Offen und kreativ bleiben

Róža Domašcynas Gedichtband „Stimmen aus der Unterbühne“ lotet Grenzen aus und zeigt neue Wege auf

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In das Leben eines jeden Menschen treten andere Menschen und verlassen es wieder, wie Protagonisten im Theater aus der Unterbühne auf- und abtreten. Róža Domašcyna lässt in ihrem neuen Gedichtband Stimmen aus der Unterbühne auftreten. Das lyrische Ich schaut gegen Ende des Lebens zurück. Es erinnert sich in sechs Zyklen aus Gedichten und prosahaften Fragmenten an die Zeit der deutschen Teilung und die Veränderungen durch den Mauerfall, an Ausflüge und Begräbnisse, an Flüchtlinge und Gier und Wahn im Kapitalismus. Es erinnert sich an den Weg, den es als Kind im Schulbus durch den Wald fuhr. Und es ruft den Leser dazu auf, sich ebenfalls an die Wege zu erinnern, die im Leben gegangen wurden. Róža Domašcyna lotet dabei Grenzen aus, nicht nur tatsächliche staatliche oder nur sprachliche, sondern auch selbsterschaffene, persönliche Grenzen und Ängste im Leben.

Es gibt Menschen, die sich nach Jahren der Freundschaft plötzlich entfernen. Sie zu verlieren kann schmerzhaft oder befreiend sein. Die Gedichte von Domašcyna widmen sich der Verarbeitung von Verlusten und leidvollen Erfahrungen, falschen Versprechungen und Einsamkeit. Zugleich lenken sie den Blick von der Rückschau auf die Zukunft . Das ist nicht leicht. An der „kante kommenden umbruchs“ steht da eine Seele, die „das wachstum aufgegeben“ hat; „unsere schlangenhaut/ werden wir nicht los“, ängstigt sie sich. Doch die Alleingelassene schaufelt sich hernach bildlich einen neuen Weg frei und wartet „auf die warme phase“. Lebensbejahend und positiv blicken die Akteure zum Jahreswechsel im Gedicht Aufs neue in die Zukunft. Denn trotz aller Rückschläge bleibt die Realität die Gegenwart, die Vergangenheit ist unveränderbar. Pläne sind nur für die Zukunft möglich.

Veränderungen sind notwendig, um mit dem Leben Schritt zu halten. Alles verändert sich und entwickelt sich weiter. Ähnlich wie der Lyriker Kito Lorenc, dem Domašcyna ein Gedicht in Stimmen aus der Unterbühne widmet, thematisiert sie auch sprachliche Wandlungsprozesse und wirft ein Schlaglicht auf den Einfluss des Sorbischen auf das Deutsche. Während bei Lorenc allerdings eine Verärgerung über Konvergenzprozesse, die in eine sprachliche Annäherung von Varietäten münden, deutlich zu spüren ist, steht Róža Domašcyna dem Wandel offener gegenüber. Zwar setzen sich beide Lyriker für die sorbische Sprache ein, erfinden neue Begriffe und versuchen, mit ihren Versen auch die Erinnerung an Verschwindendes zu erhalten. In Domašcynas Gedichtband gelingt dies trotz negativer Erfahrungen – dem Lachen über die fremde Sprache, die keiner verstehen will: „sie haben gesagt: lass sie im halse stecken“ –, von denen sie im Gedicht Kerne in der schachtel berichtet, mit einer positiven Haltung. Bei ihr stehen die beiden Sprachen gleichberechtigt nebeneinander.

Nicht nur Kito Lorence ist ein Gedicht gewidmet. Róža Domašcyna gefällt es, ihren Versen Zitate voranzustellen und beispielsweise eine Hommage an den Film Die Kraniche ziehen (UdSSR, 1957) einzuflechten oder die Motive des italienischen Malers und Mosaikkünstlers Paolo Uccello aufzunehmen. Sie versteckt die Bezüge nicht. In klarer Sprache führt sie die Drachen, Helden und Frauen Uccellos vor. Wie auf einer Bühne und unter Nutzung gebräuchlicher Phraseologismen aus der Bühnentechnik tummeln sie sich vor dem Leser, dem Domašcyna nicht ohne Grund Traumfiguren vorführt. Denn er soll sich daran erinnern, wie wichtig es ist zu träumen und dabei gleichzeitig zu genießen und Gewohnheiten zu hinterfragen. Im Gedicht Verstrickt erklärt das lyrische Ich, es habe eine Zeit gegeben, in der es das Leben selbstvergessen lebte. Nun sitze es da, in gebügelten Kleidern und mit Lippenstift, der erbleichende Lippen röten soll.

In einen Zustand der angepassten Spießigkeit zu geraten, soll verhindert werden. Selbstvergessenheit bedeutet keinesfalls seliges, gerührtes Augenverschließen. Träumen bedeutet in Stimmen aus der Unterbühne, Ideen zu entwickeln und offen für Neues zu sein. Wer zu lange verharrt, könnte es später bereuen. Soziales Verhalten wird postuliert – zusammenlegen, um einen Gast willkommen zu heißen. Die gewaltsame Umgestaltung der Natur wird kritisiert – Betonbauten, vergehende Gebäude, Steinbrüche und Schuttberge.

Róža Domašcyna zeigt dem Leser Wege auf und regt an, eigene Wege zu finden. Sie äußert deutliche Systemkritik. Nur als Kind könne man unbekümmert mit Weltereignissen umgehen. Stimmen aus der Unterbühne ist ein bemerkenswerter Gedichtband, der verdeutlicht, wie Kraft sogar aus negativen Erinnerungen gesogen werden kann und wie wichtig es ist, agil und kritisch zu bleiben, immer neue Ideen zu entwickeln und Pläne zu schmieden.

Titelbild

Róža Domašcyna: stimmen aus der unterbühne. gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2020.
120 Seiten , 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305055

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