Eine selbstkritische Lektüre der Wirklichkeit

Der chilenische Schriftsteller Alejandro Zambra über seine Liebe zum Schreiben, Leben und Literatur in Lateinamerika und die Bedrohung der Gesellschaft durch Covid-19

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Alejandro Zambra gilt als einer der größten Autoren der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur. Er wurde 1975 in Santiago de Chile geboren und veröffentlichte zunächst Gedichtbände. Mit seinen Romanen Bonsai (2006) und La vida privada de los árboles (2007) sorgte er für Aufsehen. 2011 gelang ihm mit Formas de volver a casa (2011, dt.: Die Erfindung der Kindheit) einer der entscheidenden Romane über die Verarbeitung der chilenischen Militärdiktatur. Sein experimenteller Prosatext Facsímil (2015, dt.: Multiple Choice) erzählt diese Geschichte ein weiteres Mal – in Form von Fragebögen, wie man sie auch noch lange Zeit nach der Diktatur in Chile zur Eignungsprüfung für die Universität ausfüllen musste. Sein neuester Roman Poeta chileno (2020) erschien gerade bei Anagrama. 

In Zambras Texte sticht seine poetische Sprache heraus, die getränkt ist von Melancholie, gleichsam aber gnadenlos die chilenische Gesellschaft seziert. Seine Romane sind stets Formexpermient und leicht lesbare Prosa gleichzeitig; seine Themen die Erinnerung, die Kindheit, die lateinamerikanische Gesellschaft als auch immer wieder, wie beim großen chilenischen Dichter der letzten Jahrzehnte, Roberto Bolano, die Literatur.

 

Warum haben Sie sich dazu entschieden, Schriftsteller zu werden? Begonnen haben Sie ja als Lyriker bevor Sie angefangen haben, bevorzugt Romane zu schreiben…

Ich weiß nicht, ob ich das als „Entscheidung“ bezeichnen würde. Ich bin in einem Haus ohne Bücher aufgewachsen, aber meine Großmutter mütterlicherseits sagte immer zu all ihren Enkeln, dass wir schreiben sollten, dass wir uns ausdrücken sollten, dass wir Tagebücher über unser Leben führen sollten. Ich habe sie niemals mit einem Buch in der Hand gesehen, aber auch sie hat geschrieben und ich denke davon, dass ich sie so oft nachgeahmt habe, ist das Schreiben irgendwann zur Gewohnheit geworden. Und das bleibt es für mich auch: keine Absicht, sondern eine Gewohnheit. Und viel später, als ich etwa 25 Jahre alt war, habe ich mich an diese Gewohnheit geklammert.

Ich habe auch andere Dinge ausprobiert, die ich möglicherweise machen wollte, andere Dinge, die ich auch sein wollte, aber es ist mir nicht geglückt. Vermutlich bin ich Schriftsteller geworden, weil ich in allem anderen gescheitert bin… vor allem in der Lyrik. Mit 20 erschien mir das Dasein als Romanschriftsteller ein sehr sesshaftes und alleine die Vorstellung, einen ganzen Roman zu verfassen verursachte bei mir schon einen mächtigen vorgezogenen Hexenschuss. Heute weiß ich, dass ich mich nicht getäuscht habe, wobei ich damit umgehe, indem ich bisweilen im Stehen schreibe. Wie dem auch sei: Ich war ein Romanleser, ich las aber nur die großen Klassiker, ich traute mich nicht an die Gegenwartsliteratur heran. Das hatte nichts mit Vorurteilen zu tun; vielmehr gab es soviel, was man lesen konnte, dass es mir albern erschien, einen aktuellen Roman in einer Buchhandlung zu kaufen, wenn auf meiner Liste noch Molloy oder das Gesamtwerk Robert Walsers stand.

Meine Einstellung der Lyrik gegenüber war jedoch eine völlig andere: Ich wollte alles lesen, vor allem die chilenische Dichtung und hierbei primär die meiner Altersgenossen. Mir war dieses Gruppengefühl unheimlich wichtig, die langen, biertrunkenen Gespräche mit meinen Freunden, die Verlockungen einer kollektiven Suche, die ebenso wunderschön wie ungenau war. Letztlich denke ich, dass ich schon immer besser darin war, Geschichten zu erzählen als Gedichte zu schreiben, aber ich strebte die Lyrik an, das war für mich klar. Mit meinem ersten Roman Bonsai änderte sich alles; in meinem Kopf entstand das Buch als Gedichtband, aber er ist mir nicht geglückt und am Ende entschied ich mich dafür, die Geschichte dieses Scheiterns zu erzählen, um ihn zu überkommen, diesen buchgewordenen Wunsch.

Ist also Ihr neuester Roman Poeta chileno („Chilenischer Dichter“) mehr als nur ein wenig autobiographisch?

Es ist ja immer eine Mixtur, wobei ich keinem der beiden Protagonisten gleiche, oder vielleicht gleiche ich auch beiden. Gonzalo kommt mir vor wie ich, wenn ich nicht angefangen hätte zu schreiben, wobei, wenn man darüber nachdenkt, Gonzalo in diesem Fall gar nicht existieren würde. Nun, und Vicente, die andere Hauptfigur, ist zielstrebiger und hat einen intensiveren Charakter, also gleicht er mir in dieser Beziehung eher; er ist ein Suchender, einer, der Entscheidungen treffen kann. Aber wem ich am ehesten gleiche, ist dem Erzähler. Der Ton, in dem das Buch geschrieben ist, ist sehr nah an meiner eigenen Art zu reden oder eben zu erzählen. Das war für mich tatsächlich ein Kriterium beim Schreiben des Romans: Erzähle ihn, als würdest du ihn in einer geselligen Runde nach dem Essen erzählen. Tatsächlich gibt es in diesem Buch viel mehr Dialoge als in all meinen anderen Romanen. Der Erzähler wird also mehr zu einer Art Dramaturg, wenn man das so sagen kann.

Es ist auch Ihr erstes dickes Buch. Das finde ich sehr interessant, denn bisher haben Sie ein ums andere Mal bewiesen, ein Meister des experimentellen Kurzromans zu sein. Poeta Chileno lässt sich Zeit und ist auch deutlich konventioneller.

Ja, dass der Roman sehr lang geworden ist, fiel mir auch schon auf. So hat er sich eben entwickelt. Ich liebe ja diese Augenblicke, wenn die Figuren wie Fremde sind, deren Stimmern du immer weiter lauschen möchtest, und dann bleibt dir nichts anderes übrig als immer wieder neue Sätze zu erfinden, die sie sprechen können. Es ist wie einem Freund immer wieder das Glas zu füllen, weil du nicht willst, dass er nach Hause geht. Da steckt sehr viel Freude drin.

Ich hatte aber schon früh das Gefühl, dass es ein langer Roman werden würde, auch, dass mein ‚romanartigstes‘ Buch dabei rauskommen würde. Das liegt daran, dass am Anfang einfach eine ganz große narrative Liebesbeziehung stand, also eine Lust am Erzählen, eine mächtige Freude an der Unterhaltung. Und irgendwann empfand ich den Roman auch als Verbindungsstück von zwei kurzen Romanen, oder viel eher von zwei Figuren, die in diesem rutschigen Terrain der chilenischen Poesie aufeinandertreffen, in dieser gleichzeitig wütenden wie solidarischen Gemeinschaft, ja, in dieser letztlich langlebigeren Familie, die sich als viel gefestigter herausstellte, als sie es am Anfang zu sein schien.

Ihr Roman Die Erfindung der Kindheit (Formas de volver a casa; eigentlich: Arten, nach Hause zu kommen), der meiner Meinung nach einer der größten Texte der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur ist, vermischt konsequent das Persönliche mit dem Politischen. Dabei muss der Leser immer im Hinterkopf haben, dass der Erzähler einer Generation entstammt, welche Sie im Roman als eine Generation der ‚Nebenfiguren‘ bezeichnen. Das heißt: Der Dichter, der über das Chile der 80er Jahre und der Pinochet-Diktatur berichtet, hat den „Makel“, niemals eine aktiv handelnde Person in jener für die chilenische Geschichte einschneidenden Zeit gewesen zu sein. Kann nun dieser Makel nur mit Hilfe des Schreibens, der Literatur, beseitigt werden?

Mich hat interessiert, in diese Perspektive einzutauchen, also in die ‚illegitime‘ Perspektive der Kinder, die wir den Putsch von 1973 nicht miterlebt haben und aus diesem Grund aus dem Diskurs ausgeklammert wurden; oder zumindest wollten sie uns das glauben lassen. Und ja, genau so fühlten wir uns manchmal auch, ausgeschlossen. Egal ob wir Kinder aus rechten, linken oder aus vorgeblich neutralen Familien waren, es kam immer dieser Augenblick, in dem jene Worte fielen: „Du warst doch damals noch gar nicht geboren, du verstehst das nicht, du kannst dir dazu keine Meinung bilden.“ Mich hat interessiert, wie wir mit diesem Druck umgegangen sind.

Als Kind war es sehr schwer zu deuten, ob Erwachsene immer so waren, ob Erwachsensein bedeutete, dass man ein stiller, strenger, bescheidener, autoritärer Mensch war. Als ich dann älter war, wurde mir bewusst, dass dies eher der Zustand eines ‚Erwachsenen-in-der-Diktatur‘ war. Die Grenze zwischen dem Schweigen und dem zum Schweigen bringen. Erwachsene erschienen mir als langweilig, das auf jeden Fall, bis auf wenige Ausnahmen. Du fühltest regelrecht die Traurigkeit des Alltags, du hast gespürt, dass etwas sehr Schlimmes passierte, aber du dachtest, so ist eben das Leben, es passiert immer etwas Schlimmes.

Irgendwie war das große Thema meiner Generation dieses Schwanken zwischen dem ‚Ich‘ und dem ‚Wir‘. Ein legitimes ‚Wir‘ aufzubauen, das nicht demagogisch ist, und gleichzeitig das ‚Ich‘ zu stärken und es nicht zu negieren. Im Alter von 20 Jahren vermied ich immer die Erste Person Singular, dabei war es die Zeit, als ich am frenetischsten ‚Ich‘ hätte sagen wollen, aber ich habe das in mir verborgen, ich zog es vor, ein Gesicht in der Menge sein. Aber dieses ‚Wir‘, diese Masse, war eher eine Art, sich zu verstecken als eine Teilhabe an der Welt. Ich glaube auch nicht, dass dieses Problem etwas ist, dass sich so leicht auflösen wird, aber es ist etwas, an dem wir permanent arbeiten: Gemeinschaft aufbauen, tatsächlich die Orte, an denen wir uns aufhalten, bewohnen.

Ich bin den Generationenerzählungen gegenüber immer misstrauisch gewesen, weil sie sehr verallgemeinernd sind, aber letztlich habe ich dann doch einen Roman über meine Generation geschrieben, oder vielleicht auch über die Unmöglichkeit der Generationenerzählung. Wobei ich allerdings anmerken muss, dass meine Vorgängerromane Bonsai und La vida privada de los àrboles auch Geschichten über meine Generation sind, denn so sind wir doch aufgewachsen: Wie Bäume, die dazu gezwungen sind, in irgendeine bestimmte Richtung zu wachsen, betäubt, mit Wunden am Stamm und an den Ästen. Die Erfindung der Kindheit war ein Buch, das ich seit vielen Jahren schreiben wollte, obwohl es mehr als ein ‚Buch über die Diktatur‘ für mich ein Buch über meine Herkunft, ein Buch über bestimmte Orte in Santiago de Chile ist. Ein Buch über Eltern und Kinder, über den Prozess der Konfrontation wenn wir nach irgendeinem Sinn in der Vergangenheit suchen. Ein Buch über die Kindheit, vor allem, da für mich Diktatur und Kindheit immer zusammengefallen sind, ich kann nicht von dem einen reden, ohne das andere zu erwähnen.

Multiple Choice, das im letzten Jahr ins Deutsche übertragen wurde, ist ein sehr experimenteller Roman. Aber auch hier gelingt es Ihnen, einen Roman über eine Generation zu schreiben – obwohl der Text ausschließlich aus Fragebögen besteht. War es schwer, einen solchen Roman zu schreiben und Ihren Verleger zu überzeugen, ihn auch zu drucken?

Die Verleger zu überzeugen war nicht schwer, denn die ersten Verleger waren Chilenen und somit Komplizen bei der Konzeption des Buches. Überrascht, und auch beeindruckt hat mich eher, dass es in anderen Ländern und Sprachen publiziert wurde, denn ich hielt es für ein sehr lokales Buch. Aber klar, da ist immer dieses Spannungsverhältnis mit dem Standardisierten, dem global Rezipierbaren, wir leben schließlich in einer erschreckenden Logik des ständigen Wettbewerbs.

