Das Trauma, das nicht vergeht?

Ungarn und der Friedensvertrag von Trianon vor 100 Jahren

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Der Himmel über Budapest war bewölkt, am Freitag, den 4. Juni 1920. Schulen, Behörden und die meisten Geschäfte hatten geschlossen. Zehntausende versammelten sich am frühen Morgen auf dem Heldenplatz. Sie trugen Trauer, zogen durch die Straßen, sangen die Nationalhymne und skandierten Losungen wie „Gerechtigkeit für Ungarn!“ In den Kirchen fanden Gottesdienste statt, die Glocken läuteten und selbst der Zugverkehr ruhte für fünf Minuten. Es schien, als hätte ein Land gedacht, es könne die Zeit anhalten und den Lauf der Geschichte mit. Als ob die Menschen geglaubt hätten, sie könnten die Unterschriften verhindern, die im fernen Paris, im Schloss „Grand Trianon“, am selben Nachmittag geleistet werden sollten. Dort erschienen um 16.15 Uhr Ágoston Benárd und Alfréd Drasche Lázár, zwei ungarische Politiker aus der zweiten Reihe, um ihrer Aufgabe Genüge zu tun. Was die Deutschen ein Jahr zuvor in Versailles erlebten, stand den Ungarn bevor, waren sie doch als Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie deren Bündnispartner im Krieg gewesen: Ohne bei den Bestimmungen mitreden zu können, mussten sie den Friedensvertrag unterzeichnen.

Gemäß dem Vertrag sollte sich Ungarn auf eine Reduzierung des Heeres verpflichten, die Vereinigung mit Österreich wurde untersagt und die Zahlung von Reparationen für Kriegsschäden vorgeschrieben. Den größten Schock lösten aber die neuen Grenzen aus: Ungarns Staatsgebiet wurde von 282.000 km2 auf 93.000 km2 reduziert, die Zahl der Einwohner sank von 20 auf 8 Millionen. In Prozentangaben ausgedrückt waren das 67 % des Territoriums und über 58 % der Bevölkerung des Landes. Zum Vergleich: Im Vertrag von Versailles verlor Deutschland 1919 13 % seines Gebietes und 10 % seiner Bevölkerung. Was die Ungarn besonders verbitterte: Es waren nicht nur von nichtungarischen Ethnien (Slowaken, Rumänen, Serben, Ukrainern) bewohnte Gebiete gewesen, die verloren gingen. Auch etwa 3,3 Millionen Ungarn sollten in den Nachbarstaaten Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien und Österreich leben. Ein Teil dieser Menschen siedelte aber in kompakten Gebieten entlang der Grenzen, nunmehr im Ausland, was die Willkür der Grenzziehung offenbarte. Das von den Siegermächten hochgehaltene Prinzip der nationalen Selbstbestimmung sei nicht eingehalten worden, beklagten sich die Ungarn. Kulturelle Erinnerungsorte, Schauplätze ungarischer Geschichte, Wirtschaftsstandorte und wichtige Industriegebiete wurden 1920 von Ungarn getrennt.

Der im Versailler Schloss „Grand Trianon“ unterschriebene Vertrag wurde vor 100 Jahren damit zu einem Trauma, dessen Folgen bis heute nachwirken. Obwohl das Land unabhängig und zu einem Nationalstaat wurde, konnte die Gesellschaft die positiven Aspekte des aufgezwungenen Vertrags nicht würdigen. Die Revision der Grenzen wurde vielmehr zum Mantra ungarischer Innen- wie Außenpolitik. Dabei entstand eine Vielzahl von Konzepten, die entweder (unrealistisch) eine Wiederherstellung der Grenzen von 1914 oder lediglich Grenzkorrekturen in unterschiedlichem Ausmaß auf der Grundlage ethnischer Kriterien vorsahen. Eine politische Unterstützung der Siegermächte war in dieser Frage nicht zu erwarten, denn die Errichtung der neuen Staaten in Osteuropa entsprach als „cordon sanitaire“ etwa der französischen Staatsräson. Ungarn musste sich daher zwangsläufig nach Italien und dem Deutschen Reich hin ausrichten. Nach 1933 driftete das Land immer stärker nach rechts und näherte sich außenpolitisch dem „Dritten Reich“ an. Das zahlte sich 1938 aus als durch einen Schiedsspruch Italiens und Deutschlands Teile der Tschechoslowakei und 1940 Teile Siebenbürgens, das seit 1920 zu Rumänien gehörte, zu Ungarn zurückkehrten. Durch weitere revisionistische Erfolge wuchs das Staatsgebiet bis 1941 auf beinahe das Doppelte an. Die Einwohnerzahl erhöhte sich auf 14,6 Millionen, wovon allerdings 23 % ethnische Minderheiten waren.

