Schnulli rennt

In „Brauch Blau“ erzählt Julia Malik von einer alleinerziehenden Opernsängerin, die ihre Kinder verliert und sich selbst findet

Von Pascal MathéusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pascal Mathéus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Brauch Blau, das Debüt der Schauspielerin Julia Malik, ist ein romangewordener Kommentar zur #metoo-Debatte. Er beginnt verstörend vielversprechend. Eine Frau liegt in einem Hotelbett und weiß weder, wo sie sich befindet, noch wie sie dorthin gelangt ist. In ihrem Kopf wabert dichter Nebel. Schnell wird klar: In der vorigen Nacht ist sie nicht nüchtern zu Bett gegangen. Die Anschuldigungen des Hotelpersonals, das sie wegen ihrer nicht funktionierenden Kreditkarte aufzuhalten versucht, ignoriert sie gekonnt. Sie schleppt sich mit knapper Not auf eine Bank auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig – und übergibt sich.

Es wird nicht das Letzte sein, dessen sich die junge Frau, die wir nur unter ihrem vielsagenden Kosenamen „Schnulli“ kennenlernen, im Laufe des Romans entäußern wird. Auf knapp 220 Seiten widerfährt der Heldin alles Furchtbare, was Männer Frauen antuen. Ganz am Ende gelingt es ihr jedoch, sich aus ihrem bis dahin völlig fremdbestimmten Leben zu befreien. Sie gibt sich damit zufrieden. Doch wie steht es mit dem Leser?  

Dass sie spannend erzählen kann, beweist die Autorin schon auf den ersten Seiten ihres Debüts. Es wird sehr anschaulich beschrieben, wie Schnulli nur mühsam wieder zu Bewusstsein kommt. Mit jedem Gedankenfetzen, an den sie sich erinnert, wächst die Irritation und die Anzahl der Fragen, auf die man gerne eine Antwort bekäme. Als der Frau klar wird, dass sie ihre fünfjährige Tochter und ihren dreijährigen Sohn verloren hat, beginnt eine atemlose Suche. Das Tempo des Buches wird sich von da an nicht mehr oder nur noch für ganz kurze Atempausen beruhigen.

Sprachlich und formal entspricht der Text damit der geschilderten Lebenssituation: Eine junge, von allen guten Geistern verlassene Frau, versucht in einem Alltag mit zwei liebesbedürftigen Kindergartenkindern irgendwie zurechtzukommen. Sie hat dabei weder Geld noch Unterstützung und rotiert deshalb beständig. Angeheizt durch ihr eigenes Pflichtbewusstsein („Früher war sie eine noch funktionierende Maschine“) und eine brutale Vergewaltigung ist sie das ganze Buch hindurch kurz davor, sprichwörtlich in die Luft zu gehen.

So gelungen diese formale Gesamtanlage des Romans ist, so zahlreich sind seine Mängel. Je klarer die Verhältnisse werden, desto schwächer wird leider auch die Geschichte. Deutlich wird dies bereits in der Suche der Mutter nach ihren Kindern, die etwa das erste Drittel des Buches einnimmt. An dieser Stelle geht die Konstruktion nicht auf. Obwohl Maliks Heldin aus Sorge um die Kinder in helle Panik verfällt, stellt sie, noch während sie durch die Stadt hetzt, weitreichende Überlegungen über ihr bisheriges Leben an.

Den abstrusen Höhepunkt erreichen diese psychologisch unglaubwürdigen Ablenkungen, als die Heldin in einer beinahe menschenleeren Bar in einer Karaoke-Einlage Abbas Dancing Queen zum Besten gibt und sich dabei singend in ihrer erträumten Freiheit gefällt. Falls das Ironie sein soll – im Klappentext ist davon die Rede –, erschließt sich nicht, warum Malik ihre Figur so ungnädig peinlich ausstellt, wo sie sie doch sonst stets mit großer Sympathie begleitet. Andernfalls ist es einfach kitschig.

Wahrscheinlich trifft Letzteres zu, denn einem Hang zum Kitsch begegnet man bei der Lektüre von Brauch Blau nicht nur in den Szenen übersteigerter Theatralik, sondern auch auf sprachlicher Ebene. Malik bedient sich streckenweise einer Sprache, die sich angenehm von jenem Alltagsduktus unterscheidet, in dem allzu viele zeitgenössische Romane erzählt werden. Sie wagt etwas und gewinnt manchmal dabei. Wenn sie beispielsweise davon schreibt, wie Parfums durcheinander „kreischen“ oder wie ihre Heldin durch ihre Gedanken „watet“, entstehen Bilder, die Atmosphären und Stimmungslagen auf anschauliche Weise einfangen.