Ich schrieb an einer Art langer Erzählung, oder einem Roman, über jenes Jahr 1993, in dem ich meine Eignungsprüfung abgelegt habe. Mir hat aber nicht gefallen, was ich da schrieb. Eines Tages begann ich damit, Aufgaben zu parodieren, ich spielte einfach ein bisschen herum, und das Feld wurde immer weiter. Das ist ein wenig so, wie wenn man Porträtaufnahmen mit Schnurrbärten verziert, aber gleichzeitig auch, wie sich selbst Blutergüsse am Auge zuzufügen. Ich verbrachte dann Monate damit, Aufgaben zu ersinnen, Parodien der echten Aufgaben, dann schließlich auch noch Parodien meiner eigenen Parodien. Ein Freund sagte zu mir, dass sie ihm gefallen würden, weil es ihm vorkam, als ob der Verfasser der Aufgaben verrückt geworden sei.

Natürlich wurden diese Aufgaben immer von vielen Menschen ersonnen, aber damals dachten wir wirklich, es gebe nur einen Autor, der dahintersteckt, so eine Art Gott-Diktator-Autor in Personalunion, der alle richtigen Antworten kannte und sie vor Dir verbarg. In der Prüfung war nur ein Weg vorgezeichnet, also eine Form, den Diskurs zu ordnen, ein richtiger Weg. Eine Sprache, die festgefroren war in festgelegten Wortbedeutungen. Eine einzige korrekte Lektüre. Und wir haben dieses Spiel mitgespielt. Denn manchmal wünschst du dir, dass es nur eine Antwort gibt. Dass alles definiert, fixiert, jeglicher Zweifel beseitigt werden kann. Dass es ebenso endgültige wie unfehlbare Formeln gibt, um zu definieren, was ‚Heimat‘ bedeutet, was Familie, Liebe, Vaterschaft bedeutet.

Sie leben derzeit in Mexiko. Wie kann man das Leben dort mit dem in Chile vergleichen. Und warum sind Sie nicht nach Europa gezogen, wie viele Ihrer Schriftstellerkollegen es immer wieder tun?

Ich lebe in Mexiko, weil ich mich in eine Mexikanerin verliebt habe und wir uns vor drei Jahren dazu entschlossen haben, dort zu wohnen. Wir haben einen wunderschönen zweijährigen Sohn. Es gibt also keinen ‚professionellen‘ Grund dafür, in Mexiko zu leben, es sind eher emotionale Gründe. Länder zu vergleichen ist genauso absurd wie unvermeidbar, und die Ergebnisse sind stets ungerecht oder provisorisch. Ich denke viel in Akzenten und Rythmen, sie rauben mir den Schlaf, das ist vor allem, seit mein Sohn angefangen hat zu reden, richtig schlimm. (Nebenbei: Er redet ziemlich viel, genau wie ich, ich rede auch sehr viel).

Eine Zeit lang habe ich ihm vorgetäuscht, dass wir in Chile leben würden, ich liebte es einfach, wenn er dann sagte, dass wir in Chile leben. Aber letztlich redet mein Sohn wie ein Mexikaner, und ich würde gerne reden wie er, ohne aufzuhören, wie ein Chilene zu sprechen. Das ist ein schönes Problem, ich liebe es, ein solches Problem zu haben, auch noch im Alter von 44 Jahren denke ich deswegen den ganzen Tag, an Worte, an Beiklänge, an Nuancen und Details.

Wie würden Sie die zeitgenössische Literatur in Chile beschreiben? Gibt es dominante Themen?

Ich glaube nicht an einen thematischen Zugang an die Literatur. Ich weiß es nicht. Ich bin kein Spezialist für chilenische Gegenwartsliteratur. Ich bin weder Kritiker, noch Professor, noch Journalist. Ich glaube, es gibt eine sehr wirkungsmächtige Literatur mit lauter interessanten Autoren, die das machen, was sie machen wollen, weil sie nicht anders können, nicht weil der Markt es ihnen diktiert. Ich beschwere mich gern über alles, aber nicht über die Gesundheit der Literatur. Es ist eine Zeit des Brodelns, der Beklemmung, der grausamen Unsicherheit, aber was uns nicht fehlt, sind die guten Bücher.

Die Corona-Pandemie betrifft derzeit vor allem Lateinamerika. Haben Sie Angst, was mit Chile und auch mit der Demokratie in ganz Lateinamerika passieren könnte? Sehen Sie auch politische Folgen dieser humanitären Katastrophe?

