Realismus? Abbild? Lexikon?

Natalia Ginzburgs Roman „Familienlexikon“ aus dem Jahr 1963 in einer Neuauflage

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ist ein wundersames Buch, endlich habe ich es gelesen, erschienen ist Natalia Ginzburgs Familienlexikon ja schon 1963, aktuell ist es die 5. Auflage einer durchgesehenen Übersetzung von vor ein paar Jahren. Die Familiengeschichte Ginzburgs ist interessant, aber das ist nicht entscheidend. 1916 als jüngstes von fünf Kindern des Anatomieprofessors Giuseppe Levi und seiner nichtjüdischen Frau geboren, aufgewachsen in Turin, ist Ginzburgs Leben und das ihrer Familie nicht nur eng mit dem italienischen Antifaschismus verbunden, sondern auch mit der italienischen Kultur bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Charaktere sind lustvoll beschrieben, aber auch das ist nicht entscheidend. Da ist der Vater, ein Patriarch, ein Polterer, alles, was er tut, ist „heftig“, aber irgendwie, man spürt es, ist er auch weich, rührend um seine Kinder besorgt. Und dann ist Levi ein Prachtexemplar des positivistischen Bürgertums des 19. Jahrhunderts: „Die Dinge, die mein Vater schätzte und achtete, waren: der Sozialismus, England, die Romane von Zola, die Rockefeller-Stiftung und die Bergführer des Aostatals.“ Die Mutter, nicht überraschend, ist eine Antipodin zum Grantler Giuseppe (was mag die beiden Eheleute verbunden haben?): Sie „hatte eine fröhliche Natur und fand überall Menschen, die sie lieben konnte und von denen sie geliebt wurde, und überall gelang es ihr, ihre Umgebung schön zu finden und glücklich zu sein.“ Man könnte so weiter machen, jedes Familienmitglied schildern, aber ist sowas per se spannend? Fremde Familien erscheinen ja wie fremde Stämme, man weiß oft nicht, was man mit deren Spezialverhalten anfangen soll. Das ist natürlich dasselbe mit der eigenen Familie, aber den Geruch in der Wohnung, aus der man kommt, nimmt man halt gar nicht als etwas Spezielles wahr (nur Fremde) und zugleich kann man sich dieser Zumutung der eigenen Familie nicht entziehen.

Was also ist das da für ein Stamm, der sich von meinem unterscheidet? Hier wird geredet. Es gibt sprechende Familien und es gibt Familien, in denen nicht (viel) gesprochen wird, in denen aber auch nicht geschwiegen wird, Gesten und Blicke tun´s ja auch (und: es sind nicht unbedingt sprachlose Familien oder Familien, die mit Sprachlosigkeiten vollgestopft sind, aber das gibt es natürlich auch).

Eine sprechende Familie also, Sprache also. Und da fängt das Wundersame an. Das Buch heißt Familienlexikon. Ein Lexikon ist ein erschöpfendes semantisches Welt-Inventar, es ist alphabetisch geordnet, es enthält Einträge, die mit dem Buchstaben A beginnen und das rollt den Berg bis zum Z hinunter. Ist Ginzburgs Familienlexikon so? Nein. In ihrer Nachbemerkung notiert sie, dass „Orte, Personen und Ereignisse“ des Buches der „Wirklichkeit“ entsprächen. Sie habe „nichts erfunden“. Dennoch habe sie dieses Buch über ihre Familie, das sie schon in ihrer Jugend habe schreiben wollen, „nur teilweise geschrieben, nur teilweise, weil das Gedächtnis unsicher ist und weil die Bücher, die aus der Wirklichkeit geschöpft sind, häufig nur einen schwachen Abglanz oder nur Splitter von dem geben, was wir gesehen und gehört haben“.

Ist das hier also literarischer Realismus? Ja, schon, wenn man Realismus als literarische Kategorie nicht mit der Ab-Bebilderung der Wirklichkeit (was immer die sein mag) verwechselt. Und dann ist dieses Buch also doch ein Lexikon? Aber halt bloß nicht jeden Buchstaben enthaltend?

Die Sache liegt anders. Einiges fällt auf. Zum einen, dass Ginzburg sich selbst (fast) genauso behandelt wie alle anderen, ein Buchstabe unter vielen im Lexikon. Sie möchte nicht von sich und ihrem schmerzvollen Schicksal erzählen (ihr erster Mann, Leone Ginzburg, starb in Folge einer Inhaftierung als Antifaschist sehr früh). Wundersam ist Ginzburgs Blick und wie der in Sprache verwandelt wird. Nehmen wir ein paar Beispiele. Beschreibung der Mutter: „Meine Mutter war faul und bewunderte deshalb die aktiven Menschen.“ Über ihren Bruder Gino: Er war„ernsthaft, fleißig und ruhig“, „er prügelte sich nicht mit seinen Brüdern und war ein guter Bergsteiger. Er war der Liebling meines Vaters“. Über ihre Schwester: „Paola war im allgemeinen mit dem Leben, das sie führte, unzufrieden und hätte gern mehr Kleider gehabt; und die Kleider, die sie hatte, gefielen ihr nicht, weil sie einen männlichen und schwerfälligen Schnitt hatten“. Über ihren Bruder Alberto: „Alberto hatte keine Launen und war immer fröhlich.“ Albertos Gemaule an seiner Frau Miranda: „Du bist nicht krank. Aber du bist aus zweitklassigem Material.“

Betrachtet Ginzburg ihre Familien-Objekte wie eine Insektenforscherin und beschreibt sie so, Enzyklopädistin des Fremdverhaltens? Nüchtern, gar bös? Nein, sie beschreibt Charaktere, festgefügte, sichtbare Verhaltensweisen, Herumpsychologisieren unterbleibt. Überdies, auch das ist spannend, bleibt man oft im Unklaren über die inneren Beziehungen der Personen untereinander. „Das Verhältnis meiner Mutter zu mir war keines auf gleicher Ebene, sondern ein mütterlich fürsorgliches, und sie empfand mein Fehlen im Haus nicht so stark, teils, weil ich, wie sie immer sagte, verschlossen war, teils, weil sie älter wurde und sich mit der Leere, die die Kinder beim Weggehen hinterlassen, abgefunden und ihr Leben so geschützt und gepolstert hatte, daß sie den Schmerz der Trennung weniger fühlte.“ Und was empfanden die beiden füreinander? Es bleibt in der Schwebe oder ausgespart. Kurz und gut, das Wundersame an diesem Buch ist diese Art des Beschreibens, die Sprache, die einerseits so tut, als wäre sie Realismus, als bildete sie Wirklichkeit ab, was sie aber nicht tut. Sie ist genau, aber eben nicht abmalend. Die Sprache selbst, die Wendungen konstruieren diese Familie, sind ihr Leib:  

Wir sind fünf Geschwister. Wir wohnen in verschiedenen Städten, einige sogar im Ausland und wir schreiben uns nicht häufig. Wenn wir uns treffen, sind wir den anderen gegenüber manchmal vielleicht zerstreut oder gleichgültig. Doch ein Wort genügt zwischen uns. Ein Wort oder ein Satz genügt: einer jener Sätze, die uns, als wir Kinder waren, unendliche Male wiederholt wurden. Es genügt uns, zu sagen: „Wir sind nicht nach Bergamo gekommen, um einen Ausflug zu machen“, oder: „Wonach stinkt der Schwefelwasserstoff?“, um mit einem Schlag unsere alten Beziehungen, unsere Kindheit und unsere Jugend wiederzufinden, die untrennbar mit diesen Sätzen, mit diesen Worten verbunden sind. An einem dieser Worte würden wir uns im Dunkel einer Grotte unter Millionen von Menschen als Geschwister wiedererkennen. Diese Sätze sind unser Latein, das Vokabular unserer vergangenen Tage, sie sind wie die Hieroglyphen der Ägypter oder Assyrer und Babylonier, Zeugen einer Lebensgemeinschaft, die aufgehört hat zu sein, aber in Texten weiterlebt, die vor der Wut des Wassers und der Zerstörung der Zeit gerettet wurden. Diese Sätze sind die Grundlage unserer familiären Einheit, die, solange wir leben fortbestehen wird, indem sie an den verschiedensten Punkten der Erde wieder neu entsteht.

Das also ist das Wundersame und das Spezielle: Dieses Lexikon, fragmentarisch wie es sein muss, zeigt und verbirgt, seine Sprache ist die Grammatik der Beziehungen als Evokation stereotyper, immer wieder wiederholter Sätze, in die dann, so darf man mutmaßen, die Grammatik der Gefühle und Bindungen verwoben ist. Aber das versteht man ja, weil zu einem anderen Stamm gehörig, nie so ganz. Das Schöne und Wundersame dieses Buches besteht also auch darin, dass man sich fragen darf, wie weit man Fremdes verstehen kann.

Titelbild

Natalia Ginzburg: Familienlexikon.
Aus dem Italienischen von Alice Vollenweider.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
187 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783803125637

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