Feine Risse im Mauerwerk

Barbara Beuys hat eine informative Biographie über „Asta Nielsen“ geschrieben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welches Kind kann sich schon eines Vaters erfreuen, der ihm selbstgenähte Puppen schenkt? Die kleine Asta konnte sich so glücklich schätzen. Das ist zwar lange her, doch waren Puppen nähende Väter sicher auch im ausgehenden 19. Jahrhundert ziemlich rar. Herr Nielsen im schwedischen Malmö aber war eine dieser Ausnahmen, obwohl er von Hause aus Schmied war, und die sind nicht eben dafür bekannt die filigrane Arbeit mit Nadel und Faden zu beherrschen.

Nachlesen lässt sich die Kindheitsepisode in Barbara Beuys’ Biographie über Asta Nielsen, den späteren Leinwandstar der Stummfilmära. Nun hat Nielsen zwar noch zu Lebzeiten selbst ihre Lebenserinnerungen veröffentlicht. Dennoch lohnt es sich, zu der neuen Publikation zu greifen. Denn in ihr spielt nicht nur Nielsens Autobiographie eine gewichtige Rolle; Beuys hat zudem verschiedene Archive aufgesucht und zahlreiche dort lagernde Briefwechsel und andere Ego-Dokumente ausgewertet, die einige Unstimmigkeiten mit Nielsens Erinnerungsbuch zutage treten lassen. Denn „[b]ei Berühmtheiten wie Asta Nielsen sind ‚Erinnerungen‘ – mündlich weitergegeben oder publiziert – eine ideale Möglichkeit, der eigenen Biografie eine bestimmte Richtung zu geben.“ Im Falle Nielsens ist das die einer Selfmadewoman, die alle Erfolge nur sich selbst verdankte, wie sie auch alle Probleme und Hindernisse im Alleingang aus dem Weg räumte.

Beuys aber übernimmt weder die Angaben der von Nielsen „sehr bewusst komponiert[en]“ Autobiographie kritiklos, noch die der anderen herangezogenen Dokumente, sondern überprüft ihre Quellen auf ihre Plausibilität, indem sie sie miteinander vergleicht. So legen etwa die Aufzeichnungen von Nielsens erstem Ehemann Urban Gad offen, „was für ein schiefes Bild“ durch das konsequente „Verschweigen“ ihrer unehelichen Tochter und ihrer Ehe „produziert“ wird. Selbstverständlich überprüft Beuys auch Gads Darstellungen auf Plausibilität, die dabei schon einmal durchfallen können.

Ende der 1950er Jahren missbrauchte der Antiquar Frede Schmidt das Vertrauen des früheren Filmstars und der nunmehr alten Frau gründlich. Er versorgte sie mit allem, was im alltäglichen Bedarf anfiel, sodass sie sich ihm langsam öffnete. „[F]ast täglich“ rief er sie an und fragte sie aus. Nielsen erzählte ihm manches, das sie bisher verschwiegen hatte. Was sie nicht wusste, war, dass er alle Gespräche heimlich mitschnitt und so insgesamt „rund hundert Bänder“ füllte. Nach beider Tod wurden sie veröffentlicht und bilden eine weitere wichtige Quelle für die Biographin.

Beuys ist vorsichtig genug, nicht beschreiben zu wollen, wie sich etwas zugetragen hat, sondern wie die verschiedenen AkteurInnen es jeweils darstellen. Sie hat unzählige „Puzzlestücke“ zusammengetragen und -gesetzt, die allerdings gelegentlich ausgesprochen kleinteilig ausfallen. So ist die Biographie zwar immer wieder sehr detailreich, doch verliert sich die Autorin auch schon einmal in unbedeutenden Quisquilien und zieht eher belanglose Schlüsse aus dem Vorhandensein einzelner Postkarten.

Neben der Auswertung ebenso unterschiedlicher wie zahlreicher Ego-Dokumente kommt dem Buch zugute, dass die Autorin die Lebensbeschreibung Nielsens oft ausführlich kontextualisiert, indem sie etwa auf ganz zwanglose Weise einen Abriss der frühen Kinogeschichte einfließen lässt. Eine merkwürdige Lücke in Nielsens Lebenserinnerungen kann allerdings auch Beuys nicht füllen. Sie betrifft die Jahre 1895-1899, in denen die 1881 geborene Nielsen in dem Alter war, das man damals die Backfisch-Jahre nannte. Es sei zwar „[k]aum zu glauben“, klagt Beuys, aber es waren auch „keine anderen Quellen“ über diese Zeit aufzufinden.