In Ungarn selbst entstand nach 1920 ein irredentistischer Kult mit dem Ziel, die Erinnerung an die verlorenen Gebiete und die Millionen Ungarn in den Nachbarstaaten wachzuhalten. Ein ganzes Land sagte „Nein, nein, niemals!“ zum Vertrag von Trianon. Generationen von Schülern wuchsen mit einem „revisionistischen Gebet“ auf, es entstanden Lieder, Gedichte und Denkmäler, die an die Ungerechtigkeit erinnern sollten, welche dem Land angetan wurde. Rund 400.000 ungarische Flüchtlinge aus den verlorenen Gebieten brauchten die Hoffnung, dereinst wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Den Zerfall des Landes erklärte man, indem man Sündenböcke suchte und ihn mal auf die staatsfeindlichen ethnischen Minderheiten, mal auf die Juden oder die Kommunisten der Räterepublik zurückführte.

1920 verabschiedete das ungarische Parlament das erste Numerus-Clausus-Gesetz Nachkriegseuropas, das den Anteil der jüdischen Studenten an den Universitäten beschränkte. Es führte zu einer jüdischen Auswanderung und bescherte der westlichen Wissenschaft Köpfe wie den Atomphysiker Eduard Teller. 1938 und danach verabschiedete das Parlament eine Reihe weiterer antisemitischer Gesetze, die das Leben der Juden stärkeren Restriktionen und Diskriminierungen unterwarfen als es im „Dritten Reich“ der Fall war. Da in den nach 1938 zurückerlangten Gebieten viele Juden lebten, schmiedeten Teile der ungarischen Eliten Pläne zu ihrer Aussiedlung, um die Gebiete zu homogenisieren, damit es zu keinem „zweiten Trianon“ kommen kann. Folgerichtig begannen die ungarischen Behörden 1944 zuerst mit der Deportation von Juden aus Nordsiebenbürgen und Oberungarn.

Zu den unmittelbaren Folgen des Vertrags von Trianon ist schließlich auch die Entstehung einer sogenannten Ungartumspolitik zu zählen. Der Begriff bezeichnet den seit 1920 nötigen Umgang der Budapester Regierungen mit den ungarischen Minderheiten in den umliegenden Ländern. Die meisten 1918 gegründeten Nachfolgestaaten waren ethnisch inhomogen: in Rumänien bildeten die Rumänen nur 72 % der Bevölkerung, in der Tschechoslowakei gehörten etwa 35 % der Bevölkerung ethnischen Minderheiten an. Überall verfolgten die Regierungen eine minderheitenfeindliche, assimilatorische Politik. Das in Ungarn in der Zwischenkriegszeit verfolgte Konzept der Ungartumspolitik besagte, dass auch wenn die territoriale Integrität verloren gegangen war, die demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Positionen in den abgetrennten Gebieten zwecks einer besseren Verhandlungsstrategie bei der künftigen Neuverhandlung der Grenzen bewahrt bleiben sollten. Um dies zu gewährleisten, unterstützten die ungarischen Regierungen heimlich ungarische Minderheiteninstitutionen wie Vereine, Parteien und Zeitungen finanziell, damit die Minderheiten der Assimilierungspolitik des jeweiligen Landes standhalten konnten. Im personellen Bereich bedeutete dies das Protegieren von politischen Gruppen, die ideologisch den Budapester Regierungen nahestanden. Eine Parallele zur deutschen Politik lässt sich insofern feststellen, als in den 1930er Jahren auch die ungarischen Minderheiten (wie etwa die Sudetendeutschen) instrumentalisiert und zur Destabilisierung ihrer Länder missbraucht wurden.

