Literarischer Superstar und scharfer Sozialkritiker

Eine Betrachtung zum 150. Todestag von Charles Dickens

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Ob Oliver Twist, Nicholas Nickleby, David Copperfield oder Ebenezer Scrooge – seine Romanfiguren sind unsterblich, seine Werke sind zu unvergessenen Klassikern geworden. Charles Dickens war der wohl meistgelesene Autor seiner Zeit. Von seinen Zeitgenossen wurde er verehrt, ja geliebt. Jenes „merry old England“ war damals regelrecht im Dickens-Taumel. Aber auch in Europa und Amerika hatte er eine treue Leserschaft. Da seine Erzählungen und Romane stets vor der Buchform in monatlichen Romanheften erschienen, fieberten die LeserInnen regelrecht jeder neuen Fortsetzung entgegen. Die einzelnen Hefte waren versehen mit Illustrationen erstrangiger Künstler und zu einem erschwinglichen Preis erhältlich, was Dickens Zugang zu breiten Käuferschichten verschaffte. Dieser Modus der Fortsetzungsdrucke, eine gängige Praxis der damaligen Zeit, gab ihm außerdem die Möglichkeit, nach jeder Nummer auf die Reaktion der Kritiker und den Geschmack seines Lesepublikums zu reagieren und so den Fortgang der Geschichte darauf abzustimmen. Er hatte auch keine Bedenken, einfach Figuren aus der Handlung verschwinden zu lassen oder neue Charaktere einzuführen. Man mag an heutige Einschaltquoten oder Zuschauervoting denken.

Dickens war nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller, er war (wie wir heute sagen würden) ein Entertainer und Improvisator, ein literarischer Superstar, der den Fortsetzungsroman zu einer wichtigen Publikationsform machte. Sein literarischer Erfolg, verbunden mit einem gesellschaftlichen Aufstieg, hinderte ihn jedoch nicht daran, Missstände in der Gesellschaft scharf zu kritisieren. Ob Kinderarbeit, Manchester-Kapitalismus, Korruption, Ungleichheit vor Gericht oder die grauenvollen Zustände in den Gefängnissen – das Aufzeigen sozialer und gesellschaftlicher Zustände ist in vielen seiner Werke ein Leitthema. Eine politische Dimension zur Gesellschaftsveränderung findet sich jedoch nicht in seinen Werken.

Bedingt durch die ärmlichen Verhältnisse und des kleinbürgerlichen Milieus seines Elternhauses, war ihm der Erfolg nicht in die Wiege gelegt. Charles (John Huffam) Dickens wurde am 7. Februar 1812 als zweites von acht Kindern in Landport bei Portsmouth, einem Seehafen an der englischen Südküste, geboren. Der Vater, John Dickens, war Marinezahlmeister; die Mutter Elizabeth stammte aus einer wohlhabenden Familie von Musikinstrumentenbauern. 1817 wurde der Vater an die Regierungswerft in Chatham versetzt. Hier besuchte der kleine Charles die Schule. Die Jahre in dem idyllischen Chatham waren eine glückliche, ungetrübte, aber kurze Kindheit, denn 1822 wurde der Vater nach London berufen. wo Dort konnte er die große Familie von seinem kleinen Gehalt nicht ernähren und musste in der Folge für zwei Jahre ins Schuldgefängnis. Somit war Charles früh gezwungen mitzuverdienen statt in die Schule zu gehen – als Hilfsarbeiter in einer Fabrik für Schuhwichse.

Nach der Entlassung des Vaters besuchte der Junge die Privatschule Wellington House Academy, die er wegen der familiären Geldnot aber wieder verlassen musste. Er wurde Schreiber in verschiedenen Londoner Anwaltsbüros und erwarb sich dabei Kenntnisse des englischen Rechtswesens. Nebenbei betrieb er Studien zur Literatur und zum englischen Volksleben im British Museum und lernte stenographieren. Damit konnte er als freiberuflicher Parlamentsberichterstatter für mehrere Zeitungen sein Brot verdienen.

