Zur Frage der Möglichkeit von ‚wilder‘ Kunst im 18. und 19. Jahrhundert

Sebastian Kaufmanns „Ästhetik des ‚Wilden‘“ als umfassendes Nachschlagewerk

Von Christine EickenboomRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Eickenboom

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Bewusstsein um „das Fremde“ oder „den Fremden“ und die Auseinandersetzung mit entsprechenden Lebenswelten und -formen beschäftigt spätestens seit der Zeit der europäischen kolonialen Expansion. Insbesondere die Auswirkungen des „Fremden“ auf das eigene Erleben und Empfinden, die Bewusstwerdung von Mechanismen zur Abgrenzung und auch die Entwicklung des Selbst, als Individuum wie auch als Gesellschaft, waren und sind Gegenstand disziplinübergreifender Untersuchungen, die je nach Zeitpunkt ihrer Durchführung und Schwerpunktsetzung unter anderem in der Ethnologie, den Geschichtswissenschaften, der Psychologie bzw. den Sozialwissenschaften oder den Kulturwissenschaften durchgeführt werden.

In der germanistischen und kulturwissenschaftlichen Forschung erlebte die Beschäftigung mit Fragen der Alterität(sdarstellung) im deutschsprachigen Raum eine Intensivierung der Betrachtung beispielsweise mit Beginn des 21. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Postkolonialen Literaturtheorie. Sebastian Kaufmann hat mit seiner Ästhetik des ‚Wilden‘ eine Studie vorgelegt, die aufzeigt, wie die Postulate von Anthropologie und Ethnologie sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts mit Fragen der philosophischen Ästhetik verbinden bzw. wie letztere Einfluss auf diese nimmt.

Kaufmann orientiert sich in seiner Untersuchung an der chronologisch nachweisbaren Veränderung eines das „Fremde“ immer in Verbindung zur eigenen kulturellen Identität setzenden Ästhetikbegriffs. Mit diesem Nachweis der wechselseitigen Einflussnahme von Fremd- und Selbstwahrnehmung folgt er einer Reihe von Untersuchungen, die sich, in unterschiedlichen Teilgebieten, mit der Bedeutung dieser Gegenüberstellung auseinandergesetzt haben (beispielhaft für die jüngere Vergangenheit können hier die in den Postkolonialen Studien in der Germanistik veröffentlichten Auseinandersetzungen, Michael C. Franks Arbeit Kulturelle Einflussangst (2006) oder Christiane Weller, die sich in ihrer Untersuchung Das fremde Ich (2015) dieser Einflussnahme aus psychoanalytischer Perspektive genähert hat, und natürlich eine Vielzahl von Untersuchungen zu Reisebeschreibungen der letzten Jahrhunderte, genannt werden).

Gerade die um 1800 noch nicht vollzogene Trennung nach Einzeldisziplinen bedingt, dass die für diese Untersuchungen herangezogenen Quellen häufig übereinstimmen, so dass mit der Zeit ein umfassender Blick auf so unterschiedliche bedeutende Werke wie Georg Forsters oder James Cooks Reisebeschreibungen, Christoph Martin Wielands Agathon und Abderiten oder Johann Gottfried Herders, Johann Wolfgang von Goethes und Friedrich Schillers Ausführungen zum „Wilden“ entstehen kann.

Kaufmann hat sich darüber hinaus auch mit Texten auseinandergesetzt, die bis dahin, wie er selbst sagt, noch Desiderate in der Forschung bildeten, nämlich Herders Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker (1773) und John Hawkesworths An Account of the Voyages Undertaken by the Order of His Present Majesty for Making Discoveries in the Southern Hemisphere (ebenfalls 1773).

Insgesamt betrachtet bilden das Korpus der Studie „Texte, in denen es explizit um ästhetisch-anthropologische Reflexionen auf ‚fremde‘ Völker geht, die als ‚wild‘ bzw. ‚barbarisch‘ eingestuft werden “ und die aus ganz unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen kommen. So handelt es sich nicht allein um die Betrachtung fiktionaler, sondern durchaus auch faktualer und wissenschaftlicher Ausführungen.

Einleitend stellt Kaufmann die Bedingungen vor, unter denen um 1800 Fremdwahrnehmung erfolgt ist. In Abgrenzung zum Europäer lag der Fokus auf ästhetischer Alterität, was in der Hauptsache körperliche Merkmale, aber auch ein ästhetisches Verhalten einschließt. Die Unterteilung des Werkes in die Komplexe „Körperästhetik ‘“ und „Kunstsäthetik“ basiert auf der „Differenzierung zwischen Physio-Ästhetik einerseits und Kunst- und Schönheitstheorie andererseits“, beide Teile nehmen etwa gleichlangen Raum in Anspruch. Ästhetische Produktion als Folge von ästhetischem Verhalten habe die Frage nach sich gezogen, ob außerhalb Europas Kunst überhaupt möglich sei. Der in der Studie behandelte Zeitraum wird mit einer unauflösbaren Verschränkung von Ethnologie und Ästhetik in den Jahren 1750 bis 1850 begründet, erst nach 1850 habe man neue Wege beschritten. Die besprochenen Texte werden zum Teil in beiden Abschnitten behandelt, was die Verschränkung beider Bereiche unterstreicht, durch die deutliche Übertitelung der einzelnen Abschnitte ist es dennoch unproblematisch, die Ergebnisse auch zusammenhängend zu rezipieren.

Kaufmann stellt verwendete Begriffe und Konzepte wie die Unterscheidung zwischen „Natur-“ und „Kulturvölkern“, der „Edle Wilde“ als stereotype Kippfigur, die Parallelisierung von „Wilden“ und „Barbaren“ oder das Konzept des Primitiven vor und erläutert sie. In der Verbindung der als Hauptteile des Werks gekennzeichneten Bereiche Kunst- und Schönheitstheorie auf der einen und Ethno-Anthropologie auf der anderen Seite werde die Verzahnung der seit Mitte des 18. Jahrhunderts getrennt betrachteten Zweige „Anthropologie des Einzelmenschen“ und „Ethno-Anthropologie“ deutlich. Ebenfalls einleitend geht er auf die Problematik der seit den 1980er Jahren (auch) in der literaturwissenschaftlichen Anthropologieforschung geführten Methoden- wie auch Gegenstandsdiskussion unter Nennung der entsprechenden Forschungsbeiträge ein, die er für sich lösen will, indem er durch die Wahl seines Materials und der Fragestellung zwischen den Positionen vermittelnd auftritt.

Der erste Teil der Studie setzt sich mit dem Stereotyp des „Edlen Wilden“, der hinreichend bekannten Antikisierung von „Fremdem“, die notwendig war, um bei alleiniger Anerkennung eines griechischen (und also europäischen) Schönheitsideals Schönheit auch dort anerkennen zu können, und der differenten Haltung von Johann Joachim Winckelmann und Gotthold Ephraim Lessing in der Frage, welche Kunstform die höchste Form von Kunst darstelle, auseinander. In seiner Argumentation wendet sich Kaufmann dezidiert gegen die Behauptung, Lessing sei für einen ästhetischen Relativismus eingetreten, stattdessen sei auch er wie schon Winckelmann einer „Mainstream-Ästhetik [seiner] Zeit“ gefolgt.

Am Beispiel von Wielands Romanen Agathon und Die Abderiten geht er auf die in dieser Zeit vielfach diskutierte Frage nach den abweichenden Schönheitsvorstellungen der verschiedenen Völker ein. Seiner Meinung nach spiegelt die Unterschiedlichkeit der Standpunkte Agathons und Hippias‘ die Unmöglichkeit, die aus den unterschiedlichen Standpunkten der ästhetischen Betrachtung entstehenden Fragen aufzulösen. Erst in den Abderiten sei ein physio-ästhetischer Kulturrelativismus tatsächlich erkennbar, im Dialog der weiblichen Abderiten mit Demokrit sei die Entwicklung einer das Schönheitsideal der Fremden und darüber hinaus ihre Schönheit selbst anerkennenden Position erkennbar. Dadurch gewinne Wielands Roman eine herausragende Stellung in der Auseinandersetzung bezüglich der Frage der Anerkennung von Schönheitsidealen.

