In Wiederholung erstarrte Ausnahmen

Jeremy Tiang zeichnet in „Das Gewicht der Zeit“ ein eindrückliches Porträt der Brüche und Kontinuitäten in Malaysia und Singapur seit der Dekolonisation

Von Sandra FolieRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Folie

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage „Was wäre, wenn“ zieht sich wie ein Refrain durch Jeremy Tiangs 2018 mit dem Singapore Literature Prize ausgezeichneten Debütroman. All die ergriffenen oder verpassten, alternativen, aber nicht mehr erlebbaren Möglichkeiten lasten auf den Figuren und letztlich auch die Frage, ob und wie „man mit den Entscheidungen, die man getroffen hat, leben [kann]“.

Die Summe dieser Entscheidungen ergibt das Gewicht der Zeit; insofern ein durchaus passender, wenn auch etwas weichgespülter und im Gegensatz zum originalen State of Emergency unpolitischer Titel. Gemeint ist jener Ausnahmezustand, der 1948 zur Bekämpfung der Malayan Communist Party von den britischen Besatzern über Britisch Malaya und Singapur verhängt wurde. Obgleich er zwölf Jahre später endete, überschattet er das Leben der Figuren im Roman auch noch ein halbes Jahrhundert später. Die sechs Kapitel, von denen jedes eine in sich abgeschlossene und durch eine andere Figur erzählte Geschichte darstellt, werden von einer mehrere Generationen umfassenden Familiengeschichte zusammengehalten, die sich nach und nach mosaikartig zusammensetzt.

Die Elterngeneration: Zwischen Kolonialismus und Kommunismus

Der Roman beginnt mit den Erinnerungen des 78-jährigen, im Sterben liegenden Jason. Sein „Gefangenendasein“ in einem Krankenhaus in Singapur fühlt sich an „wie eine infernalische Version seines früheren Lebens: lange, leere Tage, durchbrochen von regelmäßigen, sinnlosen Ereignissen.“ Dieser Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt eines als unspektakulär und arbiträr empfundenen Lebens steht in krassem Gegensatz zu jenem „geradlinigen Fortschrittsprozess mit einigen wenigen unglücklichen Zwischenfällen“, der ihm in der Schule als Geschichte verkauft wurde. Die Leere tritt mit dem Verschwinden seiner Frau, Siew Li, in Jasons Leben. Sie muss aufgrund ihrer politischen – kommunistischen – Aktivitäten fliehen und lässt ihn mit kleinen Zwillingen zurück. Als während der Konfrontasi (1963–66) zwischen Indonesien und dem neu gegründeten Staat Malaysia auch noch seine kleine Schwester Mollie einem Bombenattentat zum Opfer fällt, kommt der „Moment, an dem er die Hoffnung aufgab, jemals wieder ganz zu werden“. Seither hängt Jason in einer Art Zeitschleife fest. Er funktioniert zwar nach außen hin und führt ein geordnetes Beamtenleben, verdrängt jedoch Vergangenes und lässt die Wut darüber regelmäßig an seinen Kindern Janet und Henry aus.

Während sich Jasons „Was wäre, wenn“-Fragen ausschließlich auf Abschiede – das Verschwinden seiner Frau, den Tod seiner Schwester – beziehen, richten sich jene von Siew Li auf Anfänge: Wenn sie ihren Mann Jason und die Kommunistin Lina nicht zufällig kennengelernt hätte, „Was wäre dann aus ihrem Leben geworden?“ Sie inszeniert sich nicht wie Jason als Gefangene des Schicksals, sondern bewertet die Zufälle in ihrem Leben als Befreiung. Dennoch schreibt sie an ihrem Lebensabend Briefe an ihre Kinder, die sie nicht hat aufwachsen sehen, und sucht nach jenem „Augenblick, in dem ihr Leben auseinanderbrach, in so viele Teile zerfiel, dass es sich nie wieder kitten ließ. Aber es gab diesen einen Moment nicht oder er lag sehr weit zurück“. Richtungsweisend war bereits ihre Herkunft. Sie stammt wie Jason aus Singapur, allerdings aus einer armen chinesischsprachigen Familie, wohingegen er mit dem Queen’s English der Besatzer aufgewachsen war. Chinesen wurden schon während der Besetzung durch die Japaner (1942–45) systematisch verfolgt und zur Zeit des Ausnahmezustandes (1948–60) von den erneut an die Macht gelangten Briten zu Hunderttausenden zwangsumgesiedelt. Die unterschiedlichen Sprachen stehen folglich auch für unterschiedliche politische Systeme: Auf der einen Seite das koloniale Regime der Briten, auf der anderen die pro-chinesischen Kommunisten, die den Weg des bewaffneten Widerstands wählten.

