Neue Literatur aus Lateinamerika

Vorbemerkungen zur Juni-Ausgabe 2020

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

„Wir verlieren Lateinamerika“, äußert eine besorgte Michi Strausfeld im Interview mit literaturkritik.de. „Wir verlieren Lateinamerika an die Evangelikalen. Wir verlieren Lateinamerika an die Chinesen.“ Man muss hinzufügen, wir verlieren Lateinamerika auch an die Populisten und, wenn man die beängstigenden Berichte verfolgt, auch an COVID-19, das auf dem Kontinent mit immer größerer Intensität wütet. Es ist fast zynisch, dass es nur solche negativen Nachrichten sind, die den Kontinent wieder in die deutschen bzw. europäischen Nachrichten bringen und das Vergessen ein wenig relativieren. Denn, und damit hat die große Mittlerin Strausfeld recht, Lateinamerika ist vergessen worden, vor allem kulturell. 

Dies war in den 80er Jahren, der Zeit als der Lateinamerika-Boom endgültig Deutschland erreicht hatte, anders. Dutzende von Werken wurden jährlich von den deutschen Verlagen entdeckt, übersetzt und teils auch mit großem Erfolg unter die Leute gebracht. In der Folge der brutalen Militärdiktaturen und der schrittweisen Demokratisierung der verschiedenen Gesellschaften rückte der Kontinent auch politisch ins Zentrum des Interesses: „Nach der Revolution ’79 in Nicaragua ging gefühlt die ganze deutsche Bevölkerung mit Rucksack los und half bei der Ernte. Da gab es eine riesige Solidarität“, so Strausfeld in unserem Interview.

Doch natürlich war das Interesse an der Politik und Gesellschaft Lateinamerikas auch in den 70er und 80er Jahren größtenteils bedingt durch die amerikanischen Stellvertreterkriege und dem Wert, den die amerikanische Außenpolitik dem Einfluss auf verschiedene lateinamerikanische Staaten beimaß. Das katapultierte den Kontinent in die Schlagzeilen und bedingte damit sicherlich auch ein steigendes Interesse an seiner reichhaltigen Kultur und Literatur.

Blickt man in die aktuellen Frühjahrs- und Herbstprogramme der Verlage, bietet sich diesbezüglich ein sehr bescheidenes Bild. Am ehesten scheint noch Mexiko repräsentiert zu sein, oft mit Action-lastigen Romanen, welche die Welt der Narcos porträtieren. Auch argentinische Romane schaffen es noch hin und wieder in die deutschen Lektorate, doch nicht selten sind auch sie eher an einen kriminalistischen Plot gebunden und zeigen nur wenig von der reichhaltigen Literatur, die das Land zu bieten hat. 

Umso wichtiger, dass Meisterwerke wie Fernanda Melchors Saison der Wirbelstürme, das bei Wagenbach verlegt wurde, oder die wunderbaren Romane Alejandro Zambras, die bei Suhrkamp erscheinen, Leser*innen in Deutschland erreichen. Auch aus diesem Grund haben wir mit Wagenbach-Lektor Linus Guggenberger als auch mit eben jenem Alejandro Zambra gesprochen, einem der wichtigsten Autoren der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur, der uns einen sehr intimen Einblick in seine Gedankenwelt gegeben hat. Auch ein Gespräch mit dem brasilianischen Schriftsteller und Diplomaten Alexandre Vidal Porto über die Entwicklungen in seinem Heimatland offenbart interessante Sichtweisen auf den lateinamerikanischen Kontinent.

Wir als Redaktion wünschen uns, dass dieser Schwerpunkt für unsere Leser*innen zur Inspiration wird, sich wieder intensiver mit der lateinamerikanischen Literatur zu beschäftigen und Autor*innen dieser so facettenreichen Region für sich zu entdecken. Es wäre nur gerecht, wenn dieser gebeutelte Kontinent auch wieder positive Schlagzeilen schriebe. Grund dazu gibt es allemal. 

 

Sascha Seiler für die Redaktion