns Forschungen und Überlegungen der letzten Jahre liegt nun mit dieser Schrift vor. Sie spiegelt auch die intellektuelle Leidenschaft wider, mit der er sich über Jahrzehnte das Werk Max Webers aneignete. Die Faszination, die für ihn von diesem Werk ausging, konnte er im Gespräch und in zahlreichen Briefen weitergeben, sie hatte seine Persönlichkeit ergriffen.“

Der Abschluss der MWG und die Zukunft der Max Weber-Forschung

Mit dem Jahr 2020 wird nun vermutlich auch meine eigene wissenschaftliche Lebensreise mit Max Weber an ihr Ende kommen. Es steht noch ein einziger Band der MWG aus, die Edition der Vorlesung „Praktische Nationalökonomie“ (MWG III/2), sowie eine Neuausgabe eines Teils der „Gelehrtenbriefe“. Damit werde ich meine begleitende Rezensionsarbeit beenden können. Welche der vielen Konferenzen, Tagungen und Vorträge, die noch in meinem Kalender 2020 stehen, tatsächlich stattfinden werden, wird sich zeigen: die erste, die für Mitte Mai in Athen geplant war, fiel der Corona-Krise wegen aus. In Heidelberg ist am Tag nach seinem Tod, am 15. Juni, eine Podiumsdiskussion im Max-Weber-Haus (als Livestream angeboten) geplant.

Wie aber wird es nach dem Gedenkjahr der hundertsten Wiederkehr des Todestages von Max Weber mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinem Werk weitergehen?

Es ist ja keine sonderlich originelle Assoziation, beim Anblick der blauen Wand der MWG-Bände an ein Mausoleum zu denken: Einerseits monumentalisieren Gesamtausgaben das Werk eines Menschen, unabhängig davon, ob er zu Lebzeiten Literat oder Wissenschaftler gewesen war. Bei Künstlern sind es dann Gesamtverzeichnisse. Und für den Fall, dass irgendwo auf einem Speicher oder in einem Archiv etwas gefunden wird, das niemand kannte und von dem dann die herbeigerufenen Experten sagen, es sei authentisch, kommt es zu Ergänzungen und Nachträgen. Aber auch dabei könnte man immer noch an geschlossene Sarkophage bei Gesamtausgaben und Gesamtverzeichnissen denken, die dann zuweilen ein wenig aufgeklappt werden. Um sie dann umso fester zu verschließen.

Jedoch: Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen dem Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) und der MWG. Im Falle von Johann Sebastian Bach ist es unsinnig, über ein Ende der Bach-Rezeption nachzudenken. Das BWV ist ja nur der Schlüssel dafür, dass sich Musiker auf der ganzen Welt wie mit einem Code darüber verständigen können, an welchem Stück sie gerade aus der Gruppe 1-524 (Vokalwerke) oder 1072-1080 (Kontrapunktische Werke) arbeiten. Nach aller nur denkbaren Vorstellungskraft werden die Werke dieses deutschen Komponisten auch noch die nächsten Jahrhunderte nicht nur überleben, sondern in jedem Winkel des Globus gespielt werden.

Im Vergleich dazu hat Max Weber es (noch?) nicht in den Kreis der Unsterblichen geschafft. Das zeigt schon die Tatsache, dass man immer noch den Vornamen nennen muss. Was man bei Hegel, Kant, Marx nicht muss, auch nicht bei Bach, Mozart und Strawinsky. Wir Weber-Forscher können uns ja gar nicht vorstellen, dass es Menschen mit Abitur geben kann, die mit dem Namen Max Weber nichts anzufangen wissen. Nie werde ich jenen Moment vergessen, als ich in Wiesbadens größter Buchhandlung die Weber-Biographie von Jürgen Kaube bestellte die Buchhändlerin nach dem genauen Namen des Buches fragte und anstatt Max Weber den Namen Max Keller eintippte. Der Schüler Michael Haydns war ihr ein Begriff, der des Soziologen nicht. Und das liegt nicht daran, dass es zwei Weber bei den Soziologen gibt, auch wenn Alfred Weber noch weniger zum Bestandteil von Allgemeinbildung geworden ist. In den USA muss man auch unter Gebildeten immer erst darüber aufklären, dass man nicht den polnisch-amerikanischen Maler und Bildhauer Max Weber (1881-1961) meint, sondern einen deutschen Gelehrten, von dem es viele Bücher gibt, von denen einige sogar ins Englische übersetzt wurden.