Nam Teck, aus dessen Perspektive das dritte Kapitel erzählt wird, schließt sich in den frühen 1960er Jahren, ebenso wie Siew Li, den kommunistischen Guerillas (Ma Gong) an. Sein Vater wurde – wie alle Männer im Dorf – von den Briten ermordet, als er noch ein Kleinkind war, die Häuser abgebrannt und die Einwohner zwangsumgesiedelt. Er verbringt seine Kindheit in einem streng bewachten und mit Stacheldraht umzäunten Lager im Dschungel, das sie angeblich vor den Ma Gong – darunter Freunde und Verwandte – schützen soll. Als junger Mann – der Zaun um das Dorf war längst gefallen – zieht Nam Teck nach Kuala Lumpur, wo ihm allmählich bewusst wird, „dass es Fronten gab, die nach Kriegsende zwar weniger sichtbar waren, aber dennoch existierten“; dass die Briten bereits hätten „abziehen sollen, aber noch herum[hingen] wie ungebetene Gäste auf einem Fest“ und „ihr Regierungssystem daließen“.

Die Folgegeneration: Zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Ein Zeitungsartikel über ein Massaker, das sich zwanzig Jahre zuvor in einem malaysischen Dorf zugetragen haben soll, zieht die Aufmerksamkeit der Journalistin Revathi auf sich. Sie überzeugt ihren Chef, dass sie – ihre Eltern stammen aus Singapur und sie selbst ist dort geboren – die einzig Richtige für diese Reportage sei, und macht sich auf den weiten Weg von Birmingham nach Malaysia, um herauszufinden, was am 11. Dezember 1948 in Batang Kali – Nam Tecks Heimatdorf – wirklich geschehen ist. Revathi erkennt, dass sie sich „in einem Krieg [befindet], der keiner ist, aber immer noch andauert, obwohl er vor zehn Jahren zu Ende war“. Ihre Aufdeckungsreportage wird ein großer Erfolg, zieht jedoch keine rechtlichen Konsequenzen für die Täter nach sich. „Es würde nie gerecht zugehen auf der Welt, vieles würde immer im Verborgenen bleiben, doch sie war immerhin in der Position, einem Teil der Wahrheit ans Licht zu verhelfen. Das musste genügen.“

Stella, die Tochter von Jasons ermordeter Schwester Mollie, wird 1987 am Flughafen in Singapur festgenommen. Weil sie sich als Katholikin für die Rechte ausländischer Hausangestellter engagiert, wird ihr von der Abteilung für Innere Sicherheit die Beteiligung an einer kommunistischen Verschwörung vorgeworfen. Stellas Geschichte weist aufgrund ihres Dialogreichtums ein besonders hohes Identifikationspotential auf. Die sich ständig im Kreis drehenden Verhöre, während denen sie mit Schlafentzug, Ohrfeigen, Wasser- und Kälteschocks gefoltert wird, gehören stilistisch zum Besten, was der Roman zu bieten hat – auch wenn sie stellenweise schwer auszuhalten sind. Stella sieht keine Möglichkeit, in dieser „Haft ohne Gerichtsverhandlung“ ihre Unschuld zu beweisen, weshalb sie letztlich ein Geständnis erfindet: „Niemand wollte sein restliches Leben in einer Zelle fristen und dabei nicht einmal als Märtyrer oder als Symbol des Widerstandes gelten. Was für einen Sinn hat es, auf Prinzipien zu beharren, wenn man vom Rest der Welt vergessen wird?“ Eine vermeintlich kommunistisch unterwanderte katholische Beratungsstelle gibt für eine Enthüllungsreportage nicht genug her und Stella ist auch keine Siew Li. Von ihr ist nach Haft, Folter, öffentlicher Denunziation und quasi Berufsverbot „so wenig übrig geblieben“, dass sie „nicht auch noch den Rest opfern [konnte]“.

Mit dem letzten Kapitel – Henrys Geschichte – schließt sich der Kreis. Er – mittlerweile Professor für Geschichte in London – reist mit seiner Freundin Revathi zur Beerdigung seines Vaters nach Singapur. Seine Zwillingsschwester Janet hält ihm vor, nur heimzukommen, „wenn jemand gestorben ist“, was daran liegt, dass „allein der Gedanke an Rückkehr“ in ihm lange „klaustrophobische Gefühle aus[löste], als könne man ihn anschließend an der Ausreise hindern“. Dafür hat Janet aufgehört ihn zu fragen, wann er endlich heiraten werde. Von ihrer Kirche, in der die Trauerfeier stattfindet, weht ihm allerdings ein Transparent mit der Aufschrift „Homosexuelle können sich ändern“ entgegen, in dem jener Vorwurf der „Widernatürlichkeit“ mitschwingt, mit dem bereits seine lesbische Cousine Stella während ihrer Haft schikaniert wurde. Als Henry beim Aufräumen der Wohnung seines Vaters alte Briefe und Fotos seiner Mutter – bewaffnet und in Ma Gong-Uniform – findet, begibt er sich auf Spurensuche in den Norden. In einem thailändischen Dorf, „das nichts zu bieten hat außer die Vergangenheit“, trifft er auf Nam Teck, der sich als Siew Lis früherer Geliebter vorstellt und ein Museum des kommunistischen Widerstands betreibt. „Vier Jahrzehnte Kampf und das ist alles, was übrig geblieben ist,“ geht es Henry durch den Kopf. „Arme Siew Li, dachte sie wirklich, sie könnte die Welt verändern? […] Wäre sie glücklich, wenn sie das hier hätte miterleben können?“

Writing Back: Die Vielstimmigkeit der anderen Seite

Jeremy Tiang vermittelt in Das Gewicht der Zeit ein Stück Geschichte, das (nicht nur) im deutschsprachigen Raum kaum bekannt sein dürfte; ein Umstand, der im Roman auf mehreren Ebenen verhandelt wird – durch das Schweigen und Verdrängen von Figuren wie Jason, Stella oder auch Henry, dem „seine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Geschichte das Gefühl gegeben [hat], dass sich im Grunde nichts ändert, man sich daher am besten bedeckt hält und seinem Alltag nachgeht“. Schließlich war es seine Freundin Revathi, die den Briten „die Stimme der anderen Seite, des malaysischen Volkes“, präsentierte. Zwar musste sie sich die Ressourcen für dieses Unterfangen in der klassenbewussten, rassistischen und sexistischen britischen Gesellschaft, die sich auch in der Redaktion ihrer Zeitung widerspiegelt, mühevoll erkämpfen; sie ist aber insofern weniger belastet, als sie auf einer persönlichen Ebene nicht mit der politischen Willkür in Südostasien und den daraus resultierenden Traumata konfrontiert ist. Ihre Reportagen bieten innerhalb der Fiktion eine Korrektur der einseitigen Medienberichterstattung.

Darüber hinaus stellen die sechs verwobenen Geschichten eine facettenreiche Alternative zu jenen „viktorianischen Romanen“ dar, die Henry „früher verschlang“ und in denen „die Kolonien so gut wie nicht vor[kommen], obgleich sich der britische Wohlstand der Ausbeutung dieser Gebiete verdankt“; dieses, durch seine Lesepraxis erworbene, einseitige Weltbild setzte sich in Henrys Forschungsinteressen – den Habsburgern – fort und bedingt jene historische Unwissenheit mit, welche die „alten Linken“ an einem gebürtigen Singapurer und Professor für Geschichte so erstaunt.

Ein Erstaunen dürfte für viele Leser*innen nicht nur auf geschichtlicher, sondern auch auf sprachlicher Ebene beständiger Bestandteil der Lektüre sein. Die Figuren sprechen nicht einfach nur Englisch, Malaysisch und Chinesisch, sondern „dieses grässliche monotone Englisch, das offenbar unter den Jungen üblich ist“; Henry wiederum „bedient sich der abgehackten Sprechweise des englischen Akademikers“ und alle zusammen klingen sie für Südostasiat*innen als hätten sie „eine Kartoffel im Mund“. Auch das Chinesische wird weiter in Putonghua, Kantonesisch, Hainan, Mandarin und Hakka spezifiziert. Der Roman wurde von Susann Urban – bis auf einzelne Begriffe oder kurze Sätze, die ganz hinten in einem Glossar erläutert werden – in ein sehr lebendiges, teils umgangssprachliches Deutsch übersetzt, behält aber seine multilinguale Atmosphäre bei; ständig verstehen sich einzelne Figuren nicht (gut), können Schriftzeichen nicht entziffern, sind gerade dabei, eine weitere Sprache zu lernen, oder müssen die Dienste einer Dolmetscherin in Anspruch nehmen. Man merkt – und profitiert davon –, dass der Autor Jeremy Tiang auch Übersetzer ist.

Das Gewicht der Zeit ist ein ebenso eindrücklicher wie fordernder Roman, der die eine oder andere Hintergrundrecherche abverlangt, dafür aber einen literarisch wie auch historisch wertvollen Einblick in die Geschichte Malaysias und Singapurs verspricht, der weit über den Exotismus eines Joseph Conrad oder das Blingbling von Kevin Kwans Crazy Rich Asians hinausgeht.

Titelbild

Jeremy Tiang: Das Gewicht der Zeit.
Aus dem Englischen übersetzt von Susann Urban.
Residenz Verlag, Salzburg 2020.
304 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783701717286

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch