Eine Heimat für den Weltgeist

Ernst Lothars Memoiren „Das Wunder des Überlebens“ sind neu aufgelegt worden

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine „regelrecht hysterische Liebe“ zu seiner Heimat Österreich bescheinigt Daniel Kehlmann seinem österreichischen Schriftstellerkollegen Ernst Lothar. Kehlmann hat dessen Memoiren nun neu verlegt und sie zur „Pflichtlektüre“ erklärt. Sein leider viel zu kurzes Nachwort mit der Überschrift „Zu Doktor Freud in Sachen Österreich“ setzt sich anhand eines Treffens zwischen Ernst Lothar und Sigmund Freud mit Lothars Heimatliebe oder eher Heimatproblem auseinander, um dann knapp die „Pflichtlektüre“-Behauptung zu begründen. Die Erinnerungen seien eine Pflichtlektüre „für jeden, der sich für die Kulturgeschichte Österreichs“ interessiere. Da der Autor „aus dem Inneren des Ständestaates zu erzählen vermag“, sei sein Buch „ein Quellenwerk ersten Ranges“. Interessant sei Lothar auch als Autor „grandiose[r] Szenen“, spannender Darstellungen wie jener seiner Flucht aus Österreich im Jahre 1938 oder auch infolge seiner „entwaffnende[n] Deutlichkeit“ und Widersprüchlichkeit.

Kehlmann hat mit diesen Behauptungen weitgehend Recht. Mit der Neuverlegung der ursprünglich 1960 bei Szolnay veröffentlichten Memoiren hat er Lothar sicherlich auch ein Stück weit der Vergessenheit entrissen. Zusammen mit dem 2016 neu herausgegebenen Roman Der Engel mit der Posaune, dem 2018 neu verlegten Roman Die Rückkehr sowie dem Buch Dagmar Heißlers aus dem Jahre 2016 Ernst Lothar. Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender wird die Neuausgabe der Lebenserinnerungen Lothars literarische Präsenz deutlich erhöhen. Er war schließlich ein hochproduktiver Schriftsteller und Kulturschaffender – Kritiker, Regisseur, Theaterdirektor, Initiator und Mitbegründer der Salzburger Festspiele usw. Er schrieb Gedichte, Novellen, Essays, Romane, Dramen, Erzählungen, Theaterkritiken.

Der Titel Das Wunder des Überlebens selbst mag sehr ansprechend sein, scheint jedoch zunächst ein nur physisches Überleben zu suggerieren. Weniger spektakulär, aber treffender, wenn es darum geht, Ernst Lothar zu verstehen, ist der Titel des ersten Teils des Romans seines Lebens: „Die Grenzen der Geographie“. Die Liebe zu Österreich ist zwar der Ausgangspunkt und ein überaus mächtiger Antrieb für Lothars Entwicklung gewesen, bestimmend für das ganze Buch jedoch ist der Umgang des Autors mit den Grenzen der Geographie. Finis Austriae ist ein zentrales Motiv, das ihn zweimal in größte Bedrängnis bringen wird: das erste Mal 1918 als äußerst schmerzvoll empfundener Zusammenbruch der Donaumonarchie, das zweite Mal 1938 als tragischer Anschluss der geschrumpften Heimat an eine Fremdmacht. An der Wurzel des Leids befand sich beide Male keine emotionale Labilität, wie Daniel Kehlmann nahezulegen scheint, sondern die Sorge um das Überleben des Geistes. Und wenn Freud im Gespräch mit Lothar die Analogie zwischen Heimat und Mutter zog, dann sollte man die Mutter symbolisch als den fruchtbaren, mütterlichen Boden verstehen, dessen der Geist bedarf. Kehlmanns Verengung der Perspektive auf die bloße Fixierung auf die Heimat Österreich tut dem Autor und seinen Lebenserinnerungen Unrecht.

Änderungen der Grenzen der politischen Wirklichkeit zwangen Ernst Lothar immer wieder, die Grenzen auch seines eigenen Daseins und seiner geistigen Aktivitäten zu überdenken, sie neu zu ziehen. Daraus entstand eine sehr dramatische Existenz – eine Mischung aus Tragik, mancher Absurdität, aber auch aus zahlreichen, mitunter selbstironisch oder humorvoll erzählten, oft glanzvollen Momenten. Folgende Kapitelüberschriften-Auswahl konturiert einige Ingredienzen von Lothars Lebenswerk: „Klanglose Ouvertüre“, „Ein Reich wird klein“, „Experimente“, „Flüchtling“, „Bettler“, „Der Garten der Götter“, „Bürgerprüfung“, „Eine Minute Panik“, „Entzauberung“, „Angeklagter“, „Ein Mann des Theaters und die Sache des Theaters“. Sie alle stehen für die Höhen und Tiefen in Lothars Leben, sind Niederschläge seiner Situation und zugleich der Suche seines Geistes. Diese von den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts angestoßene Wanderschaft wird ihn über die Schweiz und Frankreich in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten führen – dem sich der zweite der drei großen Teile der Memoiren widmet – und dann 1946 wieder zurück nach Österreich. Der Kreis schließt sich, die Sehnsucht nach der Heimat wird gestillt, der Geist kommt jedoch immer noch nicht zum Stillstand. 

Lothar versucht dem Genre des Memoires Rechnung zu tragen und die Quintessenz seines eigenen Lebens zu ermitteln, seinen eigenen Lebensrhythmus zu bestimmen, den er am Ende des Buches formuliert. Sein Vorsatz ist goetheanisch durch und durch. Nicht zufällig beginnen seine Erinnerungen mit einem Motto aus Goethes Dichtung und Wahrheit, eine Autobiographie habe den Menschen „in seinen Zeitverhältnissen“ zu zeigen und darzustellen, „inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet […]“. Goetheanischen Ursprungs ist vor allem Lothars tiefste Überzeugung, dass das Leben dem Gesetz folgt, „nach dem man angetreten“ ist (vgl. Goethes Urworte. Orphisch) und dass Maßlosigkeit stets in Maß zu überführen ist. Diese Einsicht lässt ihn am Finale des Buches festhalten:

Verschiedenartigeres, Verwirrenderes, Umstürzenderes konnte in eine Existenz nicht gepackt sein als in die meine, die zwei Weltkriege, Heimat und Exil, Revolution, Evolution bis zum Wahnsinn der Technik, mit einem Wort das Maßlose zum Übermaß umfasst. Doch sie endet, wie sie anfing: mit der Lust am Niederschreiben dessen, was man für wahr hält.

Schreiben bedeutete für den promovierten Juristen Ernst Lothar, das Maß zu finden, die Grenzen der Gerechtigkeit für sein eigenes Leben zu ziehen und der Welt, die er künstlerisch erschuf, ein gerechtes Gesetz zu geben. In Fortsetzung und bei gleichzeitiger Umkehrung des früh erlernten, ihm als österreichischem Beamten von Stefan Zweig in freundschaftlicher Verbundenheit gebotenen Ratschlags, „in Akten zu dichten“, versucht er in seinen Lebenserinnerungen, Gerechtigkeit und Dichtung zu amalgamieren. Die goetheanische „Wahrheit und Dichtung“ geraten ihm zur ,Gerechtigkeit und Dichtung‘. Der Geist der gerechten Kritik zieht sich demnach durch das ganze Buch. Die auf den ersten Blick „hysterische“ oder zumindest kritiklose Liebe zu Österreich wird beispielsweise relativiert, wenn der Autor schon am Anfang dem „Ausbrechen aus der geordneten, erbötigen, selbstzufriedenen Bürgerlichkeit“ Österreichs das Wort redet und die „brüchig gewordene Majoritätsmoral“ anprangert, um sie „unsere[r] Gerechtigkeit“ entgegenzusetzen.

Zu den Kreisen, in denen Lothar in Wien verkehrte und die diese neue Gerechtigkeit vertraten, gehörten Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Hermann Broch u.a.m. Trotz des glamourösen Bildes der Wiener Moderne bleiben die typisch österreichische Melange aus „Charme“ und „Tücke“ und die Ambivalenzen des Kulturlebens Österreichs nicht ausgespart. Im Gegenteil: Sie ziehen in Ernst Lothars Buch viele interessante und lesenswerte Seiten nach sich.   