Ich wage aktuell keine Prognose, wie es nach dem zu erwartenden Rauschen der Feuilletons und dem Lobgesang auf Tagungen in Sachen Max Weber zum Jubiläum im Jahr 2020 weitergehen wird. Der Name Max Weber ist inzwischen zum Markenzeichen einer Mehrzahl von Institutionen geworden: Es gibt die „Max Weber Stiftung“, die Organisation der deutschen geisteswissenschaftlichen Institute im Ausland, es gibt das „Max Weber-Programm“ der Studienstiftung des deutschen Volkes, es gibt das „Max-Weber-Kolleg“ in Erfurt, das „Max-Weber-Institut für Soziologie“ an der Universität Heidelberg, es gibt Max Weber-Schulen in Freiburg, Gießen und Sinsheim. Schaut man jedoch genau hin, hat das alles nur sehr indirekt mit dem Werk Max Webers zu tun; diese Einrichtungen schmücken sich halt mit dieser Marke. Das bayerische „Max Weber-Programm“ der Studienstiftung schwankte zwischen Max Weber und Maximilian Graf Montgelas, entschied sich dann für den preußischen Gelehrten anstatt des bayerischen Staatsreformers.

Neben dieser Türschild-Funktion Max Webers erkenne ich als sehr viel auffallendere Funktion seines Namens dessen Gebrauch als Stichwort-Lieferanten. In alphabetischer und unvollständiger Reihenfolge: Charisma, Gesinnungsethik, Habitus, Idealtypus, Lebensführung, Lebensstil, Legitimitätsgrundlage, Protestantische Ethik, Rationalisierung, Soziales Handeln, Sozialökonomie, Ständische Lage, Verantwortungsethik, Wertsphäre. Dazu kommen noch die unvermeidbaren „Zitate“, die dann vom „Bohren dicker Bretter“ schwadronieren, anstatt zu bedenken, dass es harte Bretter sind, die Weber nennt, wenn es um politisches Handeln geht. Und dass die Protestanten den Kapitalismus „erfunden“ haben. Damit muss man als Weber-Forscher rechnen und kann sich in der jeweiligen Situation überlegen, ob man sich nun dazu äußern will oder nicht. Seitdem ich vor vielen Jahren bei Google Alert den Namen Max Weber eingab, ärgert oder amüsiert mich täglich mindestens eine Meldung. Auch wenn es ein Verkehrsunfall auf dem Münchner Max Weber-Platz ist oder um den Handballer Max Weber vom SG Spergau in der Mitteldeutschen Oberliga im Handball geht.

Insgesamt glaube ich jedoch, dass es ab dem Jahr 2021 sehr viel ruhiger in der Weber-Forschung werden wird. Zumindest in der deutschen Wissenschaftslandschaft, in der Soziologie in Deutschland in jedem Fall. Die seit dem Jahr 2000 bestehende wissenschaftliche Zeitschrift Max Weber Studies bemüht sich einigermaßen erfolgreich darum, die internationale, insbesondere englischsprachige Max Weber-Forschung am Leben zu erhalten. Als deutscher Weber-Forscher staunt man dabei doch gelegentlich, was da alles sowohl systematisch als auch historisch über Weber geschrieben wird. Wie über meine Zeit an der LSE geschrieben: Wir, als diejenigen, die Weber im deutschen Original lesen können, müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir ein Monopol für die Interpretation Max Webers besitzen.

Max Weber ist kein deutsches Eigentum

Die internationale Kant-Forschung ist seit Jahrzehnten geprägt von Forschern, die über Kant auf Englisch reden und schreiben. Selbst an manchen deutschen Universitäten wird heute über diesen Philosophen in der globalen Wissenschaftssprache Englisch gelehrt.Ich kenne mich nur wenig aus in der Kant-Forschung, dafür umso mehr mit der internationalen Forschung zu Leben, Werk und Wirkung des deutschen Sozialwissenschaftlers Max Weber. Und auch da kenne ich hinreichend viele Situationen, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich über „Max Webber“ auf Englisch austauschten.

Den einsamen Höhepunkt an derartigen Erlebnissen bildete für mich eine Konferenz in Buenos Aires im Oktober 2005 aus Anlass der 100jährigen Wiederkehr der Erstveröffentlichung der famosen Texte über die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Unter den insgesamt 27 eingeladenen Referenten waren zwei Deutsche, die auf Englisch vortrugen, was simultan ins Spanische übersetzt wurde, und ein US-amerikanischer Kollege,dessen Beitrag ebenfalls simultan ins Spanische übersetzt wurde. Alle weiteren 24 Referate wurden von spanischsprechenden Weber-Forschern gehalten, die sich durchgehend auf die spanischen Übersetzungen von Weber-Texten und die spanische Sekundärliteratur bezogen. Mein deutscher Kollege gefiel sich in der Rolle des Zeigefinger schwenkenden Oberlehrers, der nach jedem spanischen Beitrag – der für uns simultan ins Englische übersetzt wurde – seine Stimme erhob, um auszuführen, was Max Weber „eigentlich und wirklich“ geschrieben und gemeint hatte. Natürlich trug er das auf Englisch vor.

