Engagiert komparatistisch

Thomas Pikettys neues Werk „Kapital und Ideologie“

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Kapital und Ideologie liegt ein neues Buch des sogenannten Rockstar-Ökonomen Thomas Piketty vor, der sich diesen Titel vor allem durch seinen Weltbestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert erworben hat. Inwiefern er darin Rockstar-Qualitäten an den Tag gelegt hat, mag dahingestellt bleiben, jedenfalls aber war es ganz offensichtlich ein Coup, dass sich ein Ökonom dem Thema Ungleichheit so ausführlich widmet – mit jeder Menge Datenmaterial, aus dem hervorging, dass die Ungleichheit in Europa und den USA nach den Weltkriegen abnahm, in den letzten Jahren jedoch (also grob ab den 1980er Jahren und der Reagan-Thatcher-Ära) wieder zugenommen hat, mit insbesondere in den USA überproportionalen Zuwächsen bei den sehr, sehr Reichen, im „oberen Perzentil“ wie es mit Hinblick auf die Statistik lautet.

Dass es diesem „oberen Perzentil“ nicht eben schlecht erging, hätte man aber wohl auch mit weniger Statistik erahnen können, zumal es erklärte Politik war, die Reichen zu ‚entlasten‘, damit alle davon profitierten. „Trickle down“, so nennt das der US-Amerikaner und jeder versteht es. Andererseits muss man Piketty zugutehalten, dass es natürlich schon einen Effekt hat, das, was man eh schon ahnte, in diesen vielen Grafiken zu ‚sehen‘. Da nehmen Kurven nur so Fahrt auf, dass einem schon mulmig werden kann – oder eben auch nicht, wenn man ‚verstanden hat‘, dass das letztlich allen zugutekommt. Doch hier kommt die zweite, etwas kontroversere Beobachtung Pikettys ins Spiel, denn er zeigt außerdem, dass diese Phase der Zuwächse ganz oben gerade kein höheres Gesamtwachstum erbrachte. Wäre somit das Prinzip des „trickle down“ empirisch widerlegt, könnte das natürlich auch Auswirkungen auf politische Entscheidungen haben – aber noch ist der politische Einfluss des Bücher schreibenden Rockstar-Ökonomen überschaubar. In Frankreich hielt man ihm (völlig zurecht und von Pikettys Daten gedeckt) entgegen, dass das Problem der Ungleichheit in den USA viel größer sei als in Europa, und zumal in Frankreich. Außerdem seien Pikettys Bücher schlicht zu dick, wie der frühere französische Finanzminister Michel Sapin zu bedenken gab, als man ihn fragte, ob er Pikettys 970 Seiten starkes Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert gelesen habe.

Dieses Problem ist mit Pikettys neuem Werk nicht überwunden, im Gegenteil, es sind noch einmal rund 300 Seiten hinzugekommen. Aber trotz der vielen Seiten ist Kapital und Ideologie eigentlich ein überaus schlankes Buch. Denn beleuchtet werden darin Ungleichheitsregime vom Mittelalter bis heute und rund um den Globus, was naturgemäß zu sehr reduzierten, eben ‚schlanken‘ Betrachtungen der unterschiedlichen Kontexte führen muss. Dass sich Piketty damit durchaus angreifbar macht, dürfte ihm selbst klar sein und er wäre sicher der letzte, der sich fachwissenschaftlichen Einwänden und Hinweisen versperren würde. Dafür sprechen seine nahezu komplett online zur Verfügung stehenden Datensammlungen und die intellektuelle Neugier, mit der er sich Fragen sozialer Ungleichheit in Haiti, Indien, China, Brasilien, Südafrika oder dem postsowjetischen Russland annimmt, um nur einige wenige Kapitel zu nennen.