Das Kapitel „Kritiker“ widmet sich der Zeit, in der er Theaterkritiken für die Neue Freie Presse schrieb. Lothars Gedanken über das Wesen der Literaturkritik enthalten zwar an sich wenig Neues oder Überraschendes, sie beleuchten jedoch Grundfunktionen der Kritik und imponieren vor allem mit ihrem Appell an die Gerechtigkeit und moralische Sauberkeit der Kritik und des Kritikers: „Reinhalten aber können nur saubere Hände.“ Weniger „Wortwitz“ und „Ornament[e]“ als vielmehr Sachlichkeit, Unparteilichkeit und Maßhalten sind ihm wichtige Postulate.

Zum Grundprinzip des literarischen Werks und zum Maßstab für sein Gelingen erhob Lothar das lebendige, plastische Gestalten. Wenn ihm Franz Grillparzer so sehr unter die Haut gegangen war, dann nicht nur, weil er Österreicher war, sondern auch, weil er Historisches so gut in prägnante Gestalten zu fassen vermochte. Was ihn in seinem Bestreben nach Maß bewegte und beunruhigte, war die „Austreibung der Scham“ aus Literatur und Kultur. Für die uneingeschränkte geistige und künstlerische Freiheit trat er aber trotzdem ein. Bestärkt wird er hier von Schnitzler, aus dessen „Asketenmund“ der Leser von Lothars Buch vernehmen wird: „Alles, was zum Leben und zum Tod gehört, ist Gegenstand der Kunst. Nicht der Gegenstand verbietet sich, sondern nur die unkünstlerische Art, ihn zu behandeln. Der Gegenstand ist frei.“

Die Emigration aus Österreich ist die qualvollste Periode im Leben Ernst Lothars. Er vergleicht sie mit einem „seelische[n] Tod“, hierzu selbstkritisch bemerkend: „Fliehen ist etwas Beschämendes, und wer einigen Stolz hat, spürt das.“ Er wird hier weniger das Nazi-Regime direkt angreifen, das seinen Bruder Robert in Riga ermordet, seine eigenen Bücher auf die „Liste I“ verbotenen und zu verbrennenden Schrifttums gesetzt und Europa in den Abgrund gestürzt hatte, als den Weg und die Schwierigkeiten des Geistes verfolgen, sich in dieser Situation zurechtzufinden. In Amerika wird er zur peinlichen Einsicht gelangen: „Doch wessen Arbeitszeug die Sprache ist, hat in der Fremde sein Arbeitszeug verloren.“ Die Qualen der Namenlosigkeit eines bekannten Schriftstellers in der Fremde haben diesem Abschnitt der Erinnerungen ihren unvergesslichen Stempel aufgedrückt. Stets um ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Licht und Finsternis bemüht, wird Lothar sowohl Vorzüge als auch dunklere Seiten Amerikas in den Blick nehmen. Auf eine Grundformel gebracht und wieder mit einer Prise Selbstkritik vermischt lautet diese gerechte und wohlgesonnene Kritik: „In der Vielzahl der stereotypen Monotonie erscheint versöhnend die gleichbleibende individuelle Freundlichkeit. Vorläufig blieb sie uns verborgen.“

Kompensiert wird die von Lothar so empfundene, relative Eintönigkeit der Existenz in Amerika durch die Schilderungen der Begegnungen mit Geistesgrößen wie Thomas Mann, Franz Werfel, Raoul Auernheimer, Hermann Broch, Max Reinhardt, Bruno Walter usw. – lauter „aus dem deutschen Geist Ausgestoßene“. Diesen mal „deutsch“, mal „österreichisch“ genannten Geist setzt Lothar dem in den Konzentrationslagern „tobende[n] Ungeist“ entgegen. Er ironisiert zwar die „schlotternde Angst“ der Nazis, „der Tausendpächter des Mutes“, und ihr Totalversagen in Sachen Kultur, seine Einstellung zu den Themen Nationalsozialismus und Exil kommt jedoch wohl am besten bei der Beschreibung des maßvollen, gediegenen Auftretens seines Freundes Raoul Auernheimer zum Ausdruck:

Als er Dachau verließ, war er so aufrecht und zukunftssicher, wie es nur ein echter, unverdorbener Österreicher sein konnte. So kam er in Amerika an, so brachte er in die Neue Welt ein Buch über die von ihm erlittene Unterwelt, ohne ein Wort zu viel, ohne Vergeltungshitze, maß- und zuchtvoll bis zu dem Grade, dass kein amerikanischer Verleger sich bereitfand, solcher unbeirrbaren Hasslosigkeit Publizität zu geben.

Lothar wird es in Amerika mit der Zeit schaffen, auch geistig-kulturell Fuß zu fassen. Gerechtigkeitshalber wird er jene Klischees hinterfragen, die Amerika Geistlosigkeit vorwerfen: „Nur jener, der in Amerika mit Geistigem Fuß fassen will, kann die Strenge des amerikanischen geistigen Anspruches ermessen und wird aus dem Kopfschütteln nicht herauskommen, wenn ihm allenthalben in Europa das Vorurteil von der amerikanischen Geistesarmut begegnet.“

Der Zweite Weltkrieg wird Ernst Lothar in ein moralisches Dilemma stürzen, da dieser Krieg in ihm, dem überzeugten Pazifisten, wegen der Hoffnung auf die Rückkehr nach Österreich Freude aufkommen ließ. Ein weiteres großes Dilemma wird der Spagat zwischen der Liebe zu Europa beziehungsweise Österreich und der Loyalität zur neuen Heimat USA werden. Lothar entkommt der „Todeskrankheit Emigration“. Die Rückkehr gestaltet sich aber schwierig und wird von ihm immer wieder in sehr knappen, eindrucksvollen Sätzen geschildert, beispielsweise als er in der Wiener Mariahilfer Straße am „zerbombten“ Haus Nr. 13 vorbeikommt: „Beim Zahnarzt Dr. Berger war ich oft gewesen, der Dr. Berger war vergast, die Tafel war geblieben“. Oder als er wegen seiner amerikanischen Uniform, die er als Theater- und Musikbeauftragter des US Department of State trug, von einem „Halbwüchsigen“ in Wien angeschrien wird: „Ami go home!“

Die Heimat selbst wird von Lothar auf die Grundformel gebracht: „Die Bedingungen, die den Menschen machen, sind die der Geographie, der Nationalität und der Rasse; von diesen drei empfängt er seine Gaben und seine Untugenden; sie abzuschütteln vermag er nur äußerlich.“ Die Grenzen der eigenen Existenz sind naturgegeben, und der Geist kann sich nur innerhalb dieser sinnvoll entfalten. Sie können mitunter aber Schmerz, Selbstzweifel, ja Verzweiflung mit sich bringen. So ließ sich „Lovely Vienna“ nach dem Zweiten Weltkrieg einfach nicht entnazifizieren, und der Antisemitismus erwies sich als unausrottbar. Dazu Lothars Bestandsaufnahme, die er in einem Gespräch mit anderen österreichischen Emigranten in New York macht und die er hier im Konjunktiv für den Leser wiedergibt:

Der Antisemitismus – und damals war die Wiederkehr der Nazi-Schmierereien noch nirgends in Erscheinung getreten – herrsche nach wie vor. Dass sechs Millionen Juden ermordet worden waren, seien die sieben Millionen Österreicher, vermutlich sogar die ganze Welt, im Begriffe zu vergessen; sie nähmen es übel, daran erinnert zu werden, es gelte als taktlos. Zwar ziehe der Antisemitismus momentan die Krallen ein und drapiere sich mit Alibis, da mitunter kleinere Posten in nichtarische Hände kämen; auf die entscheidenden würden Juden grundsätzlich nicht oder nur mit äußerstem Widerstreben berufen. Nach Rückkehrern, obschon man es offiziell nicht zugab, bestehe kein Verlangen, nach anerkannten am wenigsten; man wolle unter sich bleiben und sein angegriffenes Gewissen schonen.

