Zwischen Tieren, Pflanzen und leerer Landschaft

In ihrem Lyrikband „Nimbus“ erkundet Marion Poschmann die Rolle des Menschen in seiner Umwelt

Von Florian KurzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Kurz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Art lyrische Rundreise durch Nord- und Mittelasien sind die neun Abschnitte des Gedichtbands Nimbus von Marion Poschmann. Meist tragen sie kryptische Titel: Sibirischer Tierstil, Seladon-Oden, Daimon. Viele von ihnen drehen sich um den Menschen und sein Verhältnis zur Umwelt, zu Tieren, zu dem, was man landläufig als Natur bezeichnet.

Schon im ersten Gedicht mit dem Titel Und hegte Schnee in meinen warmen Händen zeigt sich, welcher Art diese Beziehung ist. Ihm ist ein Sophokles-Zitat vorangestellt: „nichts ist ungeheurer als der Mensch.“ Selbiger unternimmt in den folgenden Strophen eine Reise per Flugzeug und trägt mit dieser Art der Fortbewegung dazu bei, dass die Gletscher schmelzen: „ich taute Grönland auf mit meinem Blick.“ Geschickt verbindet Poschmann in diesem Vers Bedeutungen und Bilder; es wird die Tatsache benannt, dass allein die Besichtigung von Landschaften, das Anblicken, deren Zerstörung bewirken kann, weil der CO2-Ausstoß des Flugzeugs den Klimawandel beschleunigt; und gleichzeitig klingt das Monströse an, das Bild eines Giganten, der zerstört, sobald er seinen laserartigen Blick auf etwas richtet. Kleiner Ausflug in die Popkultur: In Marvels Film Thor von 2011 taucht der „Destroyer“ auf, eine Art ferngesteuerter Roboter, der mit ebensolchem Blick gegen den Superhelden kämpft. Und wie ein Kampf der menschlichen Technik gegen die – eigentlich menschenleere – Arktis liest sich auch das Eingangsgedicht.

Der Mensch inmitten einer kalten, leeren Landschaft zieht sich durch alle sieben Gedichte des ersten Abschnitts mit dem Titel Sibirischer Tierstil. So nennt man in der Archäologie eine bestimmte Art von Verzierung, die sich dadurch auszeichnet, dass Tierbilder Reihen bilden. Das erklärt auch, warum das lyrische Ich in dem Gedicht Über die Hügel „in einer Reihe von Tierornamenten“ reitet, sich eingliedert in die Tierwelt, die in der Taiga zu Hause ist, wo das Gedicht spielt. Nachdem sich auch Poschmanns Texte – dem Tierstil gemäß – ineinander verschlingen, ist es nicht verwunderlich, dass sich im letzten des Abschnitts, Restschnee, die Aufforderung findet: „Laß uns von Erdöl sprechen.“ Abermals verbindet die Lyrikerin Bedeutung mit überaus starken Bildern: „wuchs mir ein Pelz aus Pipelines, ich war Sonne, / und meine Strahlen reichten bis Sibirien.“ Diesmal klingt allerdings keine Zerstörungsmaschine an, sondern ein Heilsbringer mit weitem Gewand und Heiligenschein – jedoch nicht für die Landschaft, denn anschließend geht es um leckende Rohre und schillernde Sümpfe. Auffällig bei diesem Gedicht außerdem: Es wird „Daimon“ erwähnt, „ein Produzent von Batterien“. Das ist ein erster Hinweis darauf, dass auch die Teile des Bandes aufeinander verweisen, denn „Daimon“ – Geistwesen, auch als „Dämon“ lesbar – ist zugleich der Titel des letzten Teils.