Sein Ziel ist dabei gerade keine abschließende Betrachtung, sondern das Widerlegen von Vorurteilen, die Ungleichheitsregime als letztlich kulturell verankert und damit unveränderbar ansehen. Eines seiner Lieblingsbeispiele ist in dieser Hinsicht Schweden, das bis Anfang des 20. Jahrhunderts keineswegs besonders egalitär organisiert war (mit einem Wahlrecht, bei dem mitunter einer einzigen Person aufgrund ihres Vermögens mehr als 50 Prozent der Stimmen zustanden), sich aber im Laufe der Zeit zu einer Art sozialdemokratischem Vorzeigestaat entwickelt hat. Und zu solchem Wandel braucht es nicht unbedingt immer Weltkriege, die Piketty nachvollziehbarerweise als relativ kostspielige und inhumane Strategie zum Abbau von Ungleichheit ansieht, sondern dabei helfen manchmal Arbeiterbewegungen, Aufstände und alternative „Ideologien“, die bereitstehen, um bislang unvorstellbare Wege einschlagen zu können.

Und so kann es zwar manchmal lange dauern, ehe sich Ideen wie progressive Besteuerung durchsetzen, aber es ist auf jeden Fall gut, solche Ideen überhaupt zu entwickeln. Wobei der Autor eine gewisse Vorliebe für sehr konkrete Ausgestaltungen solcher Ideen hat, wie er sie bei Verwaltern und Steuerbeamten des 18. Jahrhunderts findet, die schon recht präzise Konzepte für eine progressive Einkommens- und Erbschaftssteuer entworfen hatten. Aber gerade Frankreich ist in Pikettys Buch ein gutes Beispiel für die kuriose Wirkung nationaler Vorurteile. Als sei es abwegig, in einem Land, das die Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit quasi erfunden habe, auch noch progressive Steuern zu fordern. Tatsächlich zeichnet Piketty nach, wie nach der Revolution das Privateigentum geradezu sakralisiert wurde – weshalb etwa bei der Aufhebung der Sklaverei auch nicht die Sklaven entschädigt wurden, sondern deren Besitzer. Dass diese Geschichte fern, aber so fern auch nicht ist, zeigt dabei der Fall Haitis, dessen Bevölkerung im ausgehenden 18. Jahrhundert zu 90% aus Sklaven bestand, und das bis in die 1950er Jahre die Schulden abbezahlen musste, die ihm Frankreich als Gegenleistung für die Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts auferlegt hatte.

Anstatt aus solchen Zusammenhängen jedoch Anschuldigungen zu formulieren, versucht Piketty, die jeweiligen Legimitationen nachzuvollziehen und kommt dabei immer wieder auf das Problem der „Angst vor der Leere“ zu sprechen. Wo Eigentumsordnungen angetastet werden, scheint sich schnell die Frage einzustellen, wo damit aufhören. Wenn man Sklavenhalter nicht entschädigt, müsste man dann nicht auch diejenigen belangen, die ihre Sklaven vor kurzem verkauft haben, und deren Vermögen also im Grunde genauso illegitim ist wie dasjenige der Sklavenhalter? Komplizierte Fragen, die nicht selten dazu führen, dass man erst gar nicht anfängt, sie zu lösen.

Doch gerade diesem Fatalismus möchte Piketty entschieden entgegenwirken. Eigentumsverhältnisse sind keine Naturgesetze. Sie hängen unter anderem von rechtlichen Konstruktionen ab, die durchaus veränderbar sind, so es dafür einen politischen Willen gibt. Genau hier sieht er aber akute Probleme, die ihn insbesondere in den letzten Teilen seines Buches umtreiben, und wiewohl Piketty insgesamt Optimist ist, so finden sich hier doch zum Teil bittere Zeilen. Fast scheint es so, als habe man aufgehört, an die Möglichkeit einer transnational gerechteren Welt überhaupt zu glauben. Stattdessen floriert eine jeder-für-sich-Mentalität, ob innerhalb der Staaten oder zwischen den Staaten. Doch dass Fragen der Grenzsicherung relevanter scheinen als Fragen der Gerechtigkeit, wertet Piketty als schlechtes Zeichen. Wo Perspektiven fehlen, fangen die Menschen an, Sündenböcke zu suchen, ein Lieblingssport der extrem rechten Parteien, der jedoch kein einziges konkretes Problem zu lösen vermag. Schon deshalb sei es geboten, solche Perspektiven aufzuzeigen, was Piketty mit seinen Vorschlägen zu einem partizipativen Sozialismus denn auch tut.

