Aus Sicht der Dinge

Ein Band über aktuelle Forschungsergebnisse zu materieller Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit

Von Rolf SchönlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Schönlau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das 2011 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena von Wirtschafts-, Sozial- und Kunsthistorikern sowie Literaturwissenschaftlern gegründete Netzwerk Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit, seit 2016 eingebunden in das zeitlich weiter gefasste Pendant zur Vormoderne, legt nun einen Ergebnisband seiner Forschungstätigkeit vor. Die Titelabbildung eines Stilllebens mit Prunkgeschirr und spülender Magd aus der Frankfurter Werkstatt von Martin van Valckenborch und Georg Flegel aus der Zeit um 1600 illustriert dabei den „Umgang der Menschen mit den Dingen“, wie die Herausgeberin Julia A. Schmidt-Funke das Thema in der Einleitung griffig benennt.

Der material turn wird als Antwort auf den linguistic turn verstanden, mit dem das Materielle zugunsten des Textuellen zurückgedrängt wurde. Diese Perspektivverschiebung – von Bruno Latour im Parlament der Dinge als Kritik an der menschlichen Beherrschung der Natur radikal formuliert – führt zur Fragestellung, inwiefern die Dinge den Menschen bestimmte Gebrauchsweisen anbieten, also Augen und Hände formen und soziale Beziehungen stiften. Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, Epochen wie Frühe Neuzeit oder Vormoderne, die sich begrifflich über das historisch Nachfolgende und damit letztlich die heutige Konsumgesellschaft definieren, durch inhärente Merkmale zu bestimmen.

Dass die Dinge auch als Vermögensspeicher dienten, bezeugt die im deutschsprachigen Raum seit dem 15. Jahrhundert übliche Inventarisierung des Privatbesitzes. Der sich rasant ausweitende atlantische und asiatische Fernhandel machte Exotika breiter verfügbar; neue Reproduktionstechniken führten dazu, dass immer mehr Menschen zumindest Kenntnis hatten von seltenen und spektakulären Objekten. Da die Dinge, nach der Formel von Hans Blumenberg, die Welt lesbar machten, man also etwa an der Kleidung den Stand der Person erkennen konnte, erhielten sie eine besondere Verführungskraft. In der Frühen Neuzeit versuchte man, den standesgemäßen Konsum mit entsprechenden Aufwandsordnungen zu reglementieren. Auch wenn in der Reformation die materiellen religiösen Gegenstände vom immateriellen Wort verdrängt wurden, fungierten religiöse Bücher in ihrer physischen Gestalt auch im Protestantismus oftmals als Nothelfer.

Fruchtbar gemacht wird der in der Einleitung dargelegte aktuelle Erkenntnisstand in insgesamt neun Beiträgen mit unterschiedlichen Zugängen zu den untersuchten Dingen, von Löffeln bis hin zu Gemälden. So zeigt die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin Janine Maegraith auf, wie der Fleischkonsum in der Frühen Neuzeit eingespannt war in ein komplexes regulatorisches Netz, bestehend aus Hoheitsrechten bei der Jagd, religiösen Vorschriften, erwarteten Gaben, Preis- und Zunftordnungen sowie Hierarchisierung der Fleischsorten, von Wild und Geflügel bis hinunter zum Schwein.

Überlieferte Spitalordnungen ermöglichen quantitative Angaben, die zumindest Tendenzen aufzeigen: Stand Fleisch in einem Spital in Ochsenhausen bei Biberach an der Riß 1608 wöchentlich auf dem Speiseplan, war dies 1720 nur noch einmal monatlich und 1816 viermal jährlich der Fall, sodass der zuständige Landvogteiarzt forderte, „dass der Mensch als Mensch und nicht als Grasfressendes Thier behandelt werde“. In den Klöstern wurde bekanntermaßen täglich Fleisch gegessen, an Fastentagen von kaltblütigen Tieren. Dass allerdings bis zu sieben Prozent der Gesamtausgaben eines Klosters für den Kauf von Fleisch verwendet wurden, ist eine erstaunliche Erkenntnis, die erahnen lässt, wie tief der Fleischkonsum als Indikator für Wohlstand und Lebensqualität in unserem Bewusstsein verankert ist.

Der Kunsthistoriker Michael Wenzel verfolgt die Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes aus der römischen Kaiserzeit, das 1506 in die Antikensammlung der Isabella d’Este gelangte. Er beschreibt das Gefäß im Latour’schen Sinn als Aktanten mit Handlungspotenzial, das als Sammlungsstück, Kriegsbeute, Kaufobjekt, Geschenk und Erbstück vielfach um- und aufgewertet wurde. Bekam der Soldat für das Gefäß, das er sich 1630 bei der Plünderung von Mantua allein wegen des Goldhenkels sicherte, von seinem Offizier 17 Dukaten, so erhielt dieser vom Herzog von Sachsen-Lauenburg, dem er es zum Geschenk machte, 2.000 Dukaten für seine Auslagen. Mit einer Provenienz aus dem Tempel König Salomos versehen, wurde es 1645 für 20.000 Dukaten der römischen Papstfamilie der Barberini angeboten, 1663 für 50.000 Reichstaler dem französischen Kardinal Mazarin.

Inzwischen Bestandteil der Kunstkammer auf Schloss Bevern, versuchte Herzog Ferdinand Albrecht vergeblich das Renommeestück zu veräußern. 1677 ließ er einen bemalten Bleiabguss nach Wien schicken, um für das Familienstück – die Kaiserin stammte aus Mantua – die Statthalterschaft von Tirol zu erhalten. Der brandenburgische Kurfürst bot Anfang der 1680er-Jahre gerade einmal 2.000 Reichstaler, und zwar ohne das vom Herzog erwünschte Amt in Minden. Zum musealen Objekt wurde das „mantuanische Geschirr“ schließlich 1766, als es per Erbregelung, auf 100.000 Reichstaler taxiert, in Braunschweig landete, wo es bis heute im Herzog Anton Ulrich-Museum zu sehen ist.

Wie kleine, ganz kleine und verkleinerte Dinge beim Produzenten und Rezipienten eine Geisteshaltung von Vorsicht, Disziplin, Körperkontrolle und Geduld einfordern, untersucht die Kunsthistorikerin und Anglistin Annette Caroline Cremer in ihrer Arbeit über Geduldsflaschen, Miniaturmalerei und Mikroschnitzerei. Auch wenn der Betrachter weiß, dass ein Buddelschiff zusammengeklappt in die Flasche geschoben und dann aufgerichtet wird, bleibt dennoch das Staunen über die Fertigkeit des Künstlers, der bei der Arbeit seinen Herzschlag verlangsamen müsse, wie es in Zedlers Universallexikon aus dem frühen 18. Jahrhundert heißt.

Ohne die Entwicklung visueller Hilfsmittel hätte es weder den berühmten Kirschkern mit 113 Gesichtern von 1589, noch die Micrographia von 1665 gegeben, in der Robert Hooke Dinge zeigte, die nicht mit bloßem Auge sichtbar waren. Allerdings misstrauten viele Zeitgenossen den Zeichnungen nach dem Mikroskop und bestanden auf dem Unterschied zwischen dem Wirklichen und dem nur Gesehenen. In die Reihe der Miniaturisierungen gehören auch die heutigen Nanoskulpturen, die samt Mikroskop präsentiert werden. Wenn es stimmt, „dass sich die subjektive Wahrnehmung von Zeit umgekehrt proportional zur Größe der Gegenstände verhält“, dann sind die kleinen Dinge – wie vielleicht die Beschäftigung mit dem Materiellen überhaupt – auch Entschleunigungsmaschinen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Julia Anette Schmidt-Funke (Hg.): Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit.
Böhlau Verlag, Köln 2019.
256 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783412507305

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