Schließlich behandelt Kaufmann die wissenschaftlichen Studien von Johann Caspar Lavater zur Bestimmung von Körpermerkmalen, die die auf das europäische Schönheitsideal gestützte These von der Hässlichkeit als Ausdruck moralischer Verwerflichkeit fördern, und die dazu mit Georg Christoph Lichtenberg geführte Kontroverse. Auch in der Kraniometrie und Neuroanatomie dient um 1800 der „Wilde“ zur Bestimmung von Andersartigkeit. Peter Campers Gesichtslinienlehre, Johann Friedrich Blumenbachs kranio-ästhetische Einteilung der Menschen in fünf Varietäten, die „Neger-Abhandlung“ von Samuel Thomas Soemmerring und die phrenologischen/kranioskopischen Ausführungen von Franz Joseph Gall und Carl Gustav Carus werden im Einzelnen erläutert. Insbesondere ihre Aktualität bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, nachgewiesen nicht zuletzt an den ‚Rassen‘-debatten der NS-Zeit, zeigten nachdrücklich die Problematik von Verschränkung ästhetischer Reflexionen mit menschheitsgeschichtlichen Überlegungen auf.

Als Vorläufer müssten bereits die Rassenanthropologien der Aufklärung gelten; Kaufmann bezieht sich hier auf Immanuel Kant, Christoph Meiners und Johann Gottfried Herder. Kants explizite Beschränkung eines menschlichen Schönheitsbegriffs auf die „weiße Rasse“ mache deutlich, dass von einem ästhetischen Relativismus bei diesem keine Rede sein könne, Meiners vertrete klar die Position der Einflussnahme des Körpers auf den Geist, Körperkunst sei ein Beitrag zur „Verhässlichung des Körpers“, und Herder weise „bei allen deutlichen Unterschieden doch auch einige frappante Gemeinsamkeiten mit Meiners‘ ästhetischer Rassenanthropologie auf“. Auch wenn man Herder einen kolonialismuskritischen Ansatz zugestehe, finde sich bei ihm doch dieselbe ästhetische-kulturelle Abwertung des Fremden, er setze sich sogar bewusst von seinen ethnographischen Quellen ab, um seine These vom Einfluss des Klimas auf die Ästhetik des Menschen und dessen geistiger Beschaffenheit zu bestätigen. Obwohl es doch Herders Ziel sei, in seinen Werken den humanitären Gedanken voranzutreiben, falle die kunstästhetische Betrachtung – insbesondere in seinen frühen Werken – überraschend gegenteilig aus.

Im zweiten Teil wendet Kaufmann sich zunächst den Texten zu, die er als „diskursiven Grundbestand des Zweiten Entdeckungszeitalters“ bezeichnet: den Reisebeschreibungen Louis-Antoine Bougainvilles, Georg Forsters, James Cooks und John Hawkesworths. Die Betrachtung des Fremden unter ästhetischen Gesichtspunkten spiele in diesen immer wieder eine herausragende Rolle, insbesondere auch die Betrachtung der Kunstproduktion. Kaufmann spricht von einem „Nicht-Wissen“, das entscheidend für den Umgang mit der fremden (Körper-)Kunst und dessen Forster sich beispielsweise bewusst gewesen sei, wenn er in seiner Vorrede zu seiner Reise um die Welt die Frage formuliere, ob ihm die Darstellung der Beobachteten „im wahren Lichte“ wohl gelungen sei.

Während die vereinnahmende Idealisierung der außereuropäischen Völker also als gängige Praxis im Umgang mit den Menschen anzusehen sei, habe die Auseinandersetzung mit den ästhetischen Praktiken der „Naturvölker“ eine besondere Herausforderung für die europäischen Reisenden dargestellt. Als Beispiel führt Kaufmann unter anderem die Wahrnehmung der fremden Musik an. Sowohl bei Cook wie auch bei Forster sei die Fremdheit des Gehörten ausschlaggebend für das ästhetische Urteil gewesen, ein vermeintlicher Mangel an Harmonie Anlass zu Abwertung, so dass Kaufmann zu dem Ergebnis kommt, dass das Bewusstsein um Wissenslücken nichts daran ändert, als Maßstab zur Beurteilung immer das eigene Kunst- und Schönheitsempfinden anzulegen. Eine offene Begegnung mit der ästhetischen Alterität scheint nicht möglich.