Wir haben die Pandemie mit der gleichen Beklemmung, Angst und Hilflosigkeit erlebt wie alle anderen auch. Unser Sohn vermisst die Spaziergänge im Wald von Chapultepec, aber es geht ihm gut, denn er ging eh nicht gerne in die Schule und jetzt hat er uns und seine Großmutter, die nebenan wohnt, den ganzen Tag zur Verfügung. Manchmal streiten wir uns sogar um die Zeit mit ihm, weil wir mit ihm soviel Spaß haben. Und die Tätigkeit jedem Kuscheltier eine andere Stimme zu verpassen, lenkt mich ganz gut von dem ab, was tatsächlich da draußen passiert. Die andere Hälfte des Tages hingegen, wenn ich vor dem Computer sitze, ist umso beängstigender und manchmal mache ich nichts anderes, als mir die schreckliche Zukunft vorzustellen, die uns laut den Pessimisten und erschreckenderweise auch laut einem großen Teil der Optimisten, bevorsteht.

Das Virus kam etwas früher nach Chile als nach Mexiko, sodass ich das vielleicht falsche, gleichzeitig deutliche Gefühl habe, alles zwei mal, auf zwei verschiedenen Levels, erlebt zu haben. Ich denke viel an meine Eltern, an mein Land und an meine Freunde, und manchmal lasse ich mich von dem Gedanken treiben, warum die Pandemie gerade in Chile so heftig um sich greifen muss. Nach der sozialen Explosion und der hoffnungsvollen Besetzung der Straßen im Oktober befinden wir uns plötzlich in einem ganz anderen Kampf. Und den müssen wir jetzt gemeinsam mit denselben Autoritäten führen, die für so viele der Verbrechen verantwortlich sind, wegen der die Menschen auf die Strasse gegangen sind und denen niemand mehr über den Weg traut.

Und natürlich wird das Virus alle nur denkbaren Konsequenzen nach sich ziehen. Ich sehe Covid-19 wie die eben erwähnten Unruhen vom letzten Oktober, die aus den Ungerechtigkeiten erwachsen sind, die im Land vor sich gehen. Ich lebe ja nicht mehr dort, aber mein Eindruck ist, dass in Chile das Kollektiv wieder auf dem Vormarsch ist, die Solidarität, der Wunsch, zu reden, mitzumachen, sich zu vereinigen, zu diskutieren, anderer Meinung zu sein. Gerade deswegen ist der Lockdown doppelt bitter, diese enorme soziale Ungleichheit, die zu den Unruhen im Oktober geführt hat, wird durch die Pandemie nur noch schlimmer werden. Die Verfassung, nach der Chile regiert wird, stammt immer noch von Pinochet, und das erste was man machen sollte, ist, sie endlich auf den Müll zu werfen, und einen neuen Text, eine neue Melodie zu erfinden, die legitim, kollektiv ist. Sich zu einigen wird nicht einfach sein, aber ich sehe viele Menschen, die bereit sind alles zu riskieren.

Letzte Frage: Glauben Sie, dass ein Schriftsteller eine aktive Rolle in einer Situation einnehmen kann, die jeden Tag chaotischer wird?

Ich denke, alleine Bücher zu schreiben und zu publizieren, ist eine aktive Rolle. Ich würde niemals einem Schriftsteller sagen, was er zu tun oder zu lassen hat. Natürlich sind wir alle zur kritischen wie auch selbstkritischen Lektüre der Wirklichkeit verpflichtet und das ist eine sehr wertvolle Sache. Es ist schwer geworden, die Welt zu lesen, sie war es ja eigentlich schon immer, aber heutzutage ist diese Komplexität sichtbarer, deswegen wählen die Leute dann irgendeinen Schwachkopf wie Trump oder Bolsonaro, der von sich behauptet, über alle Lösungen zu verfügen.

Mich interessiert, was in den kleinen Gemeinschaften passiert, die gemeinsame Antworten suchen. Es sind Gemeinschaften, die danach streben, zu wachsen, die aber gleichzeitig immer mit dem Risiko behaftet sind, zu exklusiven, unzugänglichen Clubs zu werden. Wir lernen eine Metasprache und wir sprechen sie und es macht Spaß, sie zu sprechen und sich als Teil eines Ganzen zu fühlen, aber manchmal ist es auch notwendig, diese wieder zu verlernen. Es erscheint mir wichtig, dass die Schriftsteller an irgendeine Gemeinschaft angebunden sind, welcher Art auch immer: das Viertel, in dem sie wohnen, die Stadt, das Land oder der Kontinent.

 

Aus dem Spanischen übersetzt von Sascha Seiler.