Neben der erfolgreichen journalistischen Tätigkeit war das Theater Dickens‘ zweite Leidenschaft. Eine sicherlich vorhandene Schauspielerbegabung stachelte seinen Ehrgeiz an. Einen Vorsprechtermin an einer Londoner Bühne machte jedoch eine plötzliche Erkältung zunichte – ein Glück für die englische Literatur. Mehr Erfolg hatte Dickens mit ersten Prosaskizzen, die er neben den Parlamentsreportagen in Zeitungen unterbringen konnte. Seine erste Erzählung A Dinner at Poplar Walk (dt. Ein Dinner in Poplar Walk) wurde im Herbst 1833 vom Monthly Magazin veröffentlicht. Fast im Monatstakt lieferte er weitere Skizzen, auch für die Tageszeitung Morning Chronicle – zunächst noch anonym und dann unter dem Pseudonym „Boz“. Der Durchbruch gelang ihm schließlich, als 1835 im neu gegründeten Evening Chronicle eine Serie seiner Skizzen erschien. Die literarischen Genrebilder (sketches), in denen er die Alltagswelt der Londoner beschrieb, machten ihn in Windeseile berühmt – „Boz“ war in aller Munde. 1836 fasste Dickens seine bisher erschienenen Skizzen zusammen und gab sie als zweibändige Ausgabe Sketches by Boz (dt. Skizzen von Boz) mit Illustrationen von George Cruikshank heraus.

Den sensationellen Erfolg ausnutzend machte er sich unverzüglich an die Arbeit für den Fortsetzungsroman The Pickwick, der zunächst als Begleittext zu den Zeichnungen des berühmten Illustrators Robert Seymour gedacht war. Nach dem Selbstmord von Seymour setzte Dickens jedoch die Geschichte fort und übernahm das Projekt, unterstützt von neuen Zeichnern. Hauptperson des Romans ist der exzentrische Mr. Samuel Pickwick, ein wohlhabender und freundlicher älterer Gentleman, Gründer und Präsident des nach ihm benannten Pickwick Clubs, der als Privatgelehrter die merkwürdigen und kuriosen Erscheinungen des menschlichen Lebens erforscht. Bei seinen ausgedehnten Ausflügen über Land wird er von skurrilen Gestalten begleitet. Auf einer Reise lernt der weltfremde Pickwick den Schuhputzer Samuel Weller kennen, der ihn fortan als Diener begleitet – eine Beziehung nach dem Vorbild Don Quixotes und Sancho Panzas. Wie bei Cervantes ist der pfiffige Helfer seinem Herrn an Weltklugheit weit überlegen. Dieser findige Samuel Weller sollte eine der berühmtesten Figuren von Dickens werden, mit seiner Einführung stieg die Auflage innerhalb weniger Monate von 400 auf sensationelle 40.000 Exemplare. Auch in späteren Werken setzte Dickens immer wieder skurrile und schrullige Nebenfiguren ein, die durch ihre Komik bei den Lesern besonders gut ankamen.

Der Erfolg von The Pickwick, der auf der humorvollen Darstellung des Allzumenschlichen beruhte, ist für damalige Verhältnisse beispiellos – quasi einer der ersten Bestseller der Literaturgeschichte. Jede Folge wurde begierig erwartet und steigerte Dickens‘ Ruhm weiter. Bereits während der letzten Folgen arbeitete er an den ersten Fortsetzungen seines nächsten Romans Oliver Twist, or, The Parish Boy’s Progress (dt. Oliver Twist oder Der Weg eines Fürsorgezöglings), der 1837/38 erschien. Im Gegensatz zu der humorvollen Geschichte der Pickwickier spielt Oliver Twist im Armeleute- und Verbrechermilieu und schildert die unmenschlichen Zustände in einem Armenhaus – erzählt anhand der Leidensgeschichte eines Waisenknaben, der ungewollt Mitglied einer Bande jugendlicher Taschendiebe und am glücklichen Ende von einem Freund seines verstorbenen Vaters adoptiert wird.