Hervorzuheben ist in diesem zweiten Teil der Studie Kaufmanns Auseinandersetzung mit Hawkesworth Bericht über die erste Südseereise Cooks mit dem Titel An Account of the Voyages Undertaken by the Order of His Present Majesty for Making Discoveries in the Southern Hemisphere. Dieser habe nachweislich Autoren wie Wieland oder Johann Kaspar Lavater erheblich beeinflusst, dennoch sei er in der bisherigen Forschung nur unzureichend berücksichtigt worden. Hawkesworths Text zeichne sich durch eine Verbindung von Wissen aus erster Hand und fiktionalen Gestaltungselementen aus, die in der Zusammenführung der ihm überlassenen Reiseaufzeichnungen unter Einführung eines fiktiven Ich-Erzählers entstanden sei, und habe der belehrenden Unterhaltung der reiseberichtinteressierten Leserschaft dienen sollen. Im Zuge dieser Fiktionalisierung sei es beispielsweise dazu gekommen, einer Statue eine religiöse Bedeutung anzudichten, die weder in den Aufzeichnungen Cooks noch bei Joseph Banks vorgekommen sei. Das Vorgehen Hawkesworths zeige sich außerdem in der Schilderung der Tätowierkunst: Während Banks und Cook sich in ihren Aufzeichnungen übereinstimmend zum Tätowieren als „genuin tahitianische Praktik“ geäußert hätten, schreibe Hawkesworth von einem „allgemeineren anthropologischen Phänomen [..], als es sich bei zahlreichen ‚exotischen‘ Völkern findet“.

Die Darstellungen der Reisenden Cook und Banks werden nicht nur verändert, Hawkesworth spare auch Banks Überlegungen zur körperästhetischen Funktion des Tätowierens aus. Er gehe sogar so weit, seinen Ich-Erzähler, der als Cook verstanden wird, eine frei erfundene Bemerkung äußern zu lassen. Kaufmann zeigt in seiner Analyse auf, dass Hawkesworth eigene Präferenzen für die Kunst der Tahitianer sowie seine Ablehnung der Tätowierkunst im Text deutlich zum Ausdruck kommen und den Leser*innen als Ergebnis der Beobachtungen Cooks und Banks erscheinen lässt. So konstruiere er ein Wissen, dass dann in die ästhetischen Theorien vor allem Deutschlands im 18. Jahrhundert einfließe.

Herder erweise sich entgegen seinem Verständnis von ethno-anthropologischer Körperästhetik in seinen kunstästhetischen Überlegungen als „innovativ und richtungsweisend“. Die mit der körperlichen Erscheinung der Naturvölker einhergehende ästhetische Abwertung finde eine entgegengesetzte Entwicklung in der Betrachtung der Kunsterzeugnisse. Er übertrage Jean-Jaques Rousseaus zivilisationskritische Gedanken über die Bedeutung der Natur in den Bereich der Poesie und stelle außerdem eine Verbindung von den „wilden Naturvölkern“ zu den Griechen her, die ebenfalls die Wirkung der Verbindung von Poesie, Musik und Tanz noch nutzten, und schaffe damit, vorausdeutend auf Friedrich Nietzsche, ein Gegenmodell zu dem „appollinischen“ Griechenbild Winckelmanns. Für Herder seien die Ausdrucksformen der tanzenden „Wilden“ die Ursprünge der Malerei, der Verlust der Verbindung dieser Gebärden und des Tanzes mit sprachlichem Ausdruck bzw. das alleinige Zurückbleiben von Letzterem bedeute für Herder den „Abfall der Dichtung zum bloßen Wissensmedium“, das nicht den Menschen als Ganzes anspreche, nicht ansprechen könne.

Kaufmann erkennt einen epistemischen Aspekt an Herders Überlegungen: Für ihn sei das Volkslied „das Erkenntnis-Instrument der völkerkundlichen Anthropologie“, da es sich für ihn um die „Seele des Volks“ handele. Die fremden Kulturen seien für Herder nicht durch die Betrachtung von Äußerlichkeiten zu verstehen, Denken und Fühlen seien nur in der Betrachtung der Lieder zu erkennen. So wird Herder nach Kaufmann zum „Ahnherr [der] ‚primitivistischen‘ kunst- und literaturethnologischen Untersuchungen“, die Gefahr einer erneut eurozentrischen Betrachtung blende er allerdings aus.

