Überleben auf Haiti
James Noël beschreibt in seinem beeindruckenden Kurzroman „Was für ein Wunder“ die Widerstandskraft der Haitianer trotz dreier Katastrophen innerhalb weniger Jahre
Von Michi Strausfeld
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDienstag, vier Uhr fünfundfünfzig. Die Häuser stürzten, einer rhythmischen Ordnung folgend, um. Blut floss im Entenmarsch-Chor dahin […] Das Herz der Stadt ist zerbrochen, hat aber zu schlagen nicht aufgehört. Die Stadt wurde in ihren Steinen Ziegeln, Grundfesten, Mauern erschüttert. Jetzt leidet sie an gebrochenem Herzen.
Dieses große Erdbeben kostete 2010 in Haiti dreihunderttausend Menschenleben, die materiellen Schäden sind letztlich nicht quantifizierbar und längst nicht behoben. Für Präsident Trump ist das Land lediglich ein „shithole“ Staat.
Sieben Jahre nach der Katastrophe setzt sich der Lyriker James Noël mit dieser und gleich noch zwei nachfolgenden Katastrophen auseinander. Ein paar Monate nach dem Beben brach die von UN-Helfern eingeschleppte Cholera aus, die Bilanz waren weitere zigtausend Tote. 2017 kam der Wirbelsturm: „Überall Verwüstung, Verfall, Verheerung. Im Süden des Landes, wo der Orkan Matthew hinübergezogen ist. Wer hätte das gedacht, das weniger als sieben Jahre nach der Weltuntergangs-Lautmalerei, dem Goudougoudou in Port-au-Prince, ein Orkan die Kerze auspusten würde, die die zarte Landvolkseele am Leben hält.“
Was für ein geschundenes Land. Was für eine überwältigende Kreativität und Überlebenskunst inmitten aller Probleme. Was für eine abwechslungsreiche, fast immer tragische Geschichte – und dies seit der Unabhängigkeit als erstem Land Lateinamerikas 1804.
Auf knapp einhundert Seiten zeichnet Noël ein packendes Bild dieser Katastrophen. In poetischen Bildern beschwört er die Schönheit des Landes, die Kraft der Menschen, sich durchzuschlagen, dem Elend zu trotzen. Er erzählt von den zahllosen NGOs, deren Aktivitäten fast zu einem Wettkampf der Nationen wurden: Wer spendete am meisten, half am meisten? Alle wollten nur dazu beitragen, die Not etwas zu lindern, Essen zu besorgen, Trinkwasser – und verursachten dabei doch manches Unheil, oft versagten sie schlicht oder erwiesen sich als korrupt.
Der Autor listet teils ironisch oder sarkastisch, teils fassungslos diverse Übergriffe, Fehleinschätzungen und Exzesse auf. „Die NGOs sprießen wie Pilze aus dem Boden. Immerhin brauchen die ganzen Vögel, die hier landen, ein Nest, ein gut bestelltes Dach über dem Kopf […] Die Immobilienpreise schnellen in die Höhe.“ Viele andere leisteten herausragende Arbeit, die man nur bewundern kann: sie versorgten Waisenkinder, Flüchtlinge, die Abertausenden Verletzten und vieles mehr. Sie retteten zahllose Menschenleben.
Der Ich-Erzähler Bernard wird von der Italienerin Amore, die seit sechs Monaten im Land arbeitet, aus dem Schutt befreit. Die beiden werden ein Liebespaar, und so bildet der Autor aus persönlichem Glück und omnipräsentem Elend eine Einheit, die den Leser beeindruckt und zugleich verstört. Darf es das überhaupt geben in so einer entsetzlichen Situation? Wie kann man so leben, überleben, wie schafft man das? „Hier läuft das Elend barfuß und mit offenem Hemd durch die Unterschichtsviertel, schlägt Wurzeln in Buchnabeltiefen, wohnt darin und gedeiht wie ein Rinderbandwurm auf dem Land und in den Gemeindebezirken.“
In knappen Kapiteln, oft Miniaturen, erfahren wir viel über diese Leben. Einige Überlebende erzählen einem Psychologen ihre Geschichten, um das Trauma vielleicht zu überwinden. Von anderen berichtet der Erzähler. Von Freuden, Weggefährten, und en passant erweist er großen Autoren des Landes eine Hommage – die die Übersetzerin mit diesmal notwendigen und hilfreichen Fußnoten erläutert. Auch ihr Vorwort liefert wichtige Hintergrundinformationen über den Autor und die Schwierigkeiten dieser Übersetzung, die sie vorzüglich gelöst hat. Deshalb ist die Freude groß, dass dieser schmale, starke, großartige Roman und die Übersetzerin soeben mit einem Preis des HKW (Haus der Kulturen der Welt) ausgezeichnet wurden.
Das verhilft diesem wichtigen Buch hoffentlich zu größerer Aufmerksamkeit – die auch der Kleinverlag Litradukt in Trier und die engagierte Verlegerin verdienen. Sie hat sich auf die Literatur aus Haiti spezialisiert und seit 2006 bislang etwa 30 Bücher publiziert von vielen wichtigen Autoren – darunter Anthony Phelps, Louis-Philippe Dalembert oder Lyonel Trouillot, die davon zeugen, wie unglaublich lebendig die kreative Szene im Land ist. Das gilt auch für die Musik und die Kunst. In Haiti gibt es eben immer und überall eine „Riesenlebenslust“, den Drang zu überleben, ein neues Leben zu beginnen – allem Elend, allen Katastrophen zum Trotz. Und James Noël hält fest: „Ich bestehe aber darauf, dass die Hoffnung hier trotz allem riesig ist.“
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