Oliver blieb eine Woche lang in einer dunklen, einsamen Kammer eingesperrt. Er weinte den ganzen Tag über bitterlich. Wenn dann die lange, traurige Nacht kam, legte er seine Händchen auf die Augen, um nicht ins Dunkel starren zu müssen, kroch in eine Ecke und versuchte zu schlafen. Alle Augenblicke aber fuhr er aus seinem Schlaf auf und drückte sich dann dichter an die Mauer, als ob er sich selbst in ihrer kalten, harten Fläche einen Schutz gegen die ihn umgebende Finsternis verspräche. 

Obwohl Dickens mit seinen schonungslosen Beschreibungen bewusst Sozialkritik am Wohlfahrtssystem Großbritanniens zur Zeit der frühen industriellen Revolution übt, ist Oliver Twist ebenso ein moralisches Lehrstück und modernes Märchen. So ist die Titelfigur wegen seiner Herkunft aus der Oberschicht und seiner Wohlerzogenheit wenig überzeugend.

Dickens hatte im April 1836 Catherine Hogarth, Tochter des Journalisten George Hogarth, geheiratet und im Januar 1837 wurde der erste Sohn geboren. Mit 25 Jahren war er jedoch auf der schriftstellerischen Erfolgsspur, sodass für Familien- und Vaterfreuden wenig Zeit blieb. Nach Oliver Twist stürzte sich Dickens mit Eifer in die Arbeit an einem neuen Roman, The Life and Adventures of Nicholas Nickleby (1838/39, dt. Nicholas Nickleby), in dem er ebenfalls die sozialen Missstände anprangert. Die grausamen Methoden und Misshandlungen von Kindern in Privatschulen gaben den Anlass, sich schonungslos mit dem Erziehungswesen seiner Zeit auseinanderzusetzen.

Mit seinem nächsten Roman Barnaby Rudge (1840/41) wendet sich Dickens einem historischen Thema zu, den Gordon Riots, die als blutige Unruhen von 1780 in die Londoner Geschichte eingegangen sind. In The Old Curiosity Shop (1840/41, dt. Der Raritätenladen) schuf Dickens mit der vierzehnjährigen Nelly wieder eine Figur, die die Leser in ihr Herz schlossen. Die Waise lebt mit ihrem Großvater, dem alten Mr. Trent, zusammen, der in London eine Art Trödelladen betreibt. Durch die Machenschaften eines unerbittlichen Wuchers, bei dem der spielsüchtige Großvater hohe Schulden angehäuft hat, müssen die beiden aus London fliehen. Mittellos irren sie durch das Land und Nelly muss schon früh erwachsen werden.

1842 unternahm Dickens mit seiner Frau eine fünfmonatige Amerikareise und durchquerte dabei das Land von Boston bis St. Louis. Zunächst hegte er hohe Erwartungen, jenseits des Atlantiks eine neue Welt der Freiheit und Demokratie vorzufinden, doch seine anfängliche Begeisterung kühlte nach der Konfrontation mit Sklaverei und Rassismus sehr schnell ab. Land und Leute entsprachen keineswegs dem idealistischen Bild, das er aus Europa mitgebracht hatte. Bei seinen Gastgebern brachte er wiederholt das lasche amerikanische Urheberrecht zu Sprache; gingen ihm doch durch Raubdrucke seiner Werke beträchtliche Einnahmen verloren.

Dickens ging es jedoch nicht nur um entgangene Honorare, sondern auch um sein persönliches Recht an seinem Werk. Schon bald nach seiner Rückkehr macht er sich an den Reisebericht American Notes (dt. Aufzeichnungen aus Amerika 1842), der ein Jahr später erscheint. Neben persönlichen Impressionen und Reiseeindrücken verschwieg er seine enttäuschten Erwartungen nicht. Die überwiegend unerquicklichen Amerika-Erfahrungen verarbeitet Dickens auch in seinem nächsten Roman Martin Chuzzlewit (1843/44, dt. Leben und Abenteuer des Martin Chuzzlewit). Mit der bitteren Satire über den Dünkel und die Profitgier der Amerikaner machte er sich jedoch bei der amerikanischen Kritik sehr unbeliebt. Auch in England fand der figurenreiche Roman nur wenig Zuspruch.

