Von der Möglichkeit einer harmonischen industriellen Gemeinschaft

Johannes Brambora untersucht in „Von Hungerlöhnern, Fabriktyrannen und dem Ideal ihrer Versöhnung“ die Arbeiterfrage im sozialen Roman des 19. Jahrhunderts

Von Daniela RichterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniela Richter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vorliegende Studie zum sozialen Roman in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigt sich eingehend mit einer Gattung, die bisher nur spärlich literaturwissenschaftlich erfasst worden ist. Der soziale Roman ist eine Variante des Unterhaltungsromans, der sich seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit bei der Leserschaft erfreute, wie literarische Journale und Leihlisten von Bibliotheken aus dieser Zeit belegen. Im Gegensatz zur anglistischen Literaturwissenschaft, wo der soziale Roman von Schriftstellern wie Charles Dickens oder Elizabeth Gaskell schon lange Thema akademischen Diskurses ist, wird die Mehrheit der Unterhaltungsliteratur dieser Zeit in der germanistischen Literaturwissenschaft eher stiefmütterlich behandelt.

Der soziale Roman, mit seinem Fokus auf Figuren aus dem Arbeitermilieu und den Kreisen der Fabrikeigentümer, thematisiert die Möglichkeit einer sozialen Gemeinschaft, die diese zwei Gruppen trotz wirtschaftlicher Gegensätze gleichwertig verbindet. Johannes Brambora, der Germanistische Literaturwissenschaft und Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg studiert hat, präsentiert mit diesem Band seine Dissertation von 2019, die nun in der Reihe der Vormärz Studien des „Forum Vormärz Forschung“ bei Aisthesis erschienen ist.

Brambora sieht die sozialen Romane „als Teil eines weit umfangreicheren Diskurses ihrer Zeit, der auf die soziale Bewältigung der ökonomischen Antagonismen zielt“. Er konzentriert sich in seiner Analyse auf fünf Romane aus dem Zeitraum zwischen 1845 bis 1862. Nur in dieser Zeit ist von einem allgemeinen sozialen Roman zu sprechen, einer Gattung, die schon ab den 1860er Jahren in verschiedene soziale und politische Untergruppen zersplittert. Im Zentrum steht der Diskurs, den diese Romane zur Arbeiterfrage präsentieren, vor allem was die verschiedenen Vorstellungen von einer gleichberechtigten Gemeinschaft von Arbeitern und Fabrikeigentümern angeht. Fiktionale Unterhaltungsliteratur ist, nach Ansicht Bramboras, Teil des öffentlichen Diskurses, der nicht nur relevante Themen aufgreift und verarbeitet, sondern auch alternative Lösungsvorschläge zu bieten hat.

Den Auftakt der zu analysierenden Werke gibt Ernst Willkomms Weisse Sclaven oder Die Leiden des Volkes von 1845. Mit diesem fünfbändigen Roman sieht Brambora die Gattung des Fabrikromans in Deutschland begründet. Die Serie war durchaus kontrovers, ihre Publikation durch Gerichtsverfahren behindert und die Bände in Österreich nur mit polizeilicher Erlaubnis im Handel zu kaufen. Die Handlung spielt 1832 in der Niederlausitz und spannt einen Bogen von der Leibeigenschaft der älteren Generation zum Elend der Arbeiter einer Textilfabrik in der erzählerischen Gegenwart. Die Auseinandersetzungen, die am Ende familiäre Bande zwischen den Fabrikbesitzern und den Arbeitern zu Tage fördern, enden damit, dass von Boberstein, der Besitzer, als Strafe für seine Vergehen an den Arbeitern mit ihnen Schichtdienst leisten muss und an den Belastungen der Arbeit stirbt.

In Willkomms Roman werden die Konzepte der Leibeigenschaft, Fabrikarbeit und der Sklaverei auf eine Stufe gestellt. Die Lebensverhältnisse der Arbeiter sind durch Elend geprägt, die Maschinen entwerten die menschliche Arbeit und stellen obendrein eine Verletzungsgefahr dar. Die Fabrikbesitzer sind sich keiner Schuld bewusst und sehen sich im Gegenteil noch als Heilsbringer, die Arbeitsplätze schaffen. Die Linderung des Arbeiterelends verschieben die Fabrikbesitzer in den Bereich der privaten Wohltätigkeitsarbeit. Interessant und einzigartig unter den Romanen, die von Brambora untersucht werden, wird die Lösung hier vonseiten des Staates in Form einer Gerichtsverhandlung erfolgreich herbeigeführt. Erst die gerichtliche Anerkennung der auf Umwegen aufgedeckten Verwandtschaft zwischen dem Arbeiter Martell und von Boberstein, bringt eine Lösung und Verbesserung der Notlage. Bemerkenswert, trotz dieser als kitschig und sensationell kritisierten Wende der Ereignisse, ist aber die Betonung der inherenten Gleichwertigkeit zwischen Arbeitern und Fabrikbesitzern, die durch die Familienbeziehung betont wird.

Kapitel 3 widmet sich dem Roman Schloß und Fabrik (1846) der Schriftstellerin Louise Otto-Peters. Otto-Peters war nicht nur ein bekannter Name in der Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts, sondern auch eine der Pionierinnen der deutschen Frauenbewegung. In dem dreibändigen Roman Schloß und Fabrik, den sie nur unter verschärften Zensurauflagen veröffentlichen konnte, wird die Geschichte zweier junger Frauen gegenüber gestellt, die der Adligen Elisabeth von Hohenstein und der Fabrikantentochter Pauline Felchner. Auch hier wird eine Milderung des Arbeiterelends in den Bereich der privaten, kompensatorischen Wohltätigkeit verlegt. Im Verlauf des Romans machen beide Hauptfiguren einen Lernprozess durch, der ihre Sichtweise auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Zeit erweitert. So versucht Pauline am Ende in Zusammenarbeit mit dem Arbeiter Franz Thalheim auf erzieherischem Weg nicht nur die materielle Not der Arbeiter zu lindern, sondern vor allem auf deren sittliche Entwicklung positiv Einfluss zu nehmen. Die beiden können aber letztendlich einen gewaltsamen Aufstand der Arbeiter nicht verhindern und kommen in den Unruhen ums Leben. Damit wird eine Überwindung der Standesgrenzen nur bedingt erfolgreich gewertet. Die Liebe zwischen Franz und Pauline, sowie deren Engagement, lebt am Ende in übertragener Weise in einem anderen Liebespaar fort, nämlich in Elisabeth und dem bürgerlichen Jaromir, die das ideelle Vermächtnis der Verstorbenen bewahren wollen.

Von besonderem Interesse ist bei Otto-Peters die Rolle des Staates, den die Hauptfiguren als Garanten oder zumindest Mithelfer bei der Errichtung einer gerechteren sozialen Ordnung sehen, der aber in der Figur des betrügerischen Staatsagenten den Aufstand der Arbeiter sogar noch anfacht, nur um sich daraufhin als Ordnungshüter profilieren zu können. Von der Kritik bemängelt wird die nur oberflächliche Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen Komponenten des Fabriklebens und vor allem der Fabrikleitung. Stattdessen findet sich bei Otto-Peters eine naive Gutgläubligkeit in den technischen Fortschritt, der den Wohlstand für alle Gesellschaftsschichten garantieren soll. Von allen besprochenen Romanen in diesem Band, sticht dieser durch die wortgetreuen Zitate aus sozialistischen Schriften der Zeit heraus, was auch der Grund für Einschränkungen durch die Zensur war.

Max Rings zweibändiger Debütroman Berlin und Breslau von 1849 steht im Mittelpunkt des nächsten Kapitels. Dieser Roman steht ganz unter dem Einfluss der Märzrevolution. Ring war von Beruf Mediziner und ließ sich 1848 in Berlin nieder. Als Mitglied des literarischen Vereins Tunnel über der Spree werden seine Schriften über Berlin heute als Zeitzeugnisse besonders geschätzt.

In diesem Roman erteilt er einer allgemeinen politischen Lösung des Klassenkonflikts eine klare Absage. In den Unruhen der Märzrevolution werden die unterschiedlichen Stände in starkem Relief gezeichnet. Auf der einen Seite die Arbeiter als aktiv interessiert an der Verbesserung ihrer Lebensumstände und andererseits die Regierungseliten, die den Arbeitern und Bürgern nicht zutrauen, ihre Rechte verantwortungsvoll zu nutzen. Ein geschichtlicher Exkurs zum Mythos des Missverständnisses in der Märzrevolution liefert noch zusätzliche Hintergrundsinformation. Das Bürgertum wird im Roman als opportunistisch gesehen, zum einen seitens der um politische Rechte kämpfenden Arbeiter, aber auch von den Eliten, nachdem es seine Besitztümer in Gefahr sieht. Am Ende steht eine utopisch anmutende Hausgemeinschaft bestehend aus den bürgerlichen, adligen und proletarischen Hauptfiguren, die auch hier die Lösung auf dem Bildungsweg in Form einer Schulanstalt zu realisieren suchen. Das Fazit lautet, dass Gemeinschaft nicht verwirklicht werden kann, bevor die Gesellschaft das Konzept und die Ethik von Gemeinschaft nicht verinnerlicht hat. Alle Stände müssen bereit sein, ihre individuellen Interessen der Gesamtidee einer gleichberechtigen Gesellschaft unterzuordnen. So durchlaufen auch die Figuren dieses Romans einen Lernprozess, bei dem sowohl zu engstirnige, wie auch zu idealistische Vorstellungsweisen korrigiert werden.

Der dreibändige Roman Das Engelchen (1851) von Robert Prutz erteilt nicht nur dem Ideal einer industriellen Gemeinschaft von Arbeitern und Kapitalisten, sondern auch der gesamten industriellen Arbeitsweise eine eindeutige Absage. Prutz, einer der führenden Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, der vor allem wegen seiner politischen Lyrik oft in Konflikt mit der Zensur geriet, sah insbesondere im sozialen Roman ein wichtiges Organ zur Verbreitung von auch kontroversem Gedankengut.

In seinem Roman zeichnet er einen stark überzogenen Kontrast zwischen dem Leben in einem Dorf, wo das traditionelle, vorindustrielle Weberhandwerk gepflegt wird, und einem Fabrikdorf. In beiden leben die Menschen in relativer Armut und Bescheidenheit, aber während im Handwerkerdorf Sittlichkeit und eine generelle Zufriedenheit das Leben annehmbar machen, sieht man unter den Fabrikarbeitern bloß Laster und eine Arbeitsperspektive, die nur als stupide bezeichnet werden kann. Das besondere Augenmerk liegt auf den Maschinen, welche die menschliche Arbeit entwerten und deren Erfinder und Besitzer im Roman dem Wahnsinn verfallen. Auch hier wird jeglicher gewalttätiger Lösung des Arbeiterelends eine Absage erteilt, auch hier geht es um eine Gesinnungswandlung, die den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen zugrunde liegen müssen. Das Vertrauen in staatliche Hilfe wird erneut als verfehlt dargestellt. Der Staatsagent, der die Lage inspizieren und begutachten soll, ist eine Figur, die nur auf persönlichen Vorteil bedacht ist und die Aufwiegelung zu einem Aufstand als Karrieresprungbrett benutzt. Der Roman endet mit dem Verrat am Fabrikbesitzer durch seine eigene Familie, was diesen wiederum vollends in den Wahnsinn treibt. Am Ende kehrt das Dorf zu seinem handwerklichen Gewerbe der Weberei zurück, die Fabrikarbeiter weichen neuen Zusiedlern und die Dorfgemeinschaft erblüht in idyllischer Harmonie.

Im Gegensatz zu dieser wohl rigorosesten Kritik am technischen und industriellen Fortschritt steht der letzte Roman, den Brambora analysiert. Es handelt sich um Adolf Schirmers Fabrikanten und Arbeiter oder: Der Weg zum Irrenhaus von 1862. Schirmer ist der einzige unter den behandelten Schriftstellern, der in seiner Gegenüberstellung der Fabrikanten Stahl und Weidner eine gelungene industrielle Gemeinschaft schildert. Der betrügerische, schlüpfrige Seidenfabrikant Stahl und der rechtschaffene, bescheidene Wagenfabrikant Weidner agieren als Gegenpole. Nicht nur ihre Figuren, sondern auch die wirtschaftliche Lage ihrer Unternehmen wird konträr beschrieben. Der positive Charakter von Weidner spiegelt sich auch im Erfolg seiner Fabrik, deren Arbeiterschaft er mit Wohlwollen und Fairness leitet und von der er verehrt wird. Im Kontrast dazu steht Stahl, der seine Arbeiter um ihren gerechten Lohn betrügt, was wiederum zu einem sittlichen Verfall innerhalb der Arbeiterschaft führt.

Industrielle Arbeitsverfahren und Maschineneinsatz werden in diesem Roman als schon bestehende Realität präsentiert, mit der man sich nicht erst arrangieren muss. Als neues Übel dieser kapitalistischen Welt wird aber das Spekulieren, v.a. der Börsenhandel, gesehen. Da das ideale Unternehmerverhalten von hohem Verantwortungsbewusstsein für seine Arbeiter und damit für die Gesellschaft allgemein geprägt ist, erscheint das anonyme, rein auf Gewinn ausgerichtete Spekulieren im Roman als verwerflich. Die Ehrlichkeit und Integrität, die Weidner als positive Figur auszeichnen, verlieren im Börsengeschäft an Bedeutung. Obwohl Schirmer in diesem Roman viel weiter vorgreift als die anderen Schriftsteller, bleibt erneut die enge Verbindung zwischen persönlichen, charakterlichen Werten und allgemein gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen gewahrt.

Johannes Brambora legt in seiner Analyse dieser fünf Romane eindeutig dar, dass und vor allem wie der soziale Roman von den Autoren der damaligen Zeit als Raum genutzt wurde, um verschiedene Gemeinschaftskonzepte und Reformideen durchzuspielen und auf ihre Realisierbarkeit hin zu prüfen.

Titelbild

Johannes Brambora: Von Hungerlöhnern, Fabriktyrannen und dem Ideal ihrer Versöhnung. Der Beitrag des populären Romans zur Entstehung eines sozialen Erklärungsmusters ökonomischer Gegensätze der Industrialisierung. 1845-1862.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2019.
324 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783849813895

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