Prozesse und Ausdrucksformen der Entfremdung

Christoph Deupmann über literarische Figurationen des Heimkehrers nach dem Ersten Weltkrieg

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Zeit nach dem Krieg steht immer im Schatten des Krieges.“ Mit diesem Diktum leitet Christoph Deupmann seine Studie über die „verlorene Generation“ ein, die im Literaturbetrieb der Weimarer Republik einige Prominenz erlangt hat. Die Botschaft ist ebenso banal wie triftig, denn dass Kriege im Frieden so oder so fortwirken, lässt sich durch mannigfache Evidenz erhärten. Schließlich ist anderes, nämlich ein nahtloser Übergang in die gewöhnlichen Tagesgeschäfte kaum vorstellbar. Das gilt vor allem dann, wenn ein zukunftsfroh begonnener, nach vier langen Jahren mit schweren Opfern erkaufter Krieg verloren geht. Während im Sommer 1914 die deutschen Regimenter blumenbekränzt und voller Zuversicht auf die Schlachtfelder gezogen waren, kehrten sie im Herbst 1918 geschlagen und erheblich dezimiert, müde und demoralisiert zurück in die Heimatgarnisonen. Die Soldaten wurden demobilisiert und in eine von revolutionärer Unrast gebeutelte, prekäre Gegenwart und eine höchst ungewisse Zukunft entlassen. Hinzu kam, dass der von den Siegermächten dekretierte Friedensvertrag keine dauerhafte Stabilität in die europäischen Verhältnisse brachte. Es war ein Diktat, beherrscht vom Bedürfnis nach Demütigung und Schuldzuweisung, versessen auf militärische, politische und wirtschaftliche Niederhaltung der einstigen Kriegsgegner.

All dies machte in Deutschland und in Österreich den Wechsel vom Krieg in den Frieden zu einer prekären kollektiven wie individuellen Erfahrung. Die Stützpfeiler der vormaligen Existenz waren, wo nicht weggebrochen, so beschädigt, das monarchische Regime war gleichsam über Nacht implodiert, Orientierung wohlfeil und die nunmehr zu errichtende Ordnung heftig umkämpft. Der Krieg mündete in Bürgerkrieg oder doch wenigstens in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen. Im Osten, wo rasch rekrutierte Freikorps grenz- und raumpolitische Ziele verfolgten, schwelte er ohnehin weiter. Gewalt überflutete die Straßen und Plätze, ließ die Menschen weder zur Ruhe noch zu wägender Überlegung kommen. Die moralischen und sozialen Folgekosten des Krieges waren einstweilen kaum abzusehen. Nötig im Sinne gedeihlicher Entwicklung war die Bereitschaft zu Einkehr und Umkehr, zu skrupulöser Durchdringung und Erhellung der erlebten Vergangenheit. Tatsächlich jedoch dominierte allenthalben der Hang, die erlittene und selbst verschuldete Niederlage zu verdrängen, die Taten der Armee zu glorifizieren und deren Führer auf einen Sockel zu heben, den sie nicht verdienten. Im Verein mit den zahlreichen Lasten des Alltags, dem Mangel an Nahrung und Wohnraum, überhaupt unkalkulierbar gewordenen Daseinsbedingungen spielte dies nicht den Anhängern, sondern den Ideologen von rechts, den Feinden der jungen, noch kaum gefestigten Demokratie in die Hände.

Mit derartigen Konstellationen sahen sich die heimkehrenden Truppen allenthalben konfrontiert. Die Soldaten kehrten zurück in eine Heimat, die nicht mehr so war, wie sie sie verlassen hatten. Erwartung und Realität klafften auseinander, das Bedürfnis nach Veränderung war beinahe so groß wie das nach Kontinuität. Die Heimkehr war, wie Deupmann sein erstes Kapitel betitelt, „schwierig“. Die Erfahrungen der Zurückgebliebenen, die der Frauen, Kinder und Greise an der „Heimatfront“, und die der Ehemänner, Söhne und Väter, die im Schatten des Todes in den Schützengräben gelegen hatten, waren einander nicht leicht zu vermitteln. Um so stärker waren die Schriftsteller gefragt, um Erklärungen zu liefern, Schicksale zu gestalten, Situationen auszuleuchten, womöglich Trost zu spenden, zumindest aber Nachdenken anzuregen. Damit ließen sie sich bis zum Ende der zwanziger Jahre Zeit, als die Risse im Gebälk der Republik schon unübersehbar geworden waren. Zudem zeigte sich, dass Erzählungen über den Krieg und die Krieger populärer waren als solche über die Suchbewegungen der Davongekommenen, die danach strebten, sich wieder einzufinden in eine Normalität, die sie vielfach nicht mehr als die ihre betrachteten.