In Kopenhagen geboren, wuchs Asta Nielsen im schwedischen Malmö auf, da der stets kränkliche Vater Jens Christian Nielsen seiner schweren Arbeit als Schmied nicht gewachsen war und er die Familie mit den beiden Töchter selbst zusammen mit seiner ebenfalls stets arbeitende Frau Ida Frederikke in seiner Heimat nicht ernähren konnten. In Malmö fand er zwar vorübergehend etwas leichtere Arbeit, doch gingen die Nielsens 1890 zurück nach Dänemark, wo sie sich sofort wieder zuhause fühlten und sich nur zu oft mehr schlecht als recht durchschlagen konnten.

Die Mutter pflegte gegenüber ihren Töchtern eine schwarze Pädagogik, die sie schon einmal zur „Reitpeitsche“ greifen ließ, mit der sie ihre Kinder „gnadenlos […] traktierte“.  Kein Wunder also, dass Beuys von einer „schwierige[n] Mutter-Töchter-Beziehung“ spricht. Auf die Hilfe und Unterstützung ihrer vier Jahr älteren Schwester Johanne konnte sich Asta Nielsen hingegen nicht nur in jungen Jahren, sondern überhaupt in allen Lebensstürmen verlassen.

Schon als Kind lernte der spätere Filmstar die Bühne kennen. Mit gerade einmal 12 Jahren sang sie bereits im Chor des Kopenhagener Königlichen Theaters. Ihr Wunsch, Schauspielerin zu werden, wurde allerdings erst ein Jahr später durch den Besuch einer Ibsen-Aufführung geweckt. Es war das Jahr, in dem ihr Vater starb. 1912 sollte ihm seine Ehefrau folgen.

Ende des Jahrhunderts lernt die nunmehr junge Frau Peter Jensdorf kennen, der sie zur Schauspielerin ausbildete und ein für sie „ideale[r] Pädagoge“ war, wie die angehende Aktrice sich später erinnerte. 1901 wurde die 19-jährige Elevin schwanger und gebar ihre Tochter Jesta. Hielt sie die Schwangerschaft zunächst selbst vor Mutter und Schwester geheim, bekannte sie sich doch bald privat wie öffentlich zu ihrer Tochter. In Nielsens erstem Spielfilm hat Jesta an der Seite ihrer Mutter sogar einen kleinen Auftritt als kindliche Klavierschülerin. In Nielsens Memoiren hat ihre Tochter allerdings „keinen Platz“. Ebenso wie ihre späteren Ehemänner wird auch Jesta in Nielsens Lebenserinnerungen „mit keinem Wort erwähnt“. Dies mutet umso merkwürdiger an, als die Schauspielerin noch in späten Jahren betonte, Jesta sei „das Wichtigste in meinem Leben und das war sie immer“.

Da die junge Asta Nielsen entschlossen war, „ein unabhängiges, selbständiges Leben“ zu führen, kam es für die ledige Mutter nicht in Frage zu heiraten. So widersetzte sie sich erfolgreich den entsprechenden Wünschen ihrer Mutter, des Kindsvaters und dessen Vater. Noch heute wird darüber spekuliert, wer denn der Vater Jestas gewesen sein mag. Denn Nielsen hat sich ihr Leben lang darüber ausgeschwiegen. Dies verbindet sie mit Franziska zu Reventlow, die ebenfalls nie preisgab, wer der Vater ihres geliebten Sohnes Rolf war. Die Motive der beiden verschwiegenen Mütter mögen allerdings sehr unterschiedlich gewesen sein. Während Reventlow ihren Sohn ganz für sich haben wollte, ließ Nielsen Jesta zunächst bei Mutter und Schwester. Beuys beteiligt sich in Sachen Kindsvater nicht an den Spekulationen, sondern stellt heraus, dass Nielsens unbändiger Wille zur Freiheit, der „Schlüssel“ für deren künftige Liebesbeziehungen wie auch ihrer „Karriere als Weltstar“ sei.

1912 heiratet Nielsen dann allerdings doch – und nicht zum letzten Mal. Ihre Ehe mit Urban Gad, dem Regisseur fast aller ihrer frühen Filme, sei „eine Konzession an bürgerliche Gepflogenheiten“, vermutet Beuys. Sechs Jahre nach der Eheschließung folgte die Scheidung, nachdem das Paar, wie es das Gesetz verlangte, zuvor bereits drei Jahre „von Tisch und Bett getrennt gelebt“ hatte. 1919 ehelichte Nielsen Freddy Wingaardh, den sie wegen seiner zahlreichen Seitensprünge verließ. Schon zuvor hatte sie selbst sich dem Russen Gregori Chmara zugewandt. Wie Beuys konstatiert, folgen Nielsens Trennungen von Ehemännern und Geliebten einem bestimmten „Muster“: „Sie ist der aktive Part und bekennt sich zu ihrem neuen Partner, lange bevor die Scheidung vom Vorgänger erfolgt.“

Den ihr Anfang des 20. Jahrhunderts angebotenen Wechsel vom Theater zum damals noch jungen Medium Film lehnte Nielsen zunächst als vermeintlich „künstlerischen Abstieg“ ab. Erst 1910, sie war bereits Ende zwanzig, zeigte sie sich in Abgründe zum ersten Mal auf der Leinwand. Ihr damals weithin als anrüchig, ja fast skandalös wahrgenommener „Gaucho-Tanz“ wurde in Norwegen aus „moralischen Gründen“ aus dem Film herausgeschnitten. Dennoch trug der Tanz seinen Teil dazu bei, dass „die Revolution im Film […] über Nacht einen Namen bekommen [hatte]: Asta Nielsen“. Das hatte sie allerdings nicht nur dem „Gaucho-Tanz“ zu verdanken, sondern auch der mit 45 Minuten damals außergewöhnlichen Länge des Films, vor allem aber ihrer mimischen Ausdruckskraft.

Kaum unterbrochen vom Ersten Weltkrieg „verkörperte“ Nielsen in den 1910er und 20er Jahren mit großem Erfolg in zahllosen Filmen „konsequent die neue Frau der Moderne“. Dabei besaß sie das „Talent, in jedem Film als eine ganz andere Frau aufzutreten und dennoch die Gleiche zu bleiben“. Selbst in ein und dem selben Film entwickelt sie sich von einer „Schiffsdirne“, die „girrt,“ und „züngelt“ wie ein „Sexualtier“, zum „jungen Mädchen[.] mit „zwei arme[n], hilfesuchende[n] Kinderaugen“, wie der „unbestechliche[.] Pionier der Filmkritik“ Willy Haas 1920 höchst angetan von ihrer Rolle in Steuermann Holk schwärmte.

In Die Suffragette (1913) spielte Nielsen eine englische Frauenrechtlerin und mit ihrer Titelrolle in Hamlet „führt“ sie „dem Publikum von Beginn an vor Augen, dass Geschlecht keine eindeutige Verfassung ist“, indem sie „Hamlets verzweifelte Suche nach einer eigenen Identität jenseits der vorgegebenen Stereotypen von männlich und weiblich verkörpert[e]“ und so „einseitige Geschlechter-Bilder als falsche Wahrheiten [entlarvte]“, wie Beuys vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Gender Studies interpretiert. Dass das damalige Publikum „von Beginn des Films an [wusste]: Dieser Hamlet hat nach den biologischen Fakten ein weibliches Geschlecht, das Asta Nielsen mit jedem Meter Film systematisch und überzeugend dekonstruiert“, darf allerdings bezweifelt werden.

Alle diese Filme drehte die Dänin nicht in ihrem Heimatland, sondern in Deutschland, das weit besser ausgestatte Filmstudios zu bieten hatte und zudem über ein das ganze Land umspannendes Netz von Kinos verfügte. Mehr noch, Deutschland wurde ihr zur zweiten, wenn nicht eigentlichen Heimat. „[E]twas anderes zu fühlen wäre sehr ungerecht“, erklärte die Mimin 1930.

Über die teils sehr namhaften Regisseure ihrer Filme – unter ihnen Ernst Lubitsch – äußerte sich Nielsen gelegentlich recht abfällig. Georg W. Pabst bescheinigte sie etwa, „kein Talent“ zu haben. 1944 erklärte sie schließlich, sie habe in ihrer Karriere überhaupt „nur zwei gute Filmregisseure gehabt“: Leopold Jessner und Gregori Chmara. Urban Gad, ihr erste Ehemann, der zwischen 1910 und 1916 bei mehr als 30 ihrer Filme Regie führte, wird ebenso wenig genannt wie Ernst Lubitsch, unter dessen Regie sie 1919 in Rausch spielte.

Ende der 1920er Jahre trat der Tonfilm seinen Siegeszug in den Kinos an. Nachdem „der Weltstar“ schon ein halbes Jahrzehnt nicht mehr in einem Film aufgetreten war (ihre bis dato letzte Rolle hatte sie 1927 in Eugen Illès Das gefährliche Alter gespielt), „wagte“ Nielsen „eine Premiere“ und übernahm 1932 die weibliche Hauptrolle in dem Tonfilm Unmögliche Liebe. Ihr Auftritt wurde nicht nur von Siegfried Krakauer gelobt, sondern kam auch beim Publikum ausgesprochen gut an. Damit war eigentlich der Weg für die Fortsetzung ihrer Karriere im Tonfilm bereitet. Doch es sollte ihr einziger bleiben. Denn sie lehnte es ab, in Filmen für die Nazis aufzutreten, obwohl Hitler und Goebbels sie persönlich darum gebeten hatten. Dennoch wurde sie von Hans Bendix, dem sozialdemokratischen Redakteur der antifaschistischen Zeitschrift Aandehullet, im Herbst 1933 völlig grundlos als „begeisterte Nazi-Anhängerin“ diffamiert.

Ihre Ablehnung des Nationalsozialismus blieb aber nicht immer so eindeutig wie in den Anfangsjahren der Nazi-Herrschaft. Zwar weigerte sie sich noch im Frühjahr 1935, eine Verpflichtungserklärung der Reichsfilmkammer zu unterschreiben, der zufolge sie an dem in Berlin ausgerichteten Internationalen Filmkongress hätte teilnehmen müssen. Doch nach Hitlers Rede auf dem Reichsparteitag von 1936 meinte sie in einem Brief an Heinrich Rumpff, der Reichskanzler habe „wirklich Recht“; „alle Menschen“ müssten doch einsehen, „wie gross seine Idé ist“. Dennoch entschloss sie sich 1937, Deutschland den Rücken zu kehren und nach Kopenhagen zu gehen. Trotz eines um ein Vierteljahrhundert jüngeren Liebhabers, den sie schweren Herzens in Deutschland zurückließ, war es abgesehen von einigen Besuchen ein Abschied für immer. Dieser zurückgelassene Liebhaber hieß Rudolf Mendler und war bislang unbekannt. Barbara Beuys hat die fast ein Jahrzehnt andauernde Liebesbeziehung aus verschiedenen Ego-Dokumenten extrahiert.

In ihren späten Jahren wandte sich Nielsen der „Stoffmalerei“ zu und verfertigte „große Collagen“ aus „Fetzen von Filz, Seide, Baumwolle, Brokat und Stoffen aller Art“, womit sie „ihrem Leben einen neuen Sinn geben“ konnte. Nach dem Suizid ihrer schwerkranken Tochter Jesta 1964 klagte sie allerdings, „dass ihre ganze Welt in Trümmern liegt“. Asta Nielsen selbst starb 1972 hochbetagt in dem nahe Kopenhagen gelegenen Ort Frederiksberg.

In Beuys’ Biographie erscheint Nielsen nicht immer sehr sympathisch, doch wird sie von der Autorin nie denunziert. „[U]m ihren innersten emotionalen Bereich“ hatte die Schauspielerin in all ihren Interviews und autobiographischen Texten „eine unüberwindbare Mauer hochgezogen“. Auch in dem vorliegenden Band erfährt man zwar viel über ihre Arbeit und Karriere als Schauspielerin, wenig hingegen über den Menschen. Doch immerhin ist es Beuys gelungen, dem Mauerwerk einige feine Risse zuzufügen und es im Falle von Nielsens Liebesbeziehung zu Rudolf Mendler gar einen Spalt zu öffnen.

Titelbild

Barbara Beuys: Asta Nielsen. Filmgenie und Neue Frau.
Insel Verlag, Berlin 2020.
447 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783458178415

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