Der große Unbekannte

Charles Shields zeichnet in einer umfangreichen Biographie das Leben des Schriftstellers John Williams nach, „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“

Von Christine LentzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Lentz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Augenblicken seines Lebens schaut er aus dem Fenster und dann überkommt ihn „ein Gefühl der eigenen Identität, […]  mit plötzlicher Kraft, er fühlte seine Macht. Er war er selbst, und er wusste, was er gewesen war.“

Mit diesem lakonischen Schluss lässt der Autor John Williams in seinem Roman Stoner das Leben des von ihm erdachten gleichnamigen College-Professors enden. Stoner, dieser leise Mensch, der sich als Farmersohn mit einer Liebe zur Literatur im westlichen Amerika des frühen 20. Jahrhunderts durch ein karges Leben und eine mittelmäßige Universitätskarriere kämpft, behält mit seiner Bescheidenheit, Integrität und Genügsamkeit die eigene Würde – und die Sympathie der Leser – bis zum Schluss. Der Autor gibt ihm mit einem Satz all das, was seinen Charakter und die Faszination für eine Lebensbeschreibung ausmacht, mit der er nachträglich zu Ruhm gelangte.

Der Roman, den John Williams bereits 1965 veröffentlichte, trat erst im Jahre 2013 bei seiner Wiederentdeckung einen Siegeszug durch den internationalen Buchmarkt an. Die Geschichte von Stoner ist eigentlich die Geschichte eines Nicht-Lebens und doch zog sie Leser und Literaturkritiker gleichermaßen in ihren Bann. Wer war dieser unbekannte längst verstorbene Autor, der einen der großen vergessenen Romane der amerikanischen Literaturgeschichte schrieb? Der zu Lebzeiten nie den Durchbruch als Autor schaffte und nur einer kleinen Leserschaft bekannt war?

Charles J. Schields geht dieser Frage in der Autobiographie Wer war der Mann, der den perfekten Roman schrieb? auf 321 Seiten in großer Detailtreue nach. Er hat sich dessen umfangreichen schriftlichen Nachlass vorgenommen: private Schriftwechsel, Aufzeichnungen, Manuskripte, offizielle Dokumente, Essays, Interviews, Fotos. Ebenso die literarischen Nachlässe seiner Freunde. Ausführlich sprach er mit ehemaligen Studenten und Familienmitgliedern sowie der Witwe des Autors, Nancy Williams.

Auf diese Art gelingt es Shields, die vielen Leben, die John Williams führte – u.a. war er Dichter, Armeefunker, Schriftsteller, Universitätsdozent, viermal verheiratet, diverse Affären, Vater von drei leiblichen Kindern, Stiefvater – lebendig nachzuzeichnen. Die Biographie gliedert sich in fünf Teile, die sich an den Entstehungsgeschichten seiner vier erschienen Romane Nichts als die Nacht, Butcher’s Crossing, Stoner, Augustus sowie dem unvollendeten Schlaf der Vernunft orientieren.

Parallelen zwischen dem Autor und seiner berühmten Romanfigur Stoner gibt es einige. Auch John Williams wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Niemand in seiner Familie hat je eine Universität besucht. Nach dem Besuch des Colleges arbeitet er in jungen Jahren bei einem Rundfunksender und ist fasziniert von den Möglichkeiten des Mediums. 1942 meldet er sich freiwillig bei der Armee, um eine Ausbildung als Radiotechniker zu machen. Soldat wird er dagegen widerwillig. In der Armee beginnt er eine Funkerlaufbahn, die ihn nach China, Burma und Indien führt. Wie viele seiner Altersgenossen übersteht er die Zeit nicht ohne seelischen und körperlichen Schaden, spricht aber selten über Kriegserlebnisse oder persönliche Angelegenheiten im Allgemeinen.

Mit Hilfe eines Stipendiums der Armee beginnt Williams nach Kriegsende ein Literaturstudium an der Universität Denver. Dort hält er sich für „den Menschen, der am wenigsten in den akademischen Rahmen passte“. Dessen ungeachtet erhält er später an der Universität Missouri einen Lehrauftrag, promoviert in Englischer Literatur und wird Dozent für Kreatives Schreiben. Die eigene Karriere als Autor hat Williams dabei schon früh im Blick. Immer wieder suchte er den Kontakt mit Verlagen und erhielt gute Rückmeldungen: Die Qualität seiner Einreichungen wird früh erkannt. Dennoch muss er viele Ablehnungen und Rückschläge erdulden.