Von der Heimkehr als lastender Hypothek handeln die Theaterstücke und Romane, die Deupmann einer jeweils ausführlichen, kenntnisreichen, auch vergleichenden Analyse unterzieht. Ihr vorgeschaltet sind allgemeine Überlegungen, die verschiedene Aspekte und Dimensionen des Themas beleuchten. Gestützt auf Befunde der aktuellen Forschung und der zeitgenössischen Publizistik, geht es unter anderem um das Begriffspaar Heimat und Front, um den Erfahrungs- und Imaginationsraum Heimaturlaub, um konfliktbeladene generationelle Konstellationen, nicht zuletzt um das Befremden, das die (Wieder-)Begegnung mit der Heimat auslöst. Für letzteres steht als Motto ein Zitat aus Hermann Brochs Schlafwandlertrilogie: „So richtig nach Hause kommt keiner mehr.“ Erich Kästner sprach rückblickend davon, dass niemand die demobilisierten Soldaten hätte haben wollen. Deren „Ort“ sei das „Nirgends“, allein gelassen von der Gesellschaft, im schlimmsten Fall auch von Freunden und Anverwandten. Das war das, was Kästner „Heimkehr dritter Klasse“ nannte, eine, die der Lorbeerkränze entbehrte, stattdessen Traumata und Beschädigungen mannigfacher Art im Schlepptau hatte. Die an der Front herbeigesehnte Heimat mutierte nicht selten zur Fremde, das Einleben dort wurde begleitet von Gefühlen gegenseitiger, nicht selten irreversibler Distanz, von Missvergnügen und wechselseitigem Unverständnis.

In den Texten, die Deupmann im zweiten Teil seines Buches untersucht, gerät Heimkehr zur sozialen und individualpsychologischen Versuchsanordnung. Vergegenwärtigt werden Prozesse der Entzweiung. Der Wunsch, den Krieg mir nichts dir nichts hinter sich zu lassen, einzutauchen in eine nicht mehr greifbare Normalität, entpuppt sich regelmäßig als Illusion. Ernst Tollers an Büchners Woyzeck gemahnender Hinkemann kommt zurück als Verstümmelter, hat ein Bein und seine Manneskraft eingebüßt. Die Furcht, dass andere ihn verlachen und er zur lächerlichen Figur denaturiert, hemmt ihn, wird zur Obsession, über der er die Liebe seiner Frau verliert, führt allerdings auch zu selbstkritischer Einsicht seiner Schuld: „Als ich mich hätte wehren sollen“, gesteht er, „damals als die Mine entzündet wurde von den großen Verbrechern an der Welt, die Staatsmänner und Generäle genannt werden, habe ich es nicht getan.“ Auch Andreas Pumm in Joseph Roths Roman Die Rebellion wird von den Schlachtfeldern des Krieges als Versehrter ausgeworfen, verzweifelt an seinem Schicksal zunächst jedoch nicht und vertraut auf die Fürsorge des heimatlichen Gemeinwesens, gerät in die Fänge der Justiz, wird kriminalisiert, verliert den Glauben an die Gerechtigkeit der göttlichen wie der irdischen Weltordnung und endet als Aufsicht in der Herrentoilette eines Kaffeehauses: ein, wie Roth schreibt, mit zusammengekauften Auszeichnungen geschmückter „Invalide im Klosett“.

Jakob Wassermanns Protagonist, der Architekt Faber, findet im gleichnamigen Roman nach mehrjähriger Abwesenheit und der Flucht aus einem russischen Kriegsgefangenenlager seine Frau vor, die sich inzwischen einer karitativen Tätigkeit anheimgegeben hat, ganz in ihr aufgeht und insoweit in eine eigenständige, vom Mann unabhängige Lebenswelt eingetaucht ist. Er sei, charakterisiert ihn Deupmann, „der Prototyp des Heimkehrers, der sich in die schwer einzunehmende Bastion seiner Bitterkeit eingeschlossen hat.“ Faber, der keine Arbeit findet, fühlt sich überflüssig und zweifelt, ob er in die gewandelten Geschlechterverhältnisse des Nachkriegs hineinpasst. Die Entfremdung, die sich über die Eheleute hinbreitet, und der Vertrauensverlust, der damit einhergeht, erweisen sich als irreparabel, der Versuch einer sexuellen Wiederannäherung scheitert. Er könne ohne seine Frau nicht leben, bekennt Faber, aber, fügt Deupmann hinzu, „mit ihr offenbar auch nicht.“ Eine weitere Beziehungsgeschichte, aber anders begründet, bietet Hans Sochaczewers Menschen nach dem Kriege. Ludwig Brand, wie Faber ein Architekt, erlebt das Kriegsende nicht an der Front, sondern verpasst es gewissermaßen im Lazarett. Die Niederlage mag er weder akzeptieren, noch kann er die Scham darüber verwinden. Die Beziehung zu seiner Frau wird verschattet durch verstocktes Schweigen und die nicht vollzogene „Trennung vom Kriege“. Auf diese Weise hat er ihr, so seine Erkenntnis am Ende, „zehn Ehejahre zerstört“, ohne dadurch den eigenen „Kummer gemindert“ oder „dem Vaterlande genützt“ zu haben.