Entscheidend ist für Kaufmann Herders Abhandlung Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker (1771/1772). Bei Herder seien die Adjektive „alt“ und „wild“ in Bezug auf die betrachteten Lieder austauschbare Begriffe. Die Engführung alteuropäischer Lieder mit denen außereuropäischer, insbesondere der Indigenen Nordamerikas, sei möglich, da Herder die Übertragungswege Oralität und Literalität mit der binären Konstellation Wildheit vs. Zivilisation verbinde. In Herders Vergleich der Lieder Ossians mit denen der ‚Irokesenliga‘ Nordamerikas sieht Kaufmann dessen besondere Leistung, seine Betonung des unmittelbaren Ausdrucks von Empfindung greife Goethes Konzept der Erlebnislyrik vor.

Auch in Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst herrsche eine Verbindung von Inhalt und Form, das „wilde“ Denken bzw. die „wilde‘“ sprachliche Form sei in beiden Fällen der ästhetisch-programmatischen Betrachtung angepasst und macht das Verständnis zunächst schwierig. Im Ergebnis führe Goethes Interpretation des Straßburger Münsters dazu, eine Entwicklung vom „‚Wilden‘ im Naturzustand“ zum „Genie der Zukunft“ aufzuzeigen, in der die Verbindung von Schönem und Erhabenen sich aus einer natürlich gegebenen Anlage im Menschen ergebe. Bedeutend seien Goethes Ausführungen unter anderem auch deshalb, weil diese Debatte nicht auf die Ästhetik des Sturm und Drang beschränkt geblieben sei, sondern den Weg in die systematisch-philosophische Ästhetik auch des 19. Jahrhunderts gefunden habe.

Immanuel Kant folge in der Differenzierung des Schönheitsbegriffs einem Stufenmodell, das die „Wilden“ im Grunde von der Erfahrung des Schönen, vor allem des Erhabenen, ausschließe. Die Tätowierkunst der Maori könne nicht als schön gelten, da sie „mit dem moralisch grundierten Ideal menschlicher Schönheit unvereinbar“ sei, die Unentschlossenheit in Kants Argumentation hinsichtlich der Anerkennung eines Prozesses in der Entwicklung vom Interesse am Schönen zum Ursprung des künstlerischen Ausdrucks sei Ausdruck der Inkonsequenz und Ambivalenz in seinen Ausführungen.

Auch Schiller lehne eine Anerkennung der Fähigkeit zu ästhetischem Handeln bei den „Wilden“ ab. Kaufmanns Weg der Interpretation von Schillers Gedicht Die Künstler (1788/1789) hin zu dessen Augustenburger Briefen (ab 1793) zeigt jedoch die Veränderung auf, die Schillers Argumentation durchlaufe, wenn er nun doch einen Zugang zum Schönen anerkenne und sich damit schließlich der mehr als zwanzig Jahre zuvor von Goethe und Herder vertretenen „These von der menschheitsgeschichtlichen Ursprünglichkeit des ästhetischen Sinnes für das Erhabene“ annähere. Den Konflikt zwischen Anerkennung und Ablehnung dieses Zugangs löse er durch die Dichotomie von „Wilden“ und „Barbaren“, die als Kategorien jetzt sowohl „Wilde“ als auch Europäer einschließen können.

Kaufmann arbeitet die Unterschiede zwischen den Modellen Kants und Schillers heraus, die beide einem Drei-Stufen-Modell folgten, wobei Schiller aber in seiner Adaption von Kants Modell die ersten beiden Stufen vertausche und damit die Argumentationskette deutlich verändere. Durch Schillers „Korrekturen“ erfahre der überseeische ‚Wilde‘ „in ästhetischer Hinsicht eine deutliche Aufwertung […], die auf einer grundlegenden Rehabilitation der Sinnlichkeit im Kontext seiner Anthropologie des ganzen Menschen beruht“. Den Höhepunkt erreiche Schillers „Aufwertung des ‚Wilden‘“ in der Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung, in der er den „Wilden“ mit dem Naiven verbindet, das wiederum auch das künstlerische Genie und insbesondere Goethe auszeichne. Kaufmann wirft die Frage auf, ob Schillers Sinneswandel bezüglich der Einschätzung des „Wilden“ mit der einen Sommer zuvor beginnenden Freundschaft mit dem ‚Huronen‘ Goethe zusammenhängt. In jedem Fall aber erkennt er in Schillers Aufwertung „die letzte empathische Ästhetik des „Wilden“ vor der (Wieder-)Entdeckung der „primitiven Kunst“ im späteren 19. Jahrhundert“.