Leider entgleitet ihr diese ambitionierte Sprache aber auch immer wieder. Dann bringt sie abgegriffene Sprachbilder und puren Poesiealbenkitsch hervor: „Die Stille ist ein Garten, auf dessen Boden Laub und alte Äpfel verwesen, aber an den Bäumen sprießen frische Blätter, wenige offenbaren Blüten, rosa, noch zusammengerollt, sie atmet diesen Geruch.“ Als traute sie ihrer eigenen Beschreibung nicht, zieht sie zur Beglaubigung ihre Hauptfigur hinzu, die riechen können soll, was da beschworen wird. Nichts riecht der Leser. Spürt höchstens, dass seine Finger beim Umblättern etwas klebrig geworden sind.

Auffällig sind die Verben. Wo etwas „sprießt“, „offenbart“ sich auch etwas. Sie deuten auf die etwas unheimliche Verbindung hin, die Natur und Sinn in Brauch Blau eingegangen sind. Was im Klappentext als „Mutterinstinkt“ bezeichnet wird, erscheint im Buch in Wahrheit als mystifizierend geraunter Mutterkitsch. So heißt es etwa von der Tochter: „Sie kannte genau dieses Kind bereits aus ihrem Inneren.“ Möglich, dass jede Mutter sofort weiß, was hier gemeint ist. In einem Roman sollte aber daran gelegen sein, Erkenntnisse sprachlich zu realisieren und nicht einfach nur zu behaupten.

Während die hier gebotene Prosa in den beschriebenen Sequenzen auf anheimelnde Weise esoterisch daherkommt, zielt sie an vielen anderen Stellen auf Erschütterung ab. Dafür fährt Julia Malik die detaillierte Schilderung von äußerster Gewalt auf. Einen traurigen Höhepunkt erreicht dies in der fürchterlichen Vergewaltigungsszene, in der Schnulli von ihrem Ex-Mann auf brutale Weise in alle Körperöffnungen penetriert wird. Je gewalttätiger er wird, desto heftiger belegt sich die Heldin mit Vorwürfen, weil sie glaubt, doch irgendwie selbst an ihrer Behandlung schuld zu sein. Gleichzeitig hofft sie, dass ihre Beziehung eine neue Chance bekommen könnte, wenn die Tortur einmal vorbei wäre. Die psychologische Struktur dieser abstrusen Vorstellung wird zwar durchaus mit der Erzählung beglaubigt. Das Motiv liegt aber so schnell klar und deutlich zutage, dass sich der sprachliche Gewaltexzess in seinen Redundanzen damit nicht rechtfertigen lässt.

Dasselbe gilt für das kompositorische Gegenstück dieser Vergewaltigungsszene. In einem vielleicht noch eine Spur brutaleren SM-Spiel werden die Geschlechterrollen umgedreht. Schnulli bekleidet darin die Rolle einer Domina, die dem dafür äußerst dankbaren Opernintendanten Prassnik in die Genitalien tritt und ihm einen Lockenstab rektal einführt. Sie hat sich freilich auf diese ganz außerhalb ihrer eigenen Vorstellung liegende Zusammenkunft nur eingelassen, weil sie sich der Fürsprache des Intendanten bei der Besetzung einer Rolle versichern wollte.

Abgesehen davon, dass sich das Schockpotential solcher Szenen nicht nur durch die zahlreichen literarischen Vorbilder seit de Sade, sondern auch und vor allem durch die jederzeit in allen Schattierungen verfügbare Pornographie in engen Grenzen hält, erschüttert noch am meisten, aus was für ideenlosen Klischees die Nebenfiguren von Brauch Blau bestehen. In den Sprachschablonen, mit denen sie sich artikulieren – Ex-Mann Herbert: „Du kleine, billige Nutte. Ich fick dich jetzt durch“; Intendant Prassnik: „O meine Gebieterin. ich lebe nur, um dir zu dienen. Benutze mich“ –, wird nur deutlich, was wir doch längst alle wissen: Männer sind halt Schweine.

Sehr gut möglich, dass es solch erbärmliche und in jeder Hinsicht ekelerregende Männer wirklich gibt – wir lesen ja täglich in den Nachrichten von ihnen. Aber brauchen wir sie auch noch in der Literatur? Sie geben eben keine guten Romanfiguren ab, weil sie ganz und gar platt sind und ihre Niedertracht vom ersten Moment an offenkundig ist. Daran ist überhaupt nichts interessant.

Auf zu vielen Seiten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, die Autorin hätte den Roman vor allem geschrieben, damit sie einmal Gelegenheit fände, ihre keineswegs originellen gesellschaftskritischen Überzeugungen kundzutun. Das ist ein echtes Problem. Es stellt die Bezeichnung „Roman“ grundsätzlich in Frage. Tatsächlich gleicht Brauch Blau über weite Strecken eher einer wütenden Anklage als einem Roman. Es gibt kein Geheimnis, es liegt alles offen zutage. Die einzige, die das noch nicht mitbekommen hat, ist die Hauptfigur. Wenn man sich mit ihr identifiziert, kann man sich über den Erfolg ihrer Erkenntnis freuen („Ich will aber auch Arschloch sein wie die Männer!“). Andernfalls hat man bloß ein krasses Buch gelesen, das viele offene Türen einrennt.

Titelbild

Julia Malik: Brauch Blau.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2020.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002718

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