Schonungslose Bilanz eines Lebens

Der in seiner Umsetzung ungewöhnliche neue Roman von Eshkol Nevo führt in die unauflösbaren Verwerfungen eines Menschen und eines Landes

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eshkol Nevo nimmt für seinen neuen Roman einen fast schon klassischen Ausgangspunkt: Den Schriftsteller in der Midlife-Crisis und Schaffenskrise. Ungewöhnlich ist jedoch die Umsetzung in Form von Antworten auf Fragelisten, die verschiedenste Magazine und Zeitungen regelmäßig an Schriftsteller verschicken. Und dann trägt die Romanfigur auch noch den gleichen Namen wie der international mehrfach ausgezeichnete Romanautor.

Dieser Eshkol Nevo ist früh im Hafen der Ehe gestrandet, hat mit seiner Frau Kinder bekommen und ein Haus gebaut. Zugleich ist er als Schriftsteller recht bekannt geworden und reist für Lesungen um die Welt: „Das Leben, das ich nicht leben konnte, das habe ich geschrieben. Einige Jahre hat das ganz gut funktioniert.“

Doch jetzt hat Nevo schon lange nichts mehr geschrieben, seine Ehe kriselt und sein bester Freund liegt im Sterben. Er macht sich daher systematisch und ausführlich an die Beantwortung der (Leser-)Fragen von Zeitschriften und Magazinen. Dabei blickt er zurück in seine Vergangenheit: auf einen großen Südamerika-Trip mit seinen Freunden in jungen Jahren, auf seine Armee-Zeit mit den üblichen Repressalien gegen Palästinenser oder auch auf seine Arbeit in der Werbeagentur. Hier lernte er einen aufstrebenden Politiker kennen, den er nicht leiden konnte, der politisch konträr zu seinen Überzeugungen stand und dem er doch über viele Jahre hinweg seine Reden geschrieben hat – ein schwerer Makel in seinem Lebenslauf und in seinem Anspruch auf Aufrichtigkeit. Immer wieder thematisiert wird hier auch das brisante Verhältnis zwischen Israelis und den Palästinensern, die ein Volk zweiter Klasse und Diskriminierungen ausgesetzt sind  – aber gleichzeitig den Staat Israel und seine (zum Teil illegalen) Siedlungen bedrohen.

Eshkol Nevo erzählt seinen Roman trotz einiger durchaus schwieriger Themen in einem lockeren und selbstironischen Plauderton. Exemplarisch dafür ist die schon fast metaphorische Geschichte auf die Frage, warum er nicht über den Holocaust schreibt: Auf einer Lesereise in Deutschland bekommt er die voluminösen Erinnerungen eines Holocaust-Überlebenden überreicht und „vergisst“ sie immer wieder in seinen Hotelzimmern, weil sei nicht in seinen Koffer passen – und immer wieder kehren sie auf verschlungenen Wegen zu ihm zurück und fordern sein schlechtes Gewissen ein.

Eshkol Novo in seiner Doppelrolle als Romanautor und Protagonist ist aber ein unzuverlässiger Erzähler und es verschwimmen immer wieder die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung – sowohl innerhalb des Romans wie auch auf das wirkliche Leben des Schriftstellers bezogen.

Die Wahrheit ist ist in seiner außergewöhnlichen Umsetzung ein spannendes und durchaus gelungenes formales Experiment, in dem ein Schriftsteller die Bilanz seines Lebens zieht und schonungslos seine Schuld und seine Schwächen offenbart. Naturgemäß bleibt der Roman in dieser Form der Fragen- und Antworten-Abfolge etwas episodenhaft und entwickelt dadurch keinen übergreifenden Spannungsbogen oder unwiderstehlichen Lesesog. Trotzdem liest man ihn gerne und bekommt dabei sowohl Einblicke in die unauflösbaren Verwerfungen eines Menschen wie auch des Staates Israel.

Titelbild

Eshkol Nevo: Die Wahrheit ist.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
dtv Verlag, München 2020.
432 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282192

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