Mit A Christmas Carol in Prose (1843, dt. Ein Weihnachtslied in Prosa, oder einfach Eine Weihnachtsgeschichte) fand Dickens wieder in die Erfolgsspur zurück. Mittelpunkt der Erzählung, die zu den beliebtesten Werken des Autors gehört, ist der reiche und hartherzige Geschäftsmann und Geldverleiher Ebenezer Scrooge, die Personifizierung des Geizes und der Herzenskälte.

Oh, er war ein wahrer Blutsauger, dieser Scrooge! Ein gieriger, zusammenkratzender, festhaltender, geiziger alter Sünder: hart und scharf wie ein Kiesel, aus dem noch kein Stahl einen warmen Funken geschlagen hat, verschlossen und selbstgenügsam und ganz für sich, wie eine Auster. Die Kälte in seinem Herzen machte seine alten Gesichtszüge starr, seine spitze Nase noch spitzer, sein Gesicht runzlig, seinen Gang steif, seine Augen rot, seine dünnen Lippen blau, und sie klang aus seiner krächzenden Stimme heraus.

Scrooge hält Weihnachten für Humbug; nach gespenstischen Albträumen wird er jedoch am Heiligen Abend zum Wohltäter. Dickens‘ Botschaft war die der Nächstenliebe und der sozialen Zusammengehörigkeit aller Menschen. Insgesamt fünf Erzählungen veröffentlichte er zwischen 1843 und 1848 (außer 1847) als separat erscheinende Weihnachtsbücher. A Christmas Carol in Prose ist nicht nur die bekannteste, sondern auch die beste. Der Klassiker der Kinder-und Jugendliteratur wurde mehrfach verfilmt und ist stets fester Bestandteil des Fernsehprogramms zu den Weihnachtsfeiertagen.

Von Juli 1844 bis Juni 1845 unternahm Dickens mit der Familie eine ausgedehnte Europa-Reise, u.a. mit Stationen in Paris, Lyon, Marseille, Genua und Rom. Seine Eindrücke verarbeitete er in dem Reisebericht Pictures from Italy (1846, dt. Bilder aus Italien). Mit dem Roman Dombey and Son (1848, dt. Dombey und Sohn) beginnt kurz darauf die mittlere Schaffensperiode von Dickens, deren Werke sich durch mehr Realismus und eine größere Geschlossenheit der Handlung auszeichnen. Außerdem sind sie von scharfer Gesellschaftskritik geprägt. Mit der Figur des autoritären Londoner Geschäftsmannes Paul Dombey prangert Dickens z.B. die rücksichtslose Geldgier seiner Zeit an.

Hauptwerk dieser Schaffensperiode ist der Roman David Copperfield (1850), der als exemplarisches Beispiel für den viktorianischen Bildungsroman angesehen wird. Beschrieben wird das Leben des heranwachsenden Protagonisten aus einer retrospektiven Sicht. Viele Elemente und Beziehungen folgen Ereignissen aus Dickens‘ eigenem Leben; David Copperfield gilt daher als der am stärksten autobiographisch geprägte Roman seines Gesamtwerkes. Neben persönlichen Konflikten werden auch das zeitgenössische Leben und die gesellschaftlichen Widersprüche beleuchtet.

Die Umgebung war zu jener Zeit höchst öde, – so unheimlich, traurig und einsam bei Nacht wie irgendeine um London herum. Weder Werften noch Häuser lagen auf dem unheimlich wüsten Weg in der Nähe des großen Gefängnisses. Ein schmutziger Graben lief an der Mauer entlang, schilfartiges Gras und Unkraut überwucherten das sumpfige Land in der Nähe. Auf einer Seite zerfallene Häuserleichen, die, unter ungünstigen Verhältnissen begonnen, nie zu Ende gebaut worden waren, dann wieder der Boden bedeckt mit verrosteten eisernen Ungeheuern von Dampfkesseln, Rädern, Kurbeln, Röhren, Ankern, Taucherglocken. Windmühlflügel und andere fremdartige Gegenstände, von einem Spekulanten hier aufgehäuft, lagen in Schmutz und Staub herum und schienen sich, durch ihr Gewicht halb eingesunken, in dem nassen Boden verstecken zu wollen.

Dickens selbst bezeichnete David Copperfield als seine Lieblingsgeschichte und -figur. Der Roman verkaufte sich zunächst nur schleppend, wurde dann aber ein großer Erfolg und ist heute ein Klassiker der Weltliteratur.

Die beiden anderen Romane der mittleren Schaffensperiode Bleak House (1853, dt. Bleakhaus) und Hard Times (1854, dt. Harte Zeiten, auch Schwere Zeiten) sind heute weniger bekannt und werden kaum noch aufgelegt. Während Bleak House einen jahrelang schwelenden Erbschaftsstreit einer alten Adelsfamilie beschreibt und eine Abrechnung Dickens‘ mit der englischen Justiz darstellt, ist Hard Times ein Industrie-Roman, der die Ausbeutung der englischen Fabrikarbeiter schildert.

Ungeheure Fabrikkasernen-Massen mit öden Fenstern ragten da. Den ganzen Tag hörte man Klirren und Beben. Einförmig fuhr der Stempel der Dampfmaschine auf und nieder, wie der Kopf eines Elefanten in melancholischem Wahnsinn. Diese Stadt enthielt große Straßen, die sich alle einander glichen, und viele kleine Straßen, die sich noch mehr glichen, bewohnt von Leuten, die sich ebenfalls gleich waren, die alle zu denselben Stunden ein- und ausgingen, mit demselben Tritt auf demselben Pflaster, um die nämliche Arbeit zu verrichten, bei denen jeder Tag dem von gestern und morgen gleichkam und jedes Jahr das Duplikat des vergangenen und des künftigen war.

Hier, wie auch in seinem zweiten historischen Roman A Tale of Two Cities (1859/60, dt. Eine Geschichte aus zwei Städten), erweist sich Dickens gewissermaßen als ein Wegbereiter von Émile Zola und dessen großen sozialen, naturalistischen Romanen, die zwischen 1871 und 1893 entstanden.

Mit Little Dorrit (1857, dt. Klein Dorrit) beginnt das vielschichtige Spätwerk, das sich durch subtilere und psychologisch komplexere Figuren auszeichnet. Hier ist die Gesellschaftskritik nicht mehr in gemütvoll-humoristische Geschichten eingebettet, sondern wird viel deutlicher ausgedrückt. Pessimismus und düstere Weltsicht verdrängen die heitere Komik. In Little Dorrit wird die Welt aus der Gefängnisperspektive betrachtet. Die 20-jährige Amy Dorrit lebt seit ihrer Geburt mit ihrer Familie in einem Schuldgefängnis, wo ihr Vater einsitzt – ohne Aussicht, seine Schulden bezahlen zu können. Aber nicht nur das Schuldgefängnis, die gesamte englische Gesellschaft ist ein Gefängnis.

Der Roman Great Expectations (1861, dt. Große Erwartungen) markiert wohl den Höhepunkt von Dickens‘ Schaffen. Wie David Copperfield aus der Ich-Perspektive erzählt, schildert Dickens den steilen Aufstieg des jungen Philip „Pip“ Pirrip. Der Vollwaise aus ärmlichen, aber behüteten Verhältnissen erhält völlig unerwartet von einem anonymen Wohltäter eine bedeutende Geldsumme. Er bricht mit seiner schlichten Verwandtschaft und führt in London ein Leben als verschwenderischer Müßiggänger. Schließlich holt ihn die Realität in Gestalt seines unbekannten Gönners wieder ein; ernüchtert kehrt er aufs Land zurück und findet dort ein bescheidenes Glück.

