1111 Jahre und ein Tag
Bart van Loo erzählt im Plauderton, aber exakt vom verschwundenen Reich „Burgund“ in der Mitte Europas
Von Georg Patzer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas burgundische Jahrhundert oder Wie in einer Epoche der auf blühenden Städte, des erwachenden Individualismus und aussterbender Ritterideale Philipp der Kühne, Johann Ohnefurcht und Philipp der Gute eine neue Dynastie begründeten, die sich bald die reichste, mächtigste und protzigste Europas nennen durfte; aber auch, wie diese burgundischen Herzöge durch Schlachten, Heiraten und Reformen die zersplitterten Niederen Lande zu einem Ganzen zusammenschmiedeten; und nicht zuletzt, wie in ihrem Dunstkreis die unvergesslichen Kunstwerke von Claus Sluter, Jan van Eyck und Rogier van der Weyden entstanden.
Das ist nicht der halbe Titel eines Barockromans, sondern die Kapitelüberschrift in einem neuen Sachbuch über eine Region, die seltsamerweise gar nicht mehr so sehr in unserem Gedächtnis ist, obwohl sie einmal einen großen Teil Europas beherrschte. Das „burgundische Jahrhundert“ ging von 1369 bis 1467, aber vorher kamen noch weitere 1000 Jahre, in denen sich das Land formierte und zu einem Staat im Staat Frankreich wurde. Im 14. und 15. Jahrhundert aber hatte es seine größte Ausdehnung erreicht: Es reichte von Dijon bis Antwerpen und Amsterdam. Burgund wurde zu einem wichtigen politischen und militärischen Machtfaktor in Europa, dabei förderte es die Künste und Religion des Spätmittelalters ebenso wie die Renaissance und den Humanismus. Und dann verschwand es ebenso plötzlich wieder und ist heute nur noch eine Provinz in Frankreich, wenn auch eine der schönsten, mit Wein, den hellbraunen Rindern und der größten Dichte an Fünfsternerestaurants im ganzen Land, mit prächtigen Renaissancehäusern und verschwiegenen Klöstern, mit den Schlössern von Madame de Sévigné und ihrem Cousin Bussy-Rabutin, mit Cluny und Cîteaux.
In Deutschland kennt man die Burgunder auch noch aus den Nibelungen-Geschichten und den locker darauf basierenden Wagner-Opern, in denen der Burgunderkönig Gunther durch seine Frau Brünhild in allerlei Händel mit Kriemhild und Siegfried verwickelt wird. Bei Historikern heißt er Gundahard und hat vielleicht in Mainz, vielleicht in Worms residiert. Während der Völkerwanderungszeit waren die Burgunder immer wieder vertrieben worden, ursprünglich kamen sie wohl aus dem Norden, von Bornholm – die Insel hieß im Altnordischen Burgundarholm. Und vom Rhein wurden sie weiter vertrieben nach Westen, den Nibelungenschatz konnten sie, wie bekannt, nicht mitnehmen.
Ein neues Sachbuch erzählt jetzt die ganzen 1111 Jahre des Königreichs, später Herzogtums und beinah noch einmal Königtums Burgund auf über 600 Seiten, und zwar so süffig und lebendig, dass es sich wie ein Roman liest. Die historischen Fakten stimmen dennoch, denn der Niederländer Bart Van Loo ist ausgewiesener Historiker. Aber sein Stil hebt sich wohltuend von oft so trockenen Aufzählungen von Daten ab. Und so kann man sich die Geschichte auch einprägen: in ihren Geschichten und in präzisen literarischen Formulierungen. Beim Übergang zum Christentum heißt es etwa: „Der Glaube gedieh auf der Verzweiflung der Hörigen und dem Reichtum des Adels wie Brennnesseln und Rosen auf einem Misthaufen.“
Van Loos Fokus liegt allerdings auf dem 15. Jahrhundert, als Burgund mit die wichtigsten Anstöße für die Entwicklung der Moderne gab: So hielt sich Karl V. an seine Zusage, Luther für den Reichstag in Worms 1521 freies Geleit zu gewähren – hätte er ihn verhaftet und hingerichtet, hätte es vielleicht nicht einmal eine Reformation gegeben. Im Norden Burgunds, bei Gent und Brügge, entstand damals die moderne Textilindustrie und das Finanzgeschäft: „Ter Beurze“ hieß das größte Geldhaus in Brügge und gab der Börse ihren Namen. Das „burgundische Jahrhundert“ beginnt mit Philipp dem Kühnen, der 1361 Burgund als Lehen vom französischen König Johann erhielt und es durch eine geschickte Heiratspolitik um Flandern und Holland erweitern konnte – ein riesiges Reich in der Mitte Europas. Sein Sohn Johann Ohnefurcht ließ 1407 seinen Cousin Ludwig von Orléans ermorden und stürzte das Land in einen Bürgerkrieg, sein Sohn Philipp der Gute liefert 1430 Jeanne d’Arc an die Engländer aus. Sie alle zusammen schufen eine leistungsfähige Verwaltung und die modernste Armee ihrer Zeit, und ihre Prachtentfaltung war ohne Beispiel, denn damit wollten sie zeigen, dass sie eigentlich Könige war, nicht nur Herzöge.
Der letzte große burgundische Herrscher schließlich war Kaiser Karl V., nicht nur humanistisch gebildet, sondern auch ein großer Feldherr, er gewann Schlachten gegen Franz I. von Frankreich (vier Mal), bei der Wiener Türkenbelagerung 1529, gegen Suleyman den Prächtigen bei Tunis und 1547 gegen den sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich I. Er war der einzige Kaiser, der jemals abdankte: 1555, weil er sein gesamteuropäisches Konzept eines geeinten Reichs nicht durchsetzen konnte.
All das und noch viel mehr erzählt van Loo sehr sinnlich, zuweilen etwas flapsig, aber vor allem mit viel Gespür für viele, viele Details. Seine Beschreibungen von burgundischen Festmahlen lassen einem das Wasser im Mund zusammenlaufen, seine Erzählungen von Schlachten erinnern manchmal an Szenen aus der Game of Thrones-Serie, die Alltagsszenen an die BBC-Serie Rom. Hier als Beispiel die Szene, wie Johann Ohnefurcht 1407 Ludwig von Orléans ermorden ließ:
(Ludwig) glaubte, alles unter Kontrolle zu haben, zumal in Paris über sechshundert Ritter und Schildknappen lagen, die er mit einem Fingerschnippen zu den Waffen rufen konnte. Nur hatte er jetzt keine Lust, erst eine schwer bewaffnete Eskorte zu sich zu beordern. Warum sollte er? Vom Hôtel Saint-Pol, dem riesigen Palastkomplex im Marais, den sein Bruder Karl bewohnte, trennten ihn nur wenige Straßen. War er nicht der allmächtige Herzog von Orléans, dem jeder Platz machte? Zwei Schildknappen zusammen auf einem Pferd ritten vor ihm her, sechs Männer mit Spießen und Fackeln gingen vor und hinter ihm. Gemächlich zogen sie durch die Rue Vieille-du-Temple, die Stimmung war friedlich. […] Als Orléans und seine Begleiter am Abend des 23. November an der Porte Barbette angekommen waren, sprang eine Gruppe maskierter Männer aus den Schatten der Gebäude. Einer von ihnen schrie: „À mort! à mort!“ und verpasste Orléans einen Hieb mit einer Axt, was aber nicht ausreichte, um ihn von seinem Reittier zu stürzen. Er rief sogar noch aus voller Brust: „Ich bin der Herzog von Orléans!“, als wäre er sich sicher, dass die vermeintlichen Räuber dann schnell von ihm ablassen würden. Die Antwort belehrte ihn eines Besseren: „Das ist der, den wir suchen!“ Nach einem zweiten Hieb stürzte er von seinem Maultier. Er richtete sich schnell auf die Knie auf und rief: „Wer ist das? Wer tut das?“ Die Angreifer erschlugen ihn mit Knüppeln und Äxten; seine linke Hand, die er zur Faust ballte, wurde abgehackt.
Sein Knappe Jacob van Mekeren, der aus Horssen bei Nimwegen stammte, hatte sich noch als lebendiger Schild auf seinen Herrn geworfen, was für ihn den sicheren Tod bedeutete. „Mord! Mord!“ schrie eine Dame an einem Fenster. Die Mörder schossen ein paar Pfeile zu ihr hinauf und brüllten, dass sie den Mund halten solle. Das tat sie, schilderte aber hinterher das Geschehen in allen Einzelheiten.
Als der fünfunddreißigjährige Herzog kein Lebenszeichen mehr von sich gab, zogen sich die gedungenen Mörder langsam zurück. Von seinem linken Auge zu seinem rechten Ohr verlief eine klaffende, grässliche Wunde, aus der sein Gehirn quoll. Einer verpasste ihm rasch noch einen letzten Hieb mit dem Knüppel, ein anderer warf eine brennende Fackel in eines der Häuser. Mit dem Ruf „Feuer! Feuer!“ verschwanden sie in der Nacht.
Natürlich werden strenge Historiker das allzu plastisch finden und angreifen, aber im Grunde wird so Geschichte erst erfahrbar, deutlich und einprägsam. Und die Fakten stimmen.
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