Ob man das partizipativen Sozialismus oder Sozialdemokratie für das 21. Jahrhundert nennt, ist ihm dabei ziemlich egal, jedenfalls braucht es Vorschläge. Einer dieser Vorschläge ist dabei besonders prominent geworden, nämlich derjenige eines Erbes für alle: mit 25 Jahren solle jeder und jede 120 000 Euro erben. Dieser Vorschlag, der von den 1300 Seiten des Buches gerade mal zwei Seiten einnimmt, sollte sicher nicht überbewertet werden. Er hängt aber durchaus mit dem Gesamtwerk zusammen, da Piketty immer wieder in verschiedenen historischen Epochen und Ländern auf die Tatsache stößt, dass die Ärmeren der Gesellschaft dies auch bleiben. Ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft erbt gar nichts, das war immer so und ist bis heute so. Vor diesem Hintergrund ist es zumindest interessant, sich zu überlegen, was ein solches Erbe für alle verändern könnte. Doch zu diesen Überlegungen wird eine Gesellschaft kaum kommen, die wie Piketty durchaus sorgenvoll feststellt, zunehmend dazu tendiert, „Gewinner zu feiern und Verlierer zu schmähen“.

Dies scheint Piketty jedoch keine sehr zukunftsträchtige Haltung. Eher schon könnte er sich für Bemühungen erwärmen, die ‚Gewinner‘ etwas genauer auszumachen und vor allem herauszufinden, wo sich deren Vermögen so tummelt. Denn selbst in Zeiten von Big Data und Digitalisierung ist es verblüffend, wie wenig man eigentlich über Verbleib, Höhe und Zusammensetzung großer Vermögen weiß. Hier scheint es ihm, als habe man teilweise kapituliert. Wobei eine solch militärische Sprache gar nicht zu Piketty passt. Und die ‚Reichen‘ sind auch nicht seine Feinde, wiewohl er deren Vermögen gerne etwas mehr zirkulieren sähe, zum Wohle aller.

Vor Piketty, so viel ist klar, braucht wirklich niemand Angst zu haben. Die schönsten Dinge im Leben, so gibt er in einer Fußnote zu bedenken, seien ohnehin nicht für Geld zu haben, und obwohl man eine solche Aussage in einem Buch über Kapital und Ideologie etwas fehl am Platze finden könnte, so hat sie in Pikettys Buch doch ihre Berechtigung. Denn neben allen ernüchternden Statistiken zur Ungleichheit in allen Weltteilen und aufrichtiger Sorge um deren Konsequenzen, ist sein Buch doch vor allem ein Plädoyer dafür, den Blick zu weiten und nicht zu verzagen. Mit spürbarer Freude zitiert Piketty Filme und Romane, die es ihm ermöglicht haben, sich gerade den außereuropäischen Kontexten anzunähern, die in seinem Vorgängerbuch noch ganz außen vor geblieben waren. Und wenn seine Werke weiterhin dazu beitragen, dass einige Länder dazu animiert werden, Daten zu sammeln oder freizugeben, damit sie in der von Piketty mit eingerichteten world inequality database Eingang finden, dann wäre das kein geringes Verdienst. Zumal man Webseiten schlechter vorwerfen kann, sie seien „zu dick“.

Titelbild

Thomas Piketty: Kapital und Ideologie.
Aus dem Französischen von André Hansen u.a.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
1312 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783406745713

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