Nach der Veröffentlichung von Great Expectations geriet Dickens in eine Schaffenskrise. Nach 22 Ehejahren trennte er sich 1858 von seiner Frau, mit der er immerhin zehn Kinder hatte. Bei seiner Popularität wurde die Trennung zur öffentlichen Affäre, ebenso sein Verhältnis zu einer jungen Schauspielerin namens Ellen Ternan. Über zwei Jahrzehnte war Dickens ein ruheloses Arbeitstier gewesen – die aufreibende Redaktionsarbeit an immer neuen Zeitungsprojekten, dazu häufig auftretende Depressionen, sie forderten nun ihren Tribut. Um seinem Publikum noch näher zu sein, hatte er sich seit 1853 außerdem zu Lesungen seiner Werke entschlossen, die oft zu ausgedehnten Vortragstourneen mitunter vor Tausenden von Zuhörern wurden. Dafür fertigte er extra Lesefassungen an, um so eine theatralische Wirkung zu erzielen.

Erst drei Jahre nach Great Expectations erschien mit Our Mutual Friend (1864, dt. Unser gemeinschaftlicher Freund) sein nächster Roman, in dem es um eine Erbschaftsangelegenheit geht. Es ist ein düsterer, aber zugleich avantgardistischer Roman, der schon in die literarische Moderne weist. Gegen den Rat der Ärzte unternahm Dickens 1867 eine zweite Amerika-Reise, die ohne die Kontroversen der ersten verlief, obwohl die Copyright-Problematik immer noch nicht gelöst war. Sein letzter Roman The Mystery of Edwin Drood (dt. Das Geheimnis des Edwin Drood) blieb schließlich unvollendet. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends.

Charles Dickens starb mit 58 Jahren am 9. Juni 1870 an den Folgen eines Schlaganfalls. Beigesetzt wurde er in der Poets‘ Corner, einem Teil der Londoner Kathedrale Westminster Abbey, wo er seine letzte Ruhestätte gegenüber den Gräbern oder Denkmälern von Geoffrey Chaucer, William Shakespeare und John Dryden fand.

Charles Dickens hinterließ fast zwei Dutzend, zum Teil dickleibige Bücher, mit denen er den kritisch-realistischen Roman in der englischen Literatur begründete und damit in die Literaturgeschichte einging. Mit seinem Werk gilt er als schonungsloser Chronist des viktorianischen Englands, der die Welt mit ihren Widersprüchen im Zeitalter der Industrialisierung in Literatur festhielt – mit höchstmöglichem Realismus, aber auch mit Mitteln der Übertreibung und der Karikatur. Sein umfangreiches Werk stattete er mit einem Kosmos der unterschiedlichsten Charakterfiguren aus. Mehrere Tausend sollen es sein – gleichsam ein humaner Raritätenladen vom Waisenkind bis zum Schurken, vom Schuhputzer bis zum Fabrikbesitzer.

Heute ist es um den einst meistgelesenen englischen Autor ruhiger geworden – vor allem in Deutschland, wo er häufig als humoristischer Volksschriftsteller oder Jugendbuchautor abgetan wird. So wurde sein 150. Todestag mit keiner Neuerscheinung, geschweige denn mit einem Jubiläumsband gewürdigt. Die seit Jahrzehnten einzige deutschsprachige Biografie Charles Dickens. Der Unnachahmliche von Hans-Dieter Gelfert erschien 2011 im Vorfeld seines 200. Geburtstags. Seitdem machte sich der Jubilar im Buchhandel wieder äußerst rar. Allein die Hörbuch-Verlage entdeckten Dickens in den letzten Jahren. So brachte der Audio Verlag (DAV) in seiner bewährten Reihe Große Werke. Große Stimmen gleich vier historische Lesungen (jeweils mp3-CDs) auf den Markt: Bleak House (mit Gerd Westphal), Ein Weihnachtslied in Prosa (mit Steffan Wigger), Nicholas Nickleby und Große Erwartungen (jeweils mit Hans Paetsch). Immerhin 75 Stunden Charles Dickens für die Ohren.

Literaturangaben

Dickens, Charles: Oliver Twist. Übers. von Carl Kolb. Berlin 1960.

Dickens, Charles: Weihnachtserzählungen. Übers. von Carl Kolb. München 1997.

Dickens, Charles: David Copperfield Übers. von Gustav Meyrink. München 2009.

Dickens, Charles: Harte Zeiten. Übers. von Carl Kolb. Berlin 2017.