Die Absurditäten einer hyperdigitalisierten Welt

Zwischen Utopie und Dystopie – Niklas Maaks Roman „Technophoria“ lotet Grenzen aus

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Algorithmen bestimmen das Privatleben, eine Gesundheits-App übermittelt Daten an die Krankenkasse und die zunehmende Digitalisierung soll die Menschen auch per Videoüberwachung erziehen. In China wird das sogenannte Sozialkreditsystem schon in Wirklichkeit mittels Gesichtserkennung umgesetzt. Journalist Niklas Maak entwirft in seinem dystopischen Roman Technophoria nun ein Szenario, das sich nicht etwa im Jahr 2050, sondern in sehr naher Zukunft abspielt, wie die Verweise auf den Finanzdatenhändler Michael Bloomberg oder die gegenwärtige Problematik des Klimawandels suggerieren. Und doch erinnern die zahlreichen detailgenauen Beschreibungen einer hyperdigitalisierten Welt an Science-Fiction-Szenarien: Eine Unterfirma von Google ist dabei, „auf einem alten Hafengelände in Toronto die erste vollvernetzte Smart City der Welt zu bauen, in der alle Probleme der aktuellen Stadt gelöst werden sollten – keine Staus, keine Energieverschwendung […].“ Und der große Internetkonzern Alphabet übernimmt in dieser Dystopie bald alle Angelegenheiten des Staates, der zwar weiter existiert, aber nur noch – wie das britische Königshaus – eine repräsentative Funktion innehat. In Technophoria sind das, anders als in Science-Fiction-Romanen, Visionen, die der Umsetzung bedürfen und sukzessive verwirklicht werden. Eine Vision lautet: „Neue Stadt ist Besserungsanstalt, die es unmöglich macht, schlechter zu werden, denn in der neuen Stadt soll die Möglichkeit des Verstoßes selbst ausgeschlossen werden; das ist das Versprechen, die Drohung an alle.“ 

Im Mittelpunkt des Romans steht Valdemar Turek, der als Cheflobbyist und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit für den Start-up-CEO Driessen tätig ist und somit die Fäden im technisiert-globalisierten Netzwerk zieht, aber auch von der Hyperdigitalisierung abhängig ist: „Wenn er abends auf dem Sofa lag oder untätig vor dem Fenster auf und ab ging, empfahl ihm seine App, seine freie Zeit für Muskelaufbautraining zu nutzen.“ 

Auf der Agenda der beiden Visionäre stehen unter anderem die Schaffung weiterer Smart Cities oder der Ausbau des Überwachungssystems. Das Herzstück ihrer Zukunftsprojekte ist die Flutung der Qattara-Depression der libyschen Wüste in Ägypten. Ziel ist es, die unter dem Meeresspiegel liegende Senke zu fluten, um eine gigantische Wohlstandsoase zu errichten, den Klimawandel aufzuhalten und Flüchtlingsfragen endgültig zu lösen. Mit dem Projekt greift Maak eine vor allem in den 1970er Jahren diskutierte Idee auf, für die eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben worden ist, die im Rahmen des Romans konsequent weitergedacht und ausgemalt wird. 

Hervorzuheben ist, dass der Roman in zweierlei Hinsicht Grenzen auslotet: Zum einen changiert er zwischen den Gattungsgrenzen von Utopie und Dystopie. Denn die Geschichte wird über personale Erzählinstanzen aus Sicht Tureks, Driessens oder weiterer Beteiligter transportiert, so dass eine lobenswert sparsame moralisch-ethische Wertung und Kommentierung ausschließlich auf der Ebene der Figuren erfolgt. Zum anderen spielt der Roman auf der Schwelle zwischen Gegenwart und Zukunft, auf der sich einerseits autonome Autos in der Entwicklungsphase befinden und auf der andererseits große Visionen geschmiedet werden, um die Menschheit auf absurde Weise zu optimieren. Seien es die automatisierten Autos, die zu schnelles Fahren im Keim ersticken sollen, oder die Idee, Mathematik-Lehrkräfte durch Bots zu ersetzen. 

Was für Turek und Driessen eine Verheißung darstellt, ist für andere eine Bedrohung. Doch trotz selbstfahrender Autos, Smart Cities und Massenüberwachung wirkt das Szenario des Romans nicht angsteinflößend oder beklemmend wie beispielsweise die dystopische Welt in George Orwells Roman 1984. Denn Maak lädt von Beginn an dazu ein, Technophoria erfrischend satirisch zu lesen: „Der Strom war weg, damit ging es los.“ Gerade das ist für Turek im hochtechnisierten Testgebäude ein Problem. Denn obgleich sich der Strom über sein Mobiltelefon wieder anschalten lässt, muss er die Hürden der Gesichtserkennung und der Eingabe des Pin-Codes meistern. Zu seinem Verdruss entscheidet ein Algorithmus, „dass Turek zunächst befragt werden musste, ob er ein Roboter sei […].“ Es gibt ähnliche Szenen, die zum Schmunzeln einladen. Angesichts der größtenteils beschreibenden Mitteilungsprosa bleiben die Figuren allesamt jedoch sehr blass. Maak setzt zu viel auf die Detailbeschreibung von Visionen und vernachlässigt die Ausstaffierung seiner Charaktere. 

Nichtsdestoweniger ist Technophoria eine kurzweilige Lektüre mit Erkenntnisgewinn. Und auch wenn Maak keine philosophische Grundsatzdebatte anreißt, fragt man sich auf anthropologischer Ebene nicht mehr, warum derartig viel Energie in die Optimierung der Menschheit im Sinne des Human Enhancement gesteckt wird, sondern wohin die technisch-digitalisierte Optimierung die Menschheit führt. Mögliche Antworten bekommen wir in den Visionen des Romans.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Niklas Maak: Technophoria.
Carl Hanser Verlag, München 2020.
256 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446264038

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