Das Hohelied des Unsichtbaren
In „Felix und die Quelle des Lebens“ widmet sich Eric-Emmanuel Schmitt dem Animismus
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit 1997 arbeitet Eric-Emmanuel Schmitt an seinem Zyklus des Unsichtbaren. Am Anfang steht eine Tetralogie der Weltreligionen, aus der vor allem Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran (2001) weltberühmt geworden ist. Der siebte Band der Reihe, Madame Pylinska et le secret de Chopin, liegt noch nicht in deutscher Sprache vor, wohl aber der Folgeband, Felix und die Quelle des Lebens, laut Eric-Emmanuel Schmitt die „Geschichte eines kleinen Jungen, der seine Mutter retten möchte“.
Der zwölfjährige Felix lebt in Belleville, multikulturell und multiplexes Stadtviertel im 20. Arrondissement. So bunt wie das Viertel sind auch die Menschen, die tagtäglich in das kleine Café mit dem Namen Büro kommen, das Fatou, alleinerziehende Mutter von Felix, in der Rue Ramponneau betreibt. Eines Tages erstarrt die gewöhnlicherweise lebensfrohe und agile Fatou, denn sie fühlt sich verantwortlich für den Tod eines Nachbarn, der an Lungenkrebs im Endstadium litt. In ihrer Apathie beginnt sie, zwanghaft Geld zu zählen und darüber hinaus zu putzen – keine Fläche, nicht einmal ihre eigene Haut, ist vor Eau de Javel sicher. Madame Simone, eine der StammkundInnen, sucht mit Fatou einen Psychiater auf, bevor der eigens aus dem Senegal angereiste Onkel Bamba zwei Marabouts hinzuzieht, die sich beide als geldabschneidende Scharlatane entpuppen. Erst als Felix‘ Vater, Félicien Saint-Esprit, kurz der Heilige Geist, vor der Tür steht, kommt Bewegung in Fatous „Javelsyndrom“. Mit Felix und Fatou reist er nicht in ein Café am Rande der Welt, sondern vom Pariser Café an den Rand der Welt – nach Afrika, dorthin, wo Senegal an Mauretanien grenzt. Während des Fluges nach Dakar und der anschließenden Reise über Land entwickelt Fatou lebensbedrohlich hohes Fieber, das genauso wie ihre Depression in ihrem Heimatdorf beseitigt wird.
Mit Felix wählt Schmitt erneut, so wie mit Momo in Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran, einen präadoleszenten Ich-Erzähler. Im Zuge der unreflektierten und kindlich-naiven Perspektive auf die Ereignisse bildet sich eine feine ironische Schicht zwischen dem Erzähler und seiner zunächst heilen Welt, entsteht eine Distanz zur Ernsthaftigkeit des Themas, ohne diese in irgendeiner Weise zu schmälern. Der Abstand hilft dem Jungen, das Beobachtete zu prozessieren, auszuhalten, was mit seiner Mutter, seinem „Vorbild für die Liebe“, seiner „Religion“ gar, geschieht.
In all seiner kindlichen Spontaneität und Reinheit ist Felix der einzige Charakter, dessen Affektwelt differenziert geschildert wird. Im Gegensatz dazu geben sich mit den Figuren, die Schmitt um das Café herum und in ihm konstruiert, eine Reihe von „Typen“ ein Stelldichein, typisierte Individuen im Sinne Honoré de Balzacs, deren Funktion darin besteht, den Stadtteil Belleville in seiner Vielfalt abzubilden und – auf der Ebene des Plots – Fatou mit ihrer regelmäßigen Präsenz ein tragfähiges Routinegerüst für den Alltag zu bieten.
Da ist in erster Linie Madame Simone, die eigentlich ein Mann ist und sich als Prostituierte verdingt, weil sie keine Anstellung in ihrem Beruf als Buchhalterin findet. Später wird sie sich als Retterin des Bistros erweisen. Hinzu tritt Monsieur Sophronides, der als Philosoph gilt, weil er von der Höhe seines Barhockers aus kluge Kommentare zum Weltgeschehen abgibt und von dem Felix sagt, dass er ihm „seinen kritischen Blick angedreht“ habe. Außerdem trifft man auf die „Konsumexpertin“ Mademoiselle Tran, die mit heiseren Lauten ihre Bewunderung oder ihr Erstaunen kundtut. Eine besondere Position nimmt Robert Larousse ein, in dessen Spitzname zwei berühmte französische Wörterbücher konkurrieren. Im wahren Leben repariert er Staubsauger, während er im Bistro seinen Larousse auswendig lernt und bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit seinem Lemma-Wissen glänzt. Felix, der ein brillanter Schüler ist, befindet sich somit in der Gesellschaft von „Onkeln und Tanten“ und obwohl er das Ein und Alles seiner Mutter ist, realisiert sie mit ihrer Erziehung ganz vortrefflich das berühmte nigerianische Diktum, nach dem es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind aufzuziehen.