1945 gehörte Ungarn zu den Verlierern. Die mit deutscher Hilfe zwischen 19381941 erzielten revisionistischen Erfolge wurden auf der Pariser Friedenskonferenz somit rückgängig gemacht. Der Vertrag von Trianon durfte nach Errichtung der sozialistischen Diktatur kein öffentlich erörtertes Thema mehr sein. Es hätte nämlich die Frage nach den ungarischen Minderheiten in den ebenfalls sozialistischen Bruderstaaten aufgeworfen. Die Minderheitenfrage galt jedoch als innere Angelegenheit eines jeden Staates. Auch ging die offizielle Doktrin davon aus, dass der Sieg des Marxismus-Leninismus eine Überwindung jeglicher Nationalitätenproblematik nach sich ziehe, denn diese sei eigentlich nur ein Ergebnis der kapitalistischen Klassengegensätze. Eine revisionistische Außenpolitik oder auch ein irredentistischer Kult wie in der Zwischenkriegszeit waren nicht mehr möglich. Generationen von Schülern wuchsen nun auf, ohne zu erfahren, dass in den Nachbarländern Millionen von Ungarn lebten, die eine ungarische Kultur pflegten. Die Verwunderung vieler Ungarn darüber, wieso „Slowaken“ und „Rumänen“ Ungarisch sprechen, ist legendär.

Die ungarische Diplomatie blieb in der unmittelbaren Nachkriegszeit dennoch sensibel gegenüber den Anliegen der ungarischen Minderheiten, was damit zu erklären ist, dass sie von Mitgliedern der Arbeiterbewegung geleitet wurde, die bereits vor dem Weltkrieg untereinander gut vernetzt waren. Dabei lässt sich anhand der mittlerweile zugänglichen Quellen des ungarischen Außenministeriums eine im Laufe der Zeit zunehmende Intensivierung der Fürsorge für die Auslandsungarn feststellen. Die Lockerung der ideologischen Zügel nach dem Aufstand von 1956 führte dazu, dass die Unterdrückung dieser Minderheiten durch den jeweiligen Staat nicht länger ignoriert werden konnte. Der Propagandaausschuss der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei hielt 1968 in einer Richtlinie die Zusammengehörigkeit der ungarischen Kultur trotz aller Ländergrenzen und die Verantwortung Ungarns für deren Entwicklung fest. Aus der Feststellung der Verantwortlichkeit ließ sich aber das Engagement für die Belange der Minderheiten in den Nachbarstaaten ableiten. Politisch entwickelte man in Budapest, um die Bruderstaaten nicht zu verärgern, das Konzept der „doppelten Bindung“, wonach die ungarischen Minderheiten staatsrechtlich (durch die Staatsbürgerschaft) an ihr jeweiliges Land und zugleich kulturell an Ungarn gebunden sind. Sie sollten eine Brückenfunktion zwischen der jeweiligen Staatsnation und der ungarischen Nation einnehmen.

Das Eintreten für die ungarischen Minderheiten in den sozialistischen Bruderstaaten erreichte in den 1980er Jahren neue Höhepunkte als ein „Institut des Ungartums“ zur Erforschung der Geschichte der ungarischen Minderheiten gegründet wurde. Im darauffolgenden Jahr erschien unter der Ägide der „Ungarischen Akademie der Wissenschaften“ eine dreibändige Geschichte Siebenbürgens. Sie löste im Nachbarland Rumänien, dessen nationalkommunistische Deutung der siebenbürgischen Geschichte durch die Publikation stark infrage gestellt wurde, eine heftige monatelange Kampagne in den Medien aus. Sie richtete sich nicht nur gegen ein Buch, das in Rumänien niemand kannte, da es nicht vertrieben wurde, sondern war Teil einer seit mehreren Jahren verfolgten Kampagne gegen die rund anderthalb Millionen Menschen umfassende ungarische Minderheit.

Die Lage der ungarischen Minderheiten gab den seit den 1970er Jahren immer stärker werdenden ungarischen Dissidentenkreisen die Möglichkeit, über den Umweg der Menschenrechtsfrage die Behandlung dieser Gruppen zu thematisieren. Handhabe boten hierzu u.a. die KSZE-Schlussakte von Helsinki und die Beschlüsse der Folgekonferenzen von Ohrid (1985) und Madrid (1987). Da grundlegende Systemkritik und die Thematisierung erstrangiger „Schicksalsfragen“ (Frage der nationalen Souveränität, die Legitimität des politischen Systems, Wirtschaftskrise usw.) nicht möglich waren, konnte auf diese Weise für den bestehenden Unmut ein Ventil benutzt werden. Eine der größten oppositionellen Demonstrationen vor dem Systemwechsel unter Beteiligung von etwa 65.000 Menschen fand am 27. Juni 1988 auf dem Budapester Heldenplatz statt. Sie richtete sich gegen die Systematisierungspläne des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu, denen unzählige Siedlungen und Dörfer der ungarischen Minderheit zum Opfer fallen sollten. Die Budapester Opposition begriff die Pläne als Angriff auf den Fortbestand des Ungartums, worin sich die seit dem Vertrag von Trianon existenten Ängste um den Tod der Nation verdichteten.