Nicht von Liebe, psychologischen Konstellationen und seelischen Verstörungen ist in Ludwig Renns autobiographisch grundiertem Roman Nachkrieg die Rede, sondern vom militärischen Alltag eines Feldwebels in den Wirren des Übergangs vom Krieg in den Frieden, von reaktionären Offizieren und den Halbherzigkeiten sozialdemokratischer Funktionäre. Der Ich-Erzähler, anfangs eine eher desinteressierte Natur, schildert seinen Weg zu politischer Bewusstwerdung, der gleichbedeutend ist mit Widerstand gegen inakzeptable Befehle und Erwartungen seiner Vorgesetzten. Die schnörkellos dargebotene Geschichte ist das Präludium für die Hinwendung zu politischer Aktivität. Er sei „entwurzelt und hoffnungslos“ gewesen, lautet die rückblickend interpretierende Schlussformel, ehe er Jahre später „endlich den Weg zum Kommunismus“ gefunden habe.

Vergleichbare Gewissheiten und Perspektiven sind den Figuren in Erich Maria Remarques Romanen Der Weg zurück und Drei Kameraden prinzipiell fremd. Sie sind die eigentlichen Repräsentanten derjenigen Gruppe, die Deupmann mit dem Titel seines Buches im Auge hat. Entsprechend umfangreich fällt seine Würdigung aus. Den Kammerton dafür hatte Remarque bereits im Motto zu seinem Weltbestseller Im Westen nichts Neues angeschlagen. Sein Buch wolle weder „Anklage“ noch „Bekenntnis“ sein, war da zu lesen, sondern „nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“ Die beiden 1931 bei Propyläen in Berlin und dann 1938 bei Querido in Amsterdam erschienenen Nachfolgebände ziehen die damit vorgezeichnete Linie aus und begleiten die nunmehr heimkehrenden bzw. heimgekehrten Soldaten auf ihren Wegen in eine zivile Existenz. Das umspannt einen Zeitraum von ungefähr zehn bis zwölf Jahren, reicht von den revolutionären Anfängen der Weimarer Demokratie bis zur Phase der beginnenden Agonie.

Hier finden sich sämtliche Topoi, mit denen Remarque die „verlorene Generation“ ausstaffiert: die Sprachlosigkeit zwischen Alt und Jung, die Kluft zwischen, wie Deupmann notiert, „selbstgefälliger Heimatfrontrhetorik und Fronterfahrung“, die auseinandergefallenen Sagbarkeitsregeln und „Relevanzsysteme“, die Formen der Selbstermächtigung, in der die Gewalt des Krieges fortdauert, überhaupt die Schwierigkeiten, wirklich anzukommen in einer Welt, deren Selbstverständlichkeiten ihnen durch die auf den Schlachtfeldern hingebrachten Jahre abhanden gekommen sind und die ihrerseits sich sperrt gegen den Habitus und die Erwartungen der heimgekehrten Krieger. Kameradschaft ist das Referenzsystem, nicht die plurale, innerlich zerrissene zivile Gesellschaft. Parteien jedweder Couleur schlägt Desinteresse, wo nicht Verachtung entgegen. Remarques Romane präsentieren ein „regelrechtes Panorama aller möglichen Heimkehrerschicksale“, resümiert Deupmann. Was nicht mit ihrer von den Fronten geprägten Lebenswirklichkeit übereinstimmt, wird skeptisch betrachtet, die Revolution, sagt einer, sei gemacht worden „mit den Händen an der Hosennaht“. Ein anderer schreit seine Wut heraus, in der freilich auch eine gehörige Portion Sentimentalität steckt: „Eine Generation ist vernichtet worden!“ Diese Selbsteinschätzung überdauert die Jahre des unmittelbaren Nachkriegs, bestätigt von den Protagonisten des Romans Drei Kameraden, die sich als „Orden der Erfolglosen, Untüchtigen“ einstufen: als Männer mit „Wünschen ohne Ziel“, mit einer „Sehnsucht, die nichts einbringt“, einer „Liebe ohne Zukunft“ und einer „Verzweiflung ohne Vernunft“.

Der Frontkämpfer wird so, schreibt Deupmann, zum „displaced hero“, der freilich zum Gelingen einer lebenswerten Nachkriegsordnung wenig bis nichts beizusteuern vermag, dies auch nicht unbedingt will. Bei Remarque überwiegt ein Ton, der zwischen ostentativer Lässigkeit und gepanzerter Abständigkeit oszilliert. Hinter dessen Fassade schimmert Selbstmitleid und Verzweiflung hindurch. Sigmund Freud hatte schon im September 1918 darauf aufmerksam gemacht, dass die Kriegsneurosen in einem „Ichkonflikt“ wurzelten: nämlich „zwischen dem alten friedlichen und dem neuen kriegerischen Ich des Soldaten“, der sich mit der Heimkehr gewissermaßen umkehrt. Zu den mannigfachen Erscheinungsformen, in denen sich das ausprägen konnte, und den Strategien, dies literarisch zu vergegenwärtigen, liefert Deupmanns anregende Studie reiches Anschauungsmaterial.

Titelbild

Christoph Deupmann: Die verlorene Generation. Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg in der deutschsprachigen Literatur.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2019.
403 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783825346867

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