Schon die typisierten Charaktere allein lassen Zweifel an der Gattungsbezeichnung Roman aufkommen. Nimmt man die Kürze hinzu und konzentriert sich insbesondere auf die spirituelle Botschaft, die – so wie in allen Texten des Zyklus des Unsichtbaren – dezidiert vermittelt wird, dann sollte man sich eher auf die Gattung Erzählung einigen oder, so wie Schmitt selbst sagt, „roman conte“, vielleicht sogar „conte philosophique“, wenn man die Komponente des Märchenhaften ausdehnt auf alles, was jenseits der Ratio und der menschlichen Sinnenwelt liegt. Lange Jahre hindurch habe er sich mit dem Animismus „herumgeschlagen“, so Schmitt, bis er verstanden habe, dass man ihm nur mit Fantasie auf die Schliche kommen könne. Man müsse ihn „fühlen“, dabei verstehen, dass das Unsichtbare die sichtbare Welt dopple. Dann gelange man zu einem Stadium der höheren Vernunft, in der die Macht des Poetischen regiere und der Welt Kohärenz verleihe. Man trete ein in das Symbolische, wo der Geist mit dem Geist geheilt werden könne. Falsche Ansätze dabei seien Scharlatanerie, so wie bei den Marabouts in Paris.
Der Heiler Papa Loum indessen, der mit seinem Hund und Beschützer Archimède, dazu Fatou, Felix und dessen Vater, in den Urwald vorstößt, versteht die Ars Medica, kann die spirituellen Mächte hinter den Erscheinungen nutzen, um Fatous Fieber, dem er heilende Wirkung zuschreibt, zu senken und ihre Lethargie zu vertreiben. Einem majestätischen Affenbrotbaum und dem Senegalfluss, der die Grenze zwischen Mauretanien und Senegal bildet, kommen dabei die entscheidenden Rollen zu, kann doch Fatou dort die Katastrophe ihrer Jugend noch einmal durchleben und anschließend davon erzählen. Fatou habe ihre „Verbindungen abgeschnitten“ und ihre Orientierungspunkte verloren, nur qua Vereinigung mit ihren Ahnen könne sie sich „wieder verbinden“. Wenn sie ihnen die „Präsenz der Abwesenheit“ einräume, könne sie „zur unsichtbaren Quelle“ gelangen, so Papa Loum. Eine ähnliche Lektion erteilt er Felix, indem er ihn auffordert, hinter das Sichtbare zu blicken und das Unsichtbare zu betrachten:
Suche den Geist, der alles hinter der Erscheinung erscheinen lässt. Und nähre dich von der Kraft der Welt, die ihr zugrunde liegt. Die unsichtbare Quelle ist überall, immer dort, wo du dich befindest, und du kannst sie fassen. Derjenige, der genau hinschaut, sieht sie schließlich.
Diese einfache und dennoch substanzielle Botschaft kann nicht nicht an Saint-Exupérys Kleinen Prinzen und das Wesentliche, das für die Augen unsichtbar bleibt, erinnern. So wie auf dem Planeten des Kleinen Prinzen kann auch für Fatou ein Affenbrotbaum zur Bedrohung werden, dann nämlich, wenn sie ihn nicht zähmt und die Bäume unbotmäßig proliferieren. Ein Affenbrotbaum hat ihr einst das Leben gerettet, die Erinnerung an ihn muss als Konstante erhalten bleiben, darf sich aber nicht verselbstständigen. Fatou dürfe keinen Rückfall erleiden, deshalb erteilt Papa Loum seinem Schützling Felix den Auftrag, auf das prekäre seelische Gleichgewicht seiner Mutter zu achten und regelmäßig mit ihr die sogenannte „Afrika-Übung“ durchzuführen. Sie besteht darin, im Verlauf einer Achtsamkeitsmeditation Afrika nach Paris zu holen.
Die sehr allgemein gehaltene Variante des Animismus und ihre therapeutische Wirkung kommen einer heilenden Retraumatisierung gleich, einer Exposition, die Fatous posttraumatische Belastungsstörung, verborgen im Gewand der anankastischen Depression, in „Kalküleritis“ und „Javelleritis“, kurzzeitig stärker hervorbrechen und dann verschwinden lässt. Papa Loum ist ein naturverbundener Psychotherapeut ohne akademische Ausbildung, der sich im Gegensatz zu den Marabouts seiner Verantwortung voll bewusst ist.
Eric-Emmanuel Schmitt hat zum wiederholten Mal ein rundum optimistisches Buch vorgelegt, dessen Lektüre von Anfang bis Ende Freude bereitet. Felix und die Quelle des Lebens feiert Transzendenz und Fantasie. Der schnörkellos und ohne Experimente erzählte „roman conte“ weist einen leicht evasiven Grundzug auf, der von seinem spirituellen Tiefgang tendenziell wettgemacht wird. Letztendlich dominiert eine existenzielle Zuversicht, die alle Probleme wohltuend überstrahlt. Die Übersetzung ins Deutsche muss sich jedoch die Frage gefallen lassen, weshalb der französische Titel nicht wörtlich (Felix und die unsichtbare Quelle) übertragen wurde, zumal im Text ausschließlich von der „unsichtbaren Quelle“ die Rede ist. Abgesehen davon kommt der deutsche Text fast so leichtfüßig wie das Original daher, das dafür prädestiniert ist, genauso wie Monsieur Ibrahim, sich als feste Größe im Französischunterricht deutscher Gymnasien zu etablieren.
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