Der Systemwechsel von 1989/90 brachte eine neue Epoche im Umgang Ungarns mit Trianon. Das nationalistische Revival in Osteuropa, das in Jugoslawien zu mehreren Kriegen, in Rumänien zu blutigen Pogromen (auch gegen die ungarische Minderheit) und in der Tschechoslowakei zum Staatszerfall führte, erfasste Ungarn im ersten Jahrzehnt kaum. Zwar äußerte der erste demokratische gewählte Ministerpräsident des Landes, József Antall, 1990 seinen Wunsch, „in der Seele“ der Ministerpräsident von 15 Millionen Ungarn zu sein (die Bevölkerungszahl Ungarns betrug etwa 10 Millionen). Doch konnte von einer revisionistischen Zielsetzung der ungarischen Politik nach 1990, trotz aller Befürchtungen der Nachbarländer, keine Rede sein.

Eine Analyse der im ungarischen Parlament zwischen 19902002 gehaltenen rund 15.000 Redebeiträge ergab, dass der Begriff „Trianon“ lediglich 443mal vorkam. Er wurde zumeist nur von Parteien am rechten Rand benutzt, die später vom politischen Parkett (zugunsten des „Bundes der Jungen Demokraten“, der seit 2010 regierenden Fidesz) verschwanden. Für die Fidesz wie für die damaligen Regierungen war „Trianon“ noch kein Begriff, den man politisch besetzen wollte. Antalls außenpolitisches Ziel bestand vielmehr darin, den ungarischen Minderheiten zu signalisieren, dass sich Budapest für ihre Rechte einsetzen werde. So schloss Ungarn in den 1990er Jahren mit seinen Nachbarn Nachbarschaftsverträge ab, die die Erwartungen der Minderheiten allerdings enttäuschten. Der Revisionismus als offizielle Ideologie der Zwischenkriegszeit lebte nach 1990 also nicht auf. Die Befreiung der Medien von jeglicher Zensur erlaubte allerdings sowohl den Nachdruck alter Propaganda, als auch die Entstehung kleiner rechter Nischen, in welchen im Namen der Meinungsfreiheit revisionistische (und antisemitische) Propaganda betrieben wurde und wird.

Seit dem Beitritt des Landes zur Europäischen Union im Jahre 2004 intensivierte Budapest die Beziehungen zu den ungarischen Minderheiten. Bereits das so genannte „Statusgesetz“ des Jahres 2001, verabschiedet vom Parlament der ersten Orbán-Regierung, gewährte den ungarischen Minderheiten weitreichende Ermäßigungen und Rechte im Erziehungs- und Transportwesen Ungarns. 2004 scheiterte eine Volksabstimmung über die Gewährung der Staatsangehörigkeit an die Mitglieder der ungarischen Minderheiten der Nachbarländer u.a. an einer starken Gegenkampagne der Sozialdemokraten, die mit stark fremdenfeindlicher Stimmungsmache gegen die Abstimmung vorging. Die Kontroversen verdeutlichten eine große ideologische Lagerbildung zwischen den nationalkonservativen Kräften und den Sozialdemokraten sowie das Verfestigen eines aus dem Trianonvertrag abgeleiteten Opfernarrativs. Diesem gemäß bedeutete jener bereits über 80 Jahre alte Vertrag „Ungarns Kreuzigung“. Der Präsident des „Weltverbandes der Ungarn“, der aus Rumänien stammende Miklós Patrubány, verkündete sogar: „Ein Ungar ist, wem Trianon schmerzt!“.