Ernst Lothar brauchte eine „Landschaft zum Leben“. Ihre Grenzen waren mehr oder weniger bereits festgelegt, goetheanisch gesprochen: „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen […].“ Lothar, dem die Grenzenlosigkeit der weiten Welt offen gestanden hatte, entsagte ihr und fügte sich frei- und bereitwillig in die naturgegebenen Limitierungen, deren Sinnhaftigkeit er einsah. Diese enger begrenzte Landschaft beackerte und gestaltete sein kulturbildender und gleichzeitig kritischer Geist, ihr gewann er Neuland ab. Die Rückkehr in die doch engere Welt der Heimat bedeutete für ihn allerdings nicht die Restauration einer „goldenen Ära“, der „Welt von gestern“ (Stefan Zweig). Zurückzukehren hieß vielmehr – und dies mit den Worten seines Freundes Franz Werfel ausgedrückt – das „Wunder der wiederhergestellten Gerechtigkeit“ mitzuerleben und mitzugestalten, den Kampf gegen die Kulturlosigkeit, gegen die „Vermassung“ und nicht zuletzt gegen den „heutigen Flachheitsabgrund“ fortzusetzen. Das Ringen um fundamentale Gerechtigkeit ist ein Thema auch in Heldenplatz (1945), einem weiteren Roman von ihm, der ebenfalls eine Neuauflage verdient.

Von der „Verstümmelung“ der Kultur des Habsburger Reiches über die Degradierung Österreichs zur „Hitlerprovinz“ bis zum Aufbau einer neuen Kulturlandschaft in Österreich war es ein langer Weg. Ernst Lothar ist diesen Weg nicht allein gegangen, er war auch nicht der Einzige, doch er schuf Bleibendes. Er, der österreichische Jude, hatte seinem Land in wohl zu überschwänglichen, der Freude über die Befreiung geschuldeten und doch wieder maßvollen, gerechten Worten schon 1945 im Epilog zu Der Engel mit der Posaune ein Denkmal gesetzt: „Sie wohnten, sie wohnen in einem widerspruchsvollen, zwielichtigen, verwinkelten, unsinnig-sinnlichen, herrlich schönen, gefährlichen, im Zentrum stehenden, tief unterkellerten, dämonischen Haus, welches das Haus Österreich ist.“

In seinem Nachwort zur Neuausgabe der Lebenserinnerungen 1965 hat Lothar jedoch nüchtern und besorgt vor einer Reihe „alarmierender Rückschläge“ in der Kulturentwicklung Österreichs und der Welt gewarnt. Auch diese späte Geste war dazu gedacht, „maßlos Absurdes, Böses, Rechtloses und Rohes“ in einer gerade wieder entgleisenden Welt durch ein Maß an universeller Menschlichkeit zu ersetzen.

Ernst Lothar hat mit seinem Leben und seinen Werken unverkennbar einen wertvollen Beitrag zur Kulturgeschichte Österreichs geleistet. Mit seinen Lebenserinnerungen fragt er jedoch vor allem nach den Möglichkeiten des Geistes und nach den Bedingungen, unter denen dieser seinem naturgegebenen Zweck entsprechen kann. Hiermit schreibt er an der Geschichte des Weltgeistes mit. Heimat ist für den Geist keine fixe, von Nationalstolz und falschem Patriotismus getragene Größe, sie wird von ihm innerhalb natürlicher Grenzen in sublimer, maßvoller Selbstbescheidung erschaffen. Um diesen Weg zu zeigen, greift er hier auf Schemata wie die Autobiografie, den Bildungsroman, den Exilroman und stellenweise sogar auf den Reise- und Abenteuerroman zurück. Der Feder des erfahrenen Theatermanns Lothar sind auch in diesem Erzählwerk viele dramatische Szenen entsprungen, z.B. die Gespräche mit seinen Freunden und Kollegen aus aller Welt. Auch aus solchen Grenzüberschreitungen – des Genres oder der Nationalkulturen – ist eine maßvoll-elegante, von einem letztlich kosmopolitischen Geist getragene Darstellung entstanden.

Was Ernst Lothar der Mutter des Verlegers Paul Szolnay, Klara Amanda „Andy“ von Szolnay (Wallerstein), einmal geschrieben hatte, lässt sich ohne Weiteres auf ihn und sein eigenes Lebenswerk übertragen: Er hat „Raum für den Weltgeist“ gesucht und in Österreich – dort, wo ihm die Natur selbst einen Wirkungskreis zugewiesen hatte und wo auch der „Ungeist“ immer wieder aufflammte – dem Weltgeist ein Stück Heimat erschaffen.

 

Titelbild

Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020.
384 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059795

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