Zuweilen ist es für uns deutsche Forscher grotesk und manchmal richtig ärgerlich, mündliche und schriftliche Beiträge über deutsche Texte erleben zu müssen, bei denen überaus erkennbar ist, dass deren Autoren kein Deutsch können und sich daher ausschließlich auf anderssprachige Texte beziehen müssen. Mit keinem der Übersetzer meiner eigenen Weber-Arbeiten habe ich mich je auf dieser Grundlage gestritten: Was in den englischen und französischen Fassungen steht, konnte ich noch einigermaßen beurteilen, was in den japanischen, chinesischen, italienischen und polnischen Versionen steht, weiß ich nicht. Und will mich darüber auch nicht grämen.

Wahrscheinlich ist es gut, dass ich weder Chinesisch, Japanisch, Italienisch oder Polnisch kann. Mit dem Beharren darauf, dass irgendetwas, was Weber von nicht-deutschen Autoren zugeschrieben wird, bei diesem so nicht steht, kommen wir jedenfalls nicht weiter. Ein ganzes Buch über einen deutschen Soziologen zu schreiben, von jemandem, der kein Wort Deutsch lesen oder sprechen kann, erscheint nur uns Deutschen als unmöglich. Niemand von uns würde es wohl wagen, ein Buch z.B. über den amerikanischen Soziologen Talcott Parsons zu schreiben und sich dabei ausschließlich auf die deutschen Übersetzungen seiner Arbeiten und die deutsche Sekundärliteratur darüber zu beziehen, weil man kein Englisch kann.

Eine solche Unmöglichkeit mag (hoffentlich) für heutige deutsche Wissenschaftler eine Selbstverständlichkeit sein. Zur Relativierung dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit sei jedoch daran erinnert, dass das nicht immer so gewesen war. Ganz im Gegenteil, jene Haltung, die uns deutschen Wissenschaftlern heute so oft begegnet, dass das, was „wirklich zählt“, entweder auf Englisch – vielleicht gerade noch auf Französisch – publiziert sei oder ansonsten eben nicht existiere, galt im Selbstverständnis deutscher Wissenschaftler sehr lange Zeit für ihre eigene Sprache. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs konnten gerade deutsche Wissenschaftler mit hoch erhobener Stirn im Universum der Gelehrsamkeit umher stolzieren und davon überzeugt sein, dass Deutsch die Wissenschaftssprache per se sei.

Das führte dann auch dazu, dass jemand wie Max Weber beispielsweise umfangreiche Texte schreiben und publizieren konnte, ohne auch nur über die geringste Kenntnis jener Sprachen und Kontexte zu verfügen, über die er vollmundig und im Gestus des Allwissenden schrieb. Wer von uns Heutigen würde es sich trauen, einen ganzen Band über die Wirtschaftsethik Chinas zu schreiben, ohne ein einziges Wort Chinesisch zu können?

Man muss sie lesen, jene weltberühmten drei Bände der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie, um zu vernehmen, mit welcher apodiktischen Gewissheit sich der deutsche Gelehrte Max Weber zu den abgelegensten Details über China, Indien und den Vorderen Orient äußert. Hier schreibt der reine Bibliotheksbenutzer über den Konfuzianismus, Taoismus, Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam in einer Manier, dass man meinen könnte, er habe an deren religiöser Praxis seit Jahrzehnten teilgenommen. Dabei beherrschte Weber keine einzige jener Sprachen, in denen diese Praxis stattfand, er bereiste nicht einmal auch nur eines jener Länder: Max Weber war nie in China, Indien oder Palästina.

Und als er am 21. September 1904 im Rahmen des Wissenschaftlichen Kongresses, der für die Weltausstellung in St. Louis organisiert worden war, einen Vortrag hielt, sprach er selbstverständlich auf Deutsch. Die in der Kongressdokumentation aufgenommene englische Fassung unter dem Titel „The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science“ ist die nachträgliche Übersetzung ins Englische, an deren Endredaktion Weber keinen Anteil genommen hatte, vermutlich auch deshalb, weil er sich im selbst geschriebenen Englisch nicht sicher genug fühlte. Ein deutscher Gelehrter musste diese Sprache zu seiner Zeit nicht beherrschen!