Der lange Weg über Agenten, Verleger und schriftstellerisch-tätige Freunde ist dabei von Shields gut dokumentiert. Sein zweiter Roman Butcher’s Crossing, wird aufgrund der Handlung um vier Büffeljäger in Amerika um 1870 von der New York Times als klassischer Western rezensiert – für John Williams ein nicht wieder gutzumachender Schaden. Hatte er diesem Buch doch vier Jahre gewidmet und sah sich eher in der Erzähltradition Willa Cathers oder Jack Londons. „Naturalistische Autoren wie Cather suchen keine Ursachen hinter Ereignissen: Sie finden Wahrheit, indem sie das Leben gewissenhaft schildern.“

Mit dem nächsten Roman Stoner, in dem er sich einem kompletten Leben von Anfang bis Ende widmet, machte er einige Verleger ratlos. Das Buch sei vorzüglich geschrieben, aber er verschwende zu viel Zeit darauf, eine Figur zu entwerfen. Seine Technik des fast ununterbrochenen Erzählens sei aus der Mode gekommen. Sein Thema könne auf „Durchschnittsleser“ deprimierend wirken, liest es sich in den Briefwechseln. Dabei glaubt Williams fest an seine Geschichte. Romane, so seine Meinung, sollten in ihrer Form die natürliche Welt imitieren. „Je enger man beim Schreiben eines Romans am Leben festhielt, wie es Tag für Tag ist, desto wahrer würde es sein.“

Während der genügsame Stoner kaum aus seinem unauffälligen Leben und einer unglücklichen Ehe ausbricht (eine Ausnahme stellt eine prägende Affäre zu einer Studentin dar), ist sein Autor John Williams als sehr gesellig bekannt. Er wird als fröhlicher, charmanter Mann wahrgenommen, zeitweise mit einem Hang zur Exzentrik. In den 60ern gibt er sich dem Künstler-Habitus mit Halstüchern, Kummerbund um die Taille und Schmalzlocke hin. Gleichzeitig bleibt er eng seiner Universitätskarriere verhaftet, ein Leben in Sicherheit und Wohlstand zieht er dem kompromisslosen Künstlerdasein vor. Auch ist da ein Mann, der sich über die Jahre immer mehr im Alkohol verliert, selten treu ist und als Eigenbrötler lieber zwei Monate abseits von seiner Familie in aller Abgeschiedenheit in den Bergen lebt. Studenten beschreiben ihn als Stimmungsmensch, der gereizt und kompromisslos werden konnte.

Die Unebenheiten, die John Williams Leben ausmachen, werden durch seine Beharrlichkeit und den Glauben an das eigene schriftstellerische Talent ausgeglichen. Hier bleibt er konsistent durch alle Lebensabschnitte hindurch. Für seinen letzten fertiggestellten Roman Augustus, einen Briefroman über die Zeit des römischen Kaisers der Antike, verbringt er längere Zeit in Rom und verwendet viel Aufwand auf die Recherche. 1973 wird ihm dafür der National Book Award für Belletristik verliehen. Während alle vorherigen Romane nur eine kleine Leserschaft gefunden hatten, war ihm mit der Verleihung des National Book Award endlich die Anerkennung zugekommen, die er für sich als rechtmäßig erachtete und die ihm einen Platz in den Annalen der zeitgenössischen Schriftsteller zusprach.

Zum Ende seines Lebens lässt Williams Gesundheit stark nach. Seiner Liebe zur Literatur und dem geschrieben Wort bleibt er treu, aber den Verpflichtungen seiner wissenschaftlichen Stellung als Leiter des Programms für Kreatives Schreiben kommt er immer nachlässiger nach. Sein Alkoholkonsum nimmt überhand und der letzte Roman Schlaf der Vernunft findet keinen Abschluss mehr. Nach jahrelangen gesundheitlichen Problemen stirbt er 1994 im Alter von zweiundsiebzig Jahren an Atemversagen.

Shields beschreibt das Leben von John Williams über all die Jahre und berücksichtigt auch die Nebenfiguren. Seine Kindheit, sein beruflicher Werdegang, die familiären Verhältnisse und Freundschaften sowie der mühevolle Weg, sich am Literaturmarkt zu behaupten. Er erzählt facettenreich und lebendig ohne dabei Leerstellen zu interpretieren, er bleibt neutral. So kommt der Leser über eine gewisse Distanz zu John Williams nicht hinaus. Als Mensch wird er trotz der Annährung von allen Seiten nicht greifbar. Das mag an den vielen Kleinigkeiten und Handlungssträngen aus dessen Leben liegen, die Erwähnung finden und in denen der Biograph sich stellenweise verliert.

Den späten Erfolg hat der Autor nicht mehr erlebt. Die Langsamkeit und Bedächtigkeit, mit der die Figur Stoner durch das Leben geht, ist in unserer schnelllebigen Zeit ein noch stärkerer Kontrast, als zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches in den 60er Jahren. Aber vielleicht macht gerade das den späten Erfolg des Autors aus: Die Tatsache, dass er sich mit einer Hingabe all den Facetten eines Menschen widmet, wie wir es heute selten irgendwo zu lesen bekommen. Die Hingabe daran, dass jedes Leben es wert ist, erzählt zu werden – und die Liebe zur Literatur, die er mit seiner Figur teilt.

Titelbild

Charles J. Shields: Der Mann, der den perfekten Roman schrieb. „Stoner“ und das Leben des John Williams. Biographie.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Jochen Stremmel.
dtv Verlag, München 2019.
384 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281911

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