Seit den 2000er Jahren vollzieht sich eine Ausbreitung ungarischer (Staats-)Firmen in den von Ungarn bewohnten Nachbarländern. In der Slowakei und in Rumänien gründete der ungarische Staat ungarischsprachige Universitäten, da der jeweilige Staat den Ungarn zwar ungarische Studiengänge erlaubte, ihnen jedoch eigene Universitäten verwehrte. Politische Netzwerke und von Budapest finanzierte Institutionen und Projekte schufen schließlich vielfältige Abhängigkeiten der Minderheiten. Diese Abhängigkeiten wuchsen seit 2010, seitdem die Fidesz-Regierung die Mittel aus den EU-Fonds in den eigenen Zirkeln verteilt, deren Affiliationen sich bis in die Minderheitengebiete der Nachbarländer erstrecken. Der 4. Juni ist seit 2010 als „Tag der nationalen Zusammengehörigkeit“ ein nationaler Gedenktag. Die legislativen Neuerungen seit 2010, die Errichtung eines „Denkmals für die Opfer der deutschen Besatzung“ (2014), das Ungarn als Opfer darstellt und das für Mitte 2020 geplante „Trianon-Denkmal“: Sie alle sind im Zeichen des Nachwirkens des Vertrages von Trianon entstanden und pflegen ein emotionales Opfernarrativ, das mit einem sehr einseitigen Geschichtsbild einhergeht.

Seit 2010 besitzen Angehörige der ungarischen Minderheiten die Möglichkeit, auch die ungarische Staatsangehörigkeit zu erwerben – als moralische Wiedergutmachung ihrer 1920 erfolgten Abtrennung vom „Mutterland“. In der Verfassung von 2010 betont der ungarische Staat seine besondere Verantwortung für ihr Schicksal und verspricht, ihre Bemühungen um die Wahrung ihrer Identität zu fördern. Ende Mai 2020, wenige Tage vor dem 100. Jubiläum der Vertragsunterzeichnung, hätte die „Gedenkstätte der nationalen Zusammengehörigkeit“, wie ein Denkmal in Erinnerung an Trianon offiziell heißt, enthüllt werden sollen. Aufgrund der aktuellen Corona-Lage wurde dies auf den 20. August verlegt. Dabei wird auf einer Länge von 100 Metern im Zentrum von Budapest eine Mauer in die Straße eingelassen. In der Mitte soll ein ewiges Feuer brennen und an den Wänden werden die 12.000 Ortsnamen in ihrer ungarischen Schreibweise von 1913 aufgelistet – auch wenn die Orte bereits damals rein slowakische, rumänische oder serbische Gemeinden waren. Historiker kritisieren dies als eine verdeckte Forderung nach der Rückgabe dieser Gebiete, die also erneut ins ungarische Kollektivgedächtnis zurückgeholt werden sollen. Auf diese Weise erstehe der Revisionismus der Zwischenkriegszeit neu auf. Zudem finden in diesem Jahr unzählige Konferenzen, Tagungen und Gedenkveranstaltungen anlässlich der 100. Wiederkehr der Vertragsunterzeichnung statt.

Aus der Vielzahl der Buchpublikationen anlässlich des Gedenkjahres ragt ein dreibändiges Werk des Osiris Verlages negativ heraus. Der Verlag entstand 1994 und hat sich einen sehr guten Ruf als Publikationsort kritischer ungarischer Historiker (Ignác Romsics, Krisztián Ungváry) wie auch von Klassikern der ungarischen und der Weltliteratur (Aristophanes, Sophokles, Schiller usw.) sowie der Philosophie und Soziologie (Martin Heidegger, John Locke, Herodot u.a.) erworben. Allerdings reduzierte der Eigentümer des Verlages, János Gyurgyák, der auch als Historiker arbeitet, seit etwa 2010 aus einer unbestimmten Kulturverdrossenheit heraus, die verlegerische Arbeit. Abgesehen von der Pflege des Verlagsprogramms erschienen seither kaum neue Titel.

Umso auffälliger ist nun die vorgelegte dreibändige Publikation mit dem Titel Das blutende Ungarn, weil sie das offizielle Opfernarrativ der Regierung aufgreift. Der erste Band ist eine Neuauflage einer Anthologie aus der Zwischenkriegszeit, die Werke damaliger Schriftsteller und Dichter (Attila József, Dezső Kosztolányi, Endre Ady) vereinte, deren Thema der ungerechte Friedensvertrag war. Wie es der Titel suggeriert, ging es dabei um Schmerzbewältigung. In den beiden anderen Bänden mit der Überschrift Das erinnernde Ungarn fokussieren die Autoren in ihren Essays auf die Beschreibung der Folgen des Vertrages, auf die offizielle Erinnerungspolitik, auf historisch-politologische sowie mentalitätsgeschichtliche Erklärungen der Ursachen, Folgen und der Bedeutung dieses Jahrhundertereignisses für die Ungarn. Zumindest ein Teil dieser Texte stellt keinen Diskurs der Klage mehr dar, doch retten sie die Intention der Publikation mitnichten. Dass der Verlag auf seiner Homepage nicht umhin kommt, den Vertrag immer noch als „Friedensdiktat“ zu bezeichnen, charakterisiert allerdings nicht nur seinen Umgang mit dem Vertragswerk, sondern auch die Einstellung weiter Teile der ungarischen Gesellschaft. So wie der Titel der Neuauflage „Das blutende Ungarn“ eine Märtyrologie und Opferhaltung kennzeichnet, so wenig scheinen Teile der Ungarn gewillt sein, den Vertrag zu historisieren. 

Fest steht somit, dass „Trianon“ als Code und kultureller Erinnerungsort einmal mehr den politischen und erinnerungsgeschichtlichen Diskurs des Landes bestimmt. In Gegensatz zu Deutschland und Österreich, die es geschafft haben, die Verträge von Versailles und St. Germain zu historisieren, lastet auf den Ungarn die Erinnerung an den Vertrag von Trianon wie ein Trauma. Doch warum ist das so? Weshalb schaffen es die Ungarn nicht, 100 Jahre nach dem Ereignis sich von diesem gebannten Blick auf Trianon zu lösen? Dies ist dem jahrzehntelang verkrampften Umgang mit ihm geschuldet: Unter dem Schock seines Entstehens war eine distanzierte Sichtweise zwischen 19201940 genauso wenig möglich wie unter dem Verbot seiner Erinnerung nach 1945.

Der mehrfache Zerfall der ebenfalls 19181920 entstandenen Nachbarstaaten (Jugoslawien, Tschechoslowakei, Sowjetunion), die wiederholten Grenzveränderungen zugunsten Ungarns (19381941) oder auch die aktuellen Sezessionsbewegungen (Katalonien, Schottland) zeigen zudem die Instabilität von Grenzen auf. Die unbefriedigende Lage der Ungarn in den Nachbarstaaten erinnert immer wieder aufs Neue an den Vertrag und seine bis heute virulenten Folgen. Die deutschen Minderheiten der Zwischenkriegszeit, ebenfalls viele Millionen Menschen in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien, gibt es dagegen seit dem Zweiten Weltkrieg  nicht mehr. Trianon ist damit für viele Ungarn ein Symbol für die Ungerechtigkeit internationaler Politik, für politische Ohnmacht und das Ausgeliefertsein an die Großmächte. Der Vertrag erscheint in diesem Narrativ als das erste Glied einer langen Kette, deren weitere Glieder die Besetzung durch das „Dritte Reich“ 1944 und durch die Sowjetunion 1945, die Niederschlagung des Aufstandes 1956 und, in rechten Kreisen, die Politik der Europäischen Union sind.

Gemäß dieser Erzählung ist Viktor Orbáns Flüchtlingspolitik seit 2015 eine Handlung, die seit Trianon das erste Mal die politische Machtlosigkeit des Landes aus eigener Kraft überwindet und den ungarischen Nationalstaat als einen solchen zu bewahren sucht. Zu jedem Nationsbegriff gehört schließlich eine Geschichte, die zwar unterschiedlich gedeutet wird, sich aber auf einen gemeinsamen Grundstock an historischen Ereignissen bezieht. Der Strom der gemeinsamen Geschichte hört aber für die etwa 12 Millionen Ungarn des Karpatenbeckens im Jahr 1920 mit Trianon auf. Danach setzen unterschiedliche Erzählungen ein, die etwa in Oberungarn an die Tschechoslowakei gebunden sind. Diese Vielfalt historischer Sinndeutungen lässt sich für die Ungarn nur dann vereinen, wenn „Trianon“ ins Zentrum gerückt und der Vertrag stets von neuem vergegenwärtigt wird. Der Versailler Palast steht auch für die narzisstische Kränkung einer Nation, die es bis heute nicht verwunden hat, von der dominierenden Position einer mitteleuropäischen Macht in den Status eines kleinen Landes abgestiegen zu sein. Alles in allem laboriert Ungarn an einem kulturellen und politischen Trauma, dessen Überwindung derzeit noch nicht absehbar ist.