Und so möchte ich diese Überlegungen abschließen mit einem Zitat der US-amerikanischen Soziologin Gisela Hinkle, die sich 1968 kenntnisreich und detailliert mit der „Amerikanisierung“ Max Webers auseinandersetzte und zu folgendem Schluss kam, dem ich vorbehaltlos zustimme: „Translation from one language to another and more specifically from one intellectual and linguistic context to another, entails not merely a substitution of words but a transformation of ideas, styles of thinking, modes of expression, indeed a whole context of mental imagery and assumptions.“

In diesem Sinne schließe ich keineswegs aus, dass es gerade in außereuropäischen Räumen zu einer immer intensiver werdenden Auseinandersetzung mit ausgewählten Themen Max Webers kommen wird, vor allem mit seinen Lebensthemen Kapitalismus, Säkularisierung und Bürokratie. Warten wir es ab und beobachten wir es.

Erwähnte Literatur

Gert Albrecht, Agathe Bienfait, Steffen Sigmund, Claus Wendt, Hrsg.: Das Weber-Paradigma. Tübingen: Mohr Siebeck 2003.

Karl-Ludwig Ay, Knut Borchardt, Hrsg.: Das Faszinosum Max Weber. Die Geschichte seiner Geltung. Konstanz: UKV Verlagsgesellschaft 2006.

Veit Michael Bader, Johannes Berger, Heiner Ganßmann, Jost von dem Knesebeck: Einführung in die Gesellschaftstheorie. Gesellschaft, Wirtschaft und Staat bei Marx und Weber. Frankfurt am Main / New York: Campus 1976. 2. Aufl. 1980. (= Studium: Kritische Sozialwissenschaft)

Carl J. Burckhardt: Richelieu. 2. Aufl. München: Callwey 1988.

Karl Engisch, Bernhard Pfister, Johannes Winckelmann, Hrsg.: Max Weber. Gedächtnisschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages. Berlin: Duncker & Humblot 1966.

Gisela J. Hinkle: The Americanization of Max Weber. – In: Current Perspectives in Social Theory, 7 (1986), S. 87-104.

Dirk Kaesler: Revolution wider die Vernunft. – In: Hochland. Zeitschrift für alle Gebiete des Wissens und der Schönen Künste. 61.Jg., H. 5 (September/Oktober 1969), S. 403-413.

Dirk Kaesler: Soziologie und Ethologie. Vorüberlegungen über die Verwendbarkeit von Methoden, Funden und Theorien der Ethologie für die Soziologie. Diplomarbeit, Institut für Soziologie der Universität München. 1971.

Dirk Kaesler, Hrsg.: Max Weber. Sein Werk und seine Wirkung. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1972.

Dirk Kaesler: Revolution und Veralltäglichung. Eine Theorie postrevolutionärer Prozesse. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1977.

Dirk Kaesler, Hrsg.: Klassiker des soziologischen Denkens. 2 Bände. München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1976/78.

Dirk Kaesler: Einführung in das Studium Max Webers. München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1979. Übers. ins Japanische (1981) und Englische (1988)

Dirk Kaesler: Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1984. (= Studien zur Sozialwissenschaft, Bd.58). Nachdruck 1991.

Dirk Kaesler: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt/ New York: Campus 1995. Übers. ins Französische (1996), Chinesische (2000), Italienische (2004), Polnische (2010).

Dirk Kaesler, Hrsg.: Max Weber: Schriften 1894-1922. Ausgewählt und herausgegeben von Dirk Kaesler. Stuttgart: Alfred Kröner 2002. (= Kröners Taschenausgabe Bd. 233)

Dirk Kaesler, Hrsg.: Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe. Herausgegeben und eingeleitet von Dirk Kaesler. München: C. H. Beck 2004. (= beck’sche reihe, Bd. 1614)

Dirk Kaesler: Die Zeit der Außenseiter in der deutschen Soziologie. – In: Ay/Borchardt, Hrsg. 2006, S. 169-195.

Dirk Kaesler: Max Weber. München: C. H. Beck 2011. (= C.H. Beck Wissen, Bd. 2726)

Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie. München: C. H. Beck 2014. (Chinesische Übers. bei Guangxi Normal University Press, Guangxi in Vorbereitung)

Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920. Tübingen: Mohr-Siebeck 1959. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. 1974.

Simon Schama: Rembrandt’s Eyes. London: Penguin 1999.

Heribert Tenschert, Hrsg.: Leidenschaft und Augenmaß. Max Webers Stichwortmanuskript zu „Politik als Beruf“. Einführung von Dirk Kaesler. Katalog LIX. Ramsen 2008.

Johannes Winckelmann: Max Webers hinterlassenes Hauptwerk: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Entstehung und gedanklicher Aufbau. Tübingen: Mohr-Siebeck 1986.