Vielen der ästhetischen Systeme des Idealismus fehle es am Interesse an den „Wilden“ und ihren Kunstpraktiken, die Ausführungen sparten diese Fragestellung entweder aus oder behandelten sie marginal. Karl Rosenkranz folge einem anderen Weg, indem er sich nicht mit dem ‚Hässlichen‘ auseinandersetze, aber auch wenn er immerhin ein kunstästhetisches Verhalten anerkenne, könne er sich von „diffamierenden Äußerungen“ bezüglich der Einschätzung von Gestalt und Erscheinung nicht lösen.

Als Ergebnis seiner Analysen formuliert Kaufmann, dass das ästhetische Wirken der „Naturvölker“ entweder geleugnet oder in den Bereich der „Vorkunst“ ausgelagert werde, bestenfalls erfahre es eine strukturell ambivalente Bewertung. Die Studie endet mit einem Ausblick, in dem Sebastian Kaufmann seit der Mitte des 19. Jahrhunderts „drei Transformationen von Topoi“ ausmacht, von denen die ersten beiden bereits in früheren Forschungen nachgewiesen wurden (die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Gleichsetzung der ‚Naturvölker‘ nicht nur mit antiken Völkern, sondern mit steinzeitlichen ‚Urmenschen‘ sowie die aus dieser Betrachtung bzw. aus Onto- und Phylogenese entstehende Verbindung ‚Wilde‘ – Kinder).

Die Entstehung der Vorstellung von „primitiver‘ Kunst“, die sich von der Beurteilung einer „schönen“ oder „hässlichen“ Kunstproduktion löst und sich auf die „Legitimitäts-Frage nach der ästhetischen Darstellbarkeit von ‚Wilden‘ in den verschiedenen künstlerischen Gattungen“ beschränkt, ist dagegen eine in Kultur- und Literaturwissenschaft bisher nicht oder doch nur wenig beachtete Thematik und schließt an die Ergebnisse der vorliegenden Studie an. Nach Kaufmann führt auch die Entwicklung nach 1850 nicht dazu, den Blick der systemphilosophischen Ästhetik gleichermaßen auf die europäische wie die außereuropäisch-„wilde“ Kunst und Kultur zu lenken, die in der Folge „[i]hren Status als ästhetische Leitwissenschaft […] Ende des 19. Jahrhunderts verloren bzw. an die ‚Gegenwissenschaft‘ der Ethnologie [hatte] abtreten müssen.“

Insgesamt ist festzuhalten, dass Vorstellung und Analyse der herangezogenen Studien und Texte umfassend und fundiert erfolgt. Neue Erkenntnisse entstehen insbesondere in der Untersuchung der Texte von Herder und Hawkesworth, aus Kaufmanns Ausarbeitungen zur Einschätzung der Texte Herders, die in einigen Punkten deutlich von den bisherigen Forschungsergebnissen abweicht, sowie in seinen Ausführungen zu dem Wandel in der Argumentation Schillers.

Damit gelingt ihm, was er zu Beginn seiner Studie versprochen hat: Die Erbringung eines „wissenshistoriographischen Beitrag[s] zur Vorgeschichte der physischen bzw. biologischen Anthropologie“ sowie zur Vorgeschichte der späteren Kunstethnologie. Auch die auf die jeweiligen Autoren einflussnehmenden Grundlagen werden regelmäßig vorgestellt und erläutert. Entstanden ist ein Werk, das auf beeindruckenden 840 Seiten nicht nur eine sehr umfassende Darstellung vom Einfluss der ästhetischen Denkmuster auf die Wahrnehmung des „Fremden“, des „Wilden“, bietet, sondern durchaus den Stand eines Nachschlagewerkes zu Quellen und Forschungsliteratur im Bereich der Alteritätsforschung beanspruchen kann.

Titelbild

Sebastian Kaufmann: Ästhetik des ‚Wilden‘. Zur Verschränkung von Ethno-Anthropologie und ästhetischer Theorie 1750–1850.
Schwabe Verlag, Basel 2020.
840 Seiten, 129,00 EUR.
ISBN-13: 9783796539947

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