Die Gedichte in Nimbus sind selten länger als eine Seite, meistens nehmen sie nur eine halbe ein. Damit folgt Poschmann dem Trend zu kurzer Lyrik, die sich nicht als ausuferndes Langgedicht über viele Seiten zieht und den Leserinnen und Lesern einiges an Durchhaltevermögen abverlangt. Vielmehr lassen sich die kurzen Gedichte auch häppchenweise lesen, vor allem diejenigen, für die kein Vorwissen über archäologische Ornamente oder eine bestimmte Art von Keramik nötig sind – Voraussetzung etwa für die Seladon-Oden. In Quallen beispielsweise geht es um die glibberigen Tiere, „transparente Städte, die rasend schnell schmolzen“, „Fontänen in Folie eingeschweißt“. Ein leichter Genuss sind die Texte dabei nie: Wenn es im selben Quallen-Gedicht heißt: „zur Fütterung hatte ich Quellwolken über den Strand geblasen“, fragt man sich, wer da eigentlich spricht und in welcher Situation man sich gerade befindet. Das abschließende „so gelingt Hagelschlag“ komplettiert die Verwirrung – sind überhaupt Menschen an dem Strand, an dem die Quallen liegen, oder ist es der Wind, wenn es heißt: „und du streicheltest lange den glitschigen Schirm“?

Wer nicht gern rätselt, nach Hinweisen sucht und nicht die Geduld mitbringt, in den Versen nach Bedeutung zu suchen, der wird an Nimbus oft keine Freude haben. Vor allem die zehn Gedichte des Abschnitts Stadtschamanen setzen dem Verständnis einiges entgegen oder verweigern sich ganz. Zwar liefern bruchstückhafte Hinweise in den Zeilen einen ungefähren Eindruck des Themas, des Ortes und der Zeit, mehr aber auch nicht. In Ghost Detecor II beispielsweise geht es vordergründig um Selbstoptimierung, aber was genau zu vergrabender „Anti-Rauch“ sein soll, bleibt offen; überhaupt versammeln sich verwirrend viele Verweise auf verschiedene Themen, es wird die „Technik der Videobilder“ erwähnt, die – im Zusammenhang mit beschriebenen Ufos – vermutlich ein Buch ist, in dem es darum geht, paranormale Aktivitäten aufzuzeichnen, was dem Angesprochenen in Ghost Detector II jedoch nicht gelingt. Hier ist Überforderung das Konzept, was die Leserinnen und Leser entweder aushalten müssen – oder wo sie mehr oder weniger genervt weiterblättern können.

Tatsächlich kann das Spiel mit Wörtern, gerade wegen der Sprachkunst dieses Lyrikbandes, ermüden. „Bewegungen – schockgefrostet, / in trübe Blöcke gebannt“ heißt es etwa in einem Gedicht – steckt nicht etwas zu viel Pathos darin, etwas in etwas zu „bannen“ wie einst Johann Wolfgang von Goethes Faust den Pudel hinter den Ofen? Und der Gedichttitel Während der Wald wieder wichtiger wird erinnert ein wenig an die Stilmittel aus dem Deutschunterricht, heute an der Reihe: Alliteration á la „Milch macht müde Männer munter.“

Das titelgebende Gedicht Nimbus ist das letzte im Band. Wieder ist Recherche angesagt, es sei denn, man weiß, wer Zeami Motokiyo ist (Wikipedia schlägt vor: „eine wichtige Person des japanischen Nō-Theaters“). Von ihm ist nämlich ein Zitat vorangestellt: „Eine silberne Schale, gefüllt mit Schnee.“ Schnee und Nimbus, wieder entführt Poschmann in die Bergwelt, und wieder klingt dabei das Transzendente an – weiße Wolken sind in der chinesischen Lyrik ein Sinnbild für die Erleuchtung, und entsprechend finden sich Beschreibungen wie „ein regloser Fluß, in den ich / so lange schaute“, bevor es explizit ums asiatische Konzept des Dao geht, gepaart mit Liegestühlen und „Zauberbergsetting“.

Die Freude am Verweisen und Fährtenlegen hat Nimbus genauso wie andere zeitgenössische Lyrikbände, und die Verfasserin vermischt Literatur, Natureindrücke, Reflexion über Sinn mit sprachlicher Dichte. Das letzte Gedicht zeigt, wie der ganze Lyrikband funktioniert: Als Überblendung scheinbar entgegengesetzter Themen, als Bruch zwischen menschengemachten Konzepten und einer entmenschlichten Natur. Insgesamt ist Nimbus ein in die Tiefe gehender Lyrikband, der mit eindrücklichen, eingängigen Bildern punktet, aber sich allzu oft in kryptischen Andeutungen verliert. Fazit: Absolut lesenswert – wenn auch an manchen Stellen mit viel Arbeit verbunden.

Titelbild

Marion Poschmann: Nimbus. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
115 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429242

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