„Der montierte Mensch“

Technisierte Welten – euphorisch besungen, kritisch reflektiert. Über eine Ausstellung des Museum Folkwang

Von Monique GrüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monique Grüter

Wir leben in einer technisierten Welt. Der Mensch bewegt sich zwischen der Abhängigkeit von und dem Miteinander mit Technik, zwischen der Erweiterung von Möglichkeiten und Tendenzen der Entfremdung. Nie waren technische Errungenschaften so von Bedarf wie aktuell und gleichzeitig zeigt sich, wie sehr die analoge Begegnung, das „Real Life“, ein genuin menschliches, nicht durch Technik ersetzbares Bedürfnis ist. In Anlehnung an den Begriff von Bernd Stiegler fand vom 8. November 2019 bis zum 15. März 2020 die Ausstellung Der montierte Mensch im Museum Folkwang in Essen statt. Montierter Mensch – was heißt das eigentlich? Fast schon hat man das Gefühl, dass sich diese Frage auch durch die Ausstellung zieht. Anhand von über 200 Werken wird der Begriff ausgelotet und im Beziehungsgeflecht unterschiedlichster künstlerischer Positionen von mehr als 100 Künstler_innen der letzten 150 Jahre thematisiert. Und so begibt man sich als Betrachter_in auf die Spuren einer sich stetig weiter technisierenden Gesellschaft – von Technik-Mensch-Verhältnissen, die bei euphorischen Zuständen beginnen, bis zu kritischen Ansichten.  

Die chronologisch angelgete Ausstellung beginnt mit der einsetzenden Indutrialisierung und damit der künstlerischen Position des Futrismus. Mit Verweis auf das futuristische Manifest von Filippo Tommaso Marinetti wird den Besucher_innen eine neue an technologischem Fortschritt orientierte Ästhetik nähergebracht. Im historischen Kontext des Ersten Weltkrieges geht dieses neue ästhetische Verständnis der Futuristen Hand in Hand mit kriegsverherrlichenden Tendenzen, wobei die durch den Krieg hervorgebrachten Parameter Aggressivität und Kraft einen Punkt völliger Reinigung, Umwälzung, ja letztlich Erneuerung markieren sollen. So besingen die Futuristen euphorisch Beweglichkeit und Geschwindigkeit und sehen die Ekstase dieser Energie im Automobil repräsentiert. Der bewegliche Untersatz verschmilzt bei Giaccomo Balla durch Momente der Wiederholung, die sich in ausstrahlenden und überlagernden Linien ergießen, geradezu mit dem Fahrer und bildet mittels durchbrochener Räume über die stets flüchtige, kreisförmige und nicht ganz abgeschlossene Linie ein dynamisches Konstrukt, das den Bildraum in alle Richtungen erschließt. Während es bei Balla zu einer Verschmelzung von Mensch und Maschine kommt, wird der Mensch bei Fernand Léger selbst zur maschinell anmutenden Konstruktion. Sein Werk Le mécanicien (deutsch: Der Mechaniker, 1920), Titelbild der Ausstellung, zeigt eine menschliche Figur vor einem geometrischen Hintergrund. Stereotypisch Zigarette rauchend und mit einem Anker-Tattoo auf dem Oberarm formiert sich der Mechaniker aus massiven, körperlichen Strukturen, die als einzelne Elemente erfahrbar werden – quasi als Baustein-Set Mensch. Die Art wie Léger die Haut vermalt hat, erinnert an eine glänzende Materialität und gleicht damit mehr einer aus Stahl gefertigten Maschine denn menschlicher Haut. 

Dokumentarisch thematisiert die Ausstellung den Menschen als arbeitendes Wesen innerhalb der Industriellen Revolution. Geradezu programmatisch für das Ruhrgebiet wird man mit Hugo von Werdens Werkfotografien der Firma Krupp konfrontiert. Vervollständigt wird der Rezeptionsraum durch Heinrich Kleys Gemälde Tiegelstahlguß von 1909, welches eine klassische Arbeiterszenerie kennzeichnet, die menschliche Masse innerhalb des technischen Raumes verortet, und dem Menschen nur in seiner funktionsorientierten Position als Arbeitskraft Relevanz zugesteht – wird das einzelne Gesicht doch nur erkennbar, wenn es von dem glühenden Stahl beleuchtet wird. Gespiegelt wird das Gemälde an der gegenüberliegenden Wand von einem Dokumentarfilm aus einem Stahlwerk, in dem Menschen Maschinen bedienen, ihnen zugeteilt sind, immer gleiche Abläufe wiederholen. Sie stellen Waffen für den Krieg her. 

Dass immer gleiche Bewegungsabläufe etwas Mechanisches haben, wird auch in Etienne-Jules Mareys Fotografien (1883) deutlich. Die Chronofotografien (Hochgeschwindigkeitsfotografien) machen jede Bewegung ersichtlich und erlauben somit ein detailliertes Lesen der menschlichen Bewegung. Dieser Vorgang verdeutlicht eine Technik, die dem biologischen Körper immanent ist. 

Kaum humorvoller hätte die Ausstellung die ernsthafte Verherrlichung des technischen Fortschritts bei den Futuristen und das dokumentarische Format innerhalb einer kriegszentrierten Historie kommentieren können als mit dadaistischer Kunst. Dem Futurismus konträr gegenüberstehend bildet die Anti-Kunst der Dadaisten einen Protest gegen den Krieg. Im Nihilismus der Dadaisten werden bisherige Werte hinterfragt, ja gar obsolet. Unsinn ist lustig und so kann man sich bei der Betrachtung des wildgewordenen Spießers Heartfield (1920) von George Grosz und John Heartfield das Lachen kaum verkneifen. Die Puppe – auf den ersten Blick wahllos zusammengeschustert – erscheint wie ein Gebrauchsgegenstand. Ein Bein ist ersetzt durch einen Lampenfuß, die Glühbirne findet sich als Kopfersatz wieder. Führt man diese Assoziationskette weiter, so könnte man meinen, dass der metaphorische Ersatz des Kopfes, und damit nun mal zeitgleich auch des Verstandes, einer Bedienung des An- und Ausschaltens unterliegt. Der metallisch besetzte Brustkorb erlangt vor diesem Hintergrund der Steuerbarkeit des Menschen etwas Bedrohliches. Die Androgynität, erzeugt über das als Geschlechtsteil fungierende und einer Vagina gleichende Gebiss, unterstützt eine Universalität, übertragbar auf die breite Masse Mensch, und rekurriert abermals auf eine verstandslose Steuerung, über einen Antrieb abgekoppelt vom Kopf. Die Betonung bestimmter körperlicher Partien findet bei Magrittes Das Zeitalter der Wunder (1926) eine surrealistische Zuspitzung, wenn er das weibliche Geschlechtsorgan und den Torso im Bereich der Gebärmutter durch eine Zahnradkonstruktion ersetzt und die Frau als Produktionsmaschine markiert. 

Einem weiten Kunstbegriff folgend werden der technische Fortschritt und sein Verhältnis zum Menschen innerhalb des Theaters zu einem eigenen Abschnitt der Ausstellung. Das Theater wird mittels neuer technischer Möglichkeiten wie Film und Spiegelkonstruktionen zu einem virtuellen Raum, in dem über Kulissen und Kostüme Zukunftsvorstellungen an klassische Bühnenstoffe geknüpft werden. Nicht nur neue Techniken finden Verwendung, sondern auch neue Materialien wie beispielsweise Zelluloid, die das technische Zeitalter angemessen repräsentieren sollen. Karl Grills Fotografie Das Triadische Ballett (1926) zeigt eine Tänzerin in einem Moment, den man als Verwandlung wahrnehmen könnte. Umschlossen vom Kostüm der Technik, ergibt sich eine geometrische Konstruktion aus den Kreisen des Kostüms und der Tanzhaltung, die sich in einem Dreieck realisiert. Die Bewegung der Tänzer_innen im Zusammenspiel mit dem Kostüm wird auch für die Entwürfe von Alexandra Exter leitend. Die Menschen scheinen von der Massivität der Kostüme geradezu überlagert mit dem Ergebnis automatisierter Bewegungen.   

Während Mensch und Technik, Mensch und Maschine sich in vielen Exponaten der Ausstellung in hybriden Konstruktionen annähern – ob kritisch oder euphorisch sei mal dahingestellt –, führt Man Ray in seinen Fotogrammen (1931) eindrucksvoll vor Augen, wie sich vertraute Objekte unserer Lebenswelt durch technische Transformation entfremden lassen. Die Aufnahmen, entstanden durch den direkten Kontakt der Objekte mit lichtempfindlichem Fotopapier, entziehen sich einer Kenntlichkeit. Aber genau diese Unvertrautheit ist es, die eine auf Dechiffrierung fußende ästhetische Wahrnehmung ermöglicht. 

Verdeutlichen die Chronofotografien von Marey zu Beginn der Ausstellung eine dem Körper immanente Technik, wird der menschliche Körper historisch später, mit Bezug auf den Staat, seiner Individualität beraubt und innerhalb einer nationalistischen Masse zum Werkzeug propagandistischer Ideen. Fotografien von Alexander Rodtschenko, die Menschen marschierend und paradierend bei Sportveranstaltungen zeigen, überführen Besucher_innen im Zusammenhang mit der Äußerung Stalins „[d]ie Technik entscheidet alles“ in Kontexte einer sich industrialisierenden Sowjetunion. Sich logisch anschließend und damit wenig verwunderlich wird der Nationalstaat auch innerhalb des Dritten Reiches zum Thema der Ausstellung. Dokumentarisch anmutende Propaganda wie der Film Metall des Himmels (1933) von Walter Ruttmann werden von Karikaturen Walter Dexels ergänzt. In der Reduktion auf basale Linien erinnern diese an Computergrafiken und so führt Dexel einem vor Augen, und das ist leider erschreckend, wie sehr sich bestimmte Gesichter – ausgestellt sind Lenin, Mussolini und Hitler – in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt haben. 

Technische Errungenschaften wie das Röntgen und damit der Blick in den Körper übten Faszination auf bekannte Künstler_innen wie Robert Rauschenbach oder auch Maria Lassnig aus. Wenn man vor Rauschenbergs Lithografie Booster (1967) steht, dann wird man unweigerlich mit der Vergänglichkeit des eigenen Lebens konfrontiert, betrachtet man doch lebensgroße Röntgenaufnahmen eines menschlichen Skeletts: Überlagert von einer Astrologiekarte und sportlich agierenden Figuren erzeugt Rauschenberg einen humorvoll bissigen Kommentar zur Memento-Mori-Thematik. Und während Rauschenberg dem/der Betrachter_in eine unglaubliche Fassbarkeit des Inneren eines Menschen vor Augen führt, steht Maria Lassnigs Malerei Röntgenselbst (1987) für eine Körpererfahrung, die in einer Unklarheit verweilt, die unzugänglich oder womöglich nicht klar definiert ist – eine verschwommene Diskrepanz zwischen einem durch Technik immer stärker visualisierbaren Körperbild und einer Körpererfahrung. 

Körpererfahrung ist das Stichwort, das in den feministischen Ausstellungsraum überführt. Besucher_innen werden mit der über Ton- und Fotoaufnahmen zugänglich gemachten Performance Le Baiser de l´artiste (1977) von ORLAN konfrontiert und so kann man sich ihr im wahrsten Sinne des Wortes gegenüberstellen. ORLAN trägt ein Korsett, das den entblößten weiblichen Körper darstellt. Es dient als Sparbüchse für die als Teil der Performance verkauften Zungenküsse. Das Geld sammelt sich im Geschlechtsbereich und so wird die Frau überspitzt in ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung als Sexmaschine demonstriert. Gesellschaftliche Verortungen der Frau in den Haushalt und insbesondere die Küche werden von Helen Chadwick kritisch reflektiert. Ihre Fotografien zeigen Metamorphosen aus Haushaltsgeräten und dem nackten weiblichen Körper. Sie zeigt, wie sich die zugewiesene Rolle in die Physiognomie einschreibt – man könnte meinen, die Frau sei eine Geisel der Geräte.  

Wie weit kann Körpererfahrung gehen und welche Einschreibungen und Auswirkungen haben beispielsweise neue Verhaltensmuster wie Videospielkonsum oder Psychopharmaka? In Codes of Honor (2011) von John Rafmann durchlebt man ein Hyperspace, eine unendliche computergenerierte Welt. Das Videospiel wird zur zweiten Realität, der Videospