Der letzte seiner Art

Tade Thompsons SF-Roman „Rosewater“ kann trotz einiger origineller Ideen nicht überzeugen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie alle aufrechten AnhängerInnen einschlägiger Verschwörungsmythen wissen, landeten Mitte des 20. Jahrhunderts Außerirdische nahe der US-amerikanischen Kleinstadt Roswell. Doch sie irren. Nicht Roswell hieß der Ort, sondern Rosewater, was ja immerhin etwas ähnlich klingt. Auch liegt er nicht in New Mexico, sondern im nigerianischen Bundesstaat Oyo auf dem Siedlungsgebiet der Yeruba etwas nördlich von Lagos und die Niederkunft der Wesen aus dem All geschah nicht 1947, sondern erst 2012. Und überhaupt wurde die Stadt erst nach der Ankunft der Sternreisenden gegründet. Das ist aber immer noch nicht alles. Denn tatsächlich landete das Intelligenzwesen – es handelte sich nämlich nur um eines, das allerdings einige Pflanzen und Tiere seines Heimatplaneten im Gepäck hatte – in London, genauer gesagt im Hydepark, den es nicht nur unter sich begrub, sondern in dem es sogleich versank, um sich durch die Erdkruste bis nach Nigeria zu bohren.

All dies lässt sich in Tade Thompsons Roman Rosewater, dem ersten Teil seiner Wormwood-Trilogie, nachlesen. Der hierzulande bis zum Erscheinen der deutschsprachigen Übersetzung seines Buches noch völlig unbekannte Autor stammt ebenso wie die afrofuturistische Schriftstellerin Nnedi Okorafor aus Nigeria. Anders als sie – und andere in aller Welt bekannte nigerianische AutorInnen wie Chinua Achebe und Chimamanda Ngozi Adichie gehört er jedoch nicht der Ethnie der Igbo an, sondern derjenigen der Yeruba. Auch verließ er seine ursprüngliche Heimat nicht wie Okorafor (und Adichie) Richtung USA, sondern wurde in London geboren, wuchs allerdings in Nigeria auf, wohin seine Eltern mit ihm und seiner Schwester zurückgekehrt waren.

Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Biographien von Okorafor und Thompson spiegeln sich auch in ihren Romanen wider. Schreibt sie dezidiert afrofuturistische Romane, so handelt es sich bei seinem Rosewater ungeachtet seines antikolonialistischen Impetus und des nigerianischen Handlungsortes doch eher um Mainstream-Science-Fiction. Afrikanische Mythen spielen in ihm allenfalls am Rande eine Rolle. Traditionelle Magie wird zwar gelegentlich erwähnt, aber als Aberglaube der Figuren gekennzeichnet. Dafür werden alle Gegebenheiten und Vorkommnisse (pseudo-)wissenschaftlich erklärt und sei es damit, dass die Zellen der außerirdischen Lebensform „quantenverschränkungsbasierte Fernkommunikation“ beherrschen. Dem Afrofuturismus am nächsten kommen wohl einige „Tote“, die „eine vollständige Persönlichkeit in der Xenosphäre hinterlassen“ haben, zumal diese Xenosphäre in mancher Hinsicht von Ferne an das unsichtbare himmlische Reich Òrun der Yeruba-Religion Òrìṣà-Ifá erinnern mag, in dem Götter und Ahnen residieren.

Mögen die Romane Okorafors und Thompsons auch verschiedenen Genres zuzuordnen sein und sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden, so wurde der gravierendste Unterschied noch gar nicht erwähnt. Der des Geschlechts – nicht der AutorInnen, sondern ihrer ProtagonistInnen. Und dies nicht nur, weil Okorafors Heldinnen weiblich sind, die zentrale Figur Rosewaters hingegen ein männlicher Ich-Erzähler namens Kaaro, sondern weil Okorafors Frauenfiguren nicht selten um ihre Selbstbestimmung als Frau ringen, während Thompsons Protagonist mit einem dezidiert männlichen, wenn nicht maskulinistischen und sexistischen Blick auf die Welt, das Leben und vor allem die Frauen schaut, die immer wieder – auch dann, wenn es für das Geschehen völlig belanglos ist – gnadenlos sexualisiert werden, wobei Kaaro sich besonders für deren Brüste interessiert. Hat eine der weiblichen Figuren „birnenförmige Brüste“, so eine andere „pendelnde[.] Brüste“, eine dritte „vorspringende Brüste“ und die „Brustwarzen“ einer vierten „sind nadelspitz“. Es versteht sich, dass letztere von aggressiver Sexualität ist. Wie Sexualität in dem Roman überhaupt fast immer mit Gewalt konnotiert ist. Eine Figur namens Klaus etwa nennt das männliche Glied „Torpedo“. Der Geschlechtsverkehr wird in dem Roman gelegentlich explizit gewaltsam ausgeübt und vor einem einvernehmlichem Sexualakt bittet die Frau „Hör auf“, woraufhin der Mann „mit gespieltem Ernst“ erwidert: „Nein heißt nein“. Zärtlichkeit oder auch nur Erotik sind der Sexualität des Romans hingegen fremd. Vielmehr hat beim Sex „der eigene Schutz […] allerhöchste Priorität“, denn „man kann sich dabei scheußliche Krankheiten holen“. Vom Schutz der PartnerInnen ist keine Rede. Und überhaupt „ist Liebe etwas für Weicheier“, wie Kaaro einmal meint, der sich im Rahmen seiner emotionalen Möglichkeiten dann doch in eine Frau zu verlieben scheint.

Trotz seines alles durchdringenden Sexismus erklärt der Protagonist einmal, „dass man jede Gemeinschaft, danach beurteilen kann, wie die Frauen in ihr behandelt werden“. Das klingt im ersten Moment zwar so, als werde mit der Sentenz ein kritischer Blick auf die Geschlechterverhältnisse geworfen. Tatsächlich aber bleiben die Frauen auf ein Dasein als Objekte verwiesen, die gut oder schlecht behandelt werden. Davon, dass sie Subjekte sind, die selbst handeln, weiß diese ‚Weisheit‘ nichts, die im Übrigen in diversen Varianten bereits seit längerem verschiedenen Leuten zugeschrieben wird, von Abdul Ghaffar Khan, einem pazifistischen Moslem der sich an der Seite Gandhis für die Unabhängigkeit Indiens einsetzte, bis hin zu wahlweise Barack und Michelle Obama.

Auch zieht Thompsons Protagonist gerne einmal sexuelle Metaphern heran und lässt „Unkraut wie Schamhaar aus den Ritzen“ der Mauer eines Gebäudes „sprießen“. Viele seiner anderen Metaphern sind nicht weniger eigenwillig, ja befremdlich. So etwa die „Säulen“, die „reglos“ dastehen „wie viktorianische Tote, die für Fotos posieren“. Gelegentlich ist eine von ihnen sogar völlig misslungen: „Die Korridore klammern sich an ihr Schweigen wie ein krankes Kind.“

Von derlei Schwächen und Mängel ist der Afrofuturismus Okorafors zwar frei. Eine Gemeinsamkeit teilt er dennoch mit Thompsons SF-Roman. Wie in den Zukunftsvisionen Okorafors – etwa der ihrer bislang noch nicht übersetzten Short Story Showlogo oder derjenigen des Romans Das Buch des Phönix – wird auch in Rosewater noch immer die Musik des Ende des 20. Jahrhunderts verstorbenen nigerianischen Sängers Fela Kuti gehört.

Soviel zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen dem Afrofuturismus Okorafors und der Science Fiction ihres Landsmannes Thompson. Wovon aber handelt dessen Roman überhaupt? Zunächst einmal zum Handlungsort. Wie aus dem Umstand ersichtlich ist, dass in unserer Welt nichts von einer Zerstörung des Londoner Hyde Parks durch ein landendes Alien im Jahre 2012 bekannt ist, erzählt der Roman offenbar von einer in einem Paralleluniversum angesiedelte Erde. Er spielt im Jahr 2066, also ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen. Zahlreiche Rückblenden bieten zudem Einblicke in wichtige Stationen des bisherigen Lebens von Kaaro. Denn er ist kein junger Mann mehr, sondern steht bereits in seinen Vierzigern. Führte er früher ein nicht eben schlechtes Leben als Dieb, so bestreitet er seinen Lebensunterhalt inzwischen als Bankangestellter, dessen Aufgabe es ist, betrügerische Hacks zu verhindern, indem er Klassiker der Literatur- und Philosophiegeschichte liest. Das klingt zwar an den Haaren herbeigezogen, doch ist es in der Geschichte durchaus plausibel und hat etwas mit dem „Arbeitsgedächtnis“, sprich dem „Vorderhirn“ der BankkundInnen und der „Xenosphäre“ zu tun, der mit den für das abzuschließende Geschäft, „irrelevanten Worten und Gedanken“ der klassischen Literatur“ eine „Firewall des Wissens“ verpasst wird. Soweit der öffentliche Beruf Kaaros. Insgeheim aber wird er aufgrund seiner Fähigkeit des „Gedankenhörens“ von der staatlichen Geheimorganisation Sektion 45 bei Folterverhören von Gefangenen eingesetzt, deren Martyrien er völlig emotionslos mitansieht und beschreibt.

Es handelt sich also um keine sonderlich sympathische Figur, wie sehr schnell allen klar werden dürfte, die das Buch auch nur flüchtig aufschlagen. Doch damit seine charakterlichen Mängel auch den Dümmsten im Lesepublikum nicht entgehen, bekommt es Auszüge aus seiner Personalakte vor die Nase gehalten, in denen nachgelesen werden kann, dass er „ein Sexist, Materialist, gierig, unverschämt und amoralisch“ ist, „keine längerfristigen Bindungen her[.]stellt“, ja nicht einmal „echte Freunde“ hat und „seine Handlungen automatisiert und leidenschaftslos“ sind. Immerhin macht er sich keine Illusionen über sich selbst und weiß durchaus, dass sein „Moralempfinden grundsätzlich gestört“ ist. Nur einem Straßenhund gegenüber zeigt er menschliche Regungen.  

Kaaro geht seiner Arbeit als Bankangestellter und seiner Tätigkeit als zwangsrekrutierter Mitarbeiter der Sektion 45 in der titelgebende Stadt nach, die sich rund um die riesige Kuppel des Aliens, einem „amöbenartige[n] organische[n] Klumpen“ von der Größe einer Kleinstadt gebildet hat, das von den Menschen Wormwood genannt wird, sich selbst aber treffender als „Space Invider“ bezeichnet. Alljährlich öffnet sich die Kuppel an einer bestimmten Stelle für eine knappe halbe Stunde und sofort finden sich alle Menschen, die sich in der Nähe aufhalten, von ihren Krankheiten und Gebrechen geheilt. Selbst in Toten regt sich Leben. Doch werden sie sogleich wieder erschossen, da sie nicht mehr sie selbst sind, sondern nur „reanimiertes Fleisch“ ohne „Seele“, und ohne jede „Vorstellung von dem, was sie einmal waren“. Was es mit diesen mysteriösen Heilungen auf sich hat, und was das Fremdwesen mit ihnen bezweckt, wird erst gegen Ende des Romans offenbar und ist tatsächlich recht originell ausgedacht.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die bereits erwähnte Xenosphäre, die ebenso wie Kaaros außergewöhnliche Fähigkeit darauf beruht, dass die Erdatmosphäre durch myzelähnliche Fäden oder wie es im Roman heißt, „pilzartige[.] Fasern und Neurotransmitter[.]“ des Aliens durchwoben ist, die EmpfängerInnen wie Kaaro ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten verleihen. Nur einer von ihnen wird das Ende des Romans erleben. Bis dahin bewegen Kaaro und seinesgleichen sich in der Xenosphäre ähnlich wie die Consolen-Cowboys durch den von William Gibson in seinem Cyberpunk-Trilogie Neuromancer erdachten Cyberspace. Dabei geht es in der Xenosphäre gelegentlich ähnlich eklig zu wie in der virtuellen Welt von David Cronenbergs Film eXistenZ.

Neben oder in der Xenosphäre „existiert“ das sogenannte Lijad „zusammen mit Schrödingers Katze in einer Dimension mehrerer nicht zu ermittelnder Wahrscheinlichkeiten“. Das klingt gerade so, als habe da jemand etwas über Schrödingers Gedankenexperiment aufgeschnappt und nicht recht verstanden; mag es nun die Figur sein, der Thompson diese Worte in den Mund gelegt hat, oder der Autor selbst. Die Figur wird es allerdings wohl doch nicht sein, denn die wird als hochintelligent beschrieben. Jedenfalls ist das Lijad ein „potentieller Ort, den verschiedene[.] Räume[.] zwischen unterschiedlichen Hiers bilden“. Aha!

So greift der Roman nicht nur ein uraltes SF-Motive auf, das dem ganzen Geschehen zugrunde liegt, sondern entwickelt mit der Xenosphäre, dem Lijad und den EmpfängerInnen, die eben nicht herkömmliche TelepathInnen sind, wie die SF sie seit mehr als einem halben Jahrhundert kennt, einige originelle Ideen, aus denen allerdings viel zu wenig gemacht wird. Zu lange und zu sehr prägen zu viele Prügeleien, Kämpfe, Verfolgungsjagden und dergleichen das Geschehen, sodass die Geschichte erst auf den letzten 100 Seiten interessanter wird. Auch bleiben seine Figuren – vielleicht abgesehen von Kaaro – ebenso flach wie diejenigen in Cixin Lius allzu sehr gerühmten Roman Die drei Sonnen. Das mag daran liegen, dass sich Thompsons Ich-Erzähler einfach nicht für seine Mitmenschen interessiert. Dem Buch tut das trotzdem nicht gut, denn es trägt dazu bei, dass man sich ebenso wenig für sein Geschick und das seiner Welt zu interessieren vermag.

Dennoch, die letzten Kapitel machen etwas Hoffnung auf eine bessere Fortsetzung der im Englischen bereits abgeschlossenen Wormwood-Trilogie. Allerdings nicht, was die Tiefe der Charaktere betrifft. Nnedi Okorafors afrofuturistischen Werken wie etwa dem Roman Lagune, in dem Aliens vor der Küste von Lagos landen, kann Thompsons SF-Roman jedenfalls nicht das Wasser reichen.

Titelbild

Tade Thompson: Rosewater.
Übersetzt aus dem Englischen von Jakob Schmidt.
Golkonda, Berlin 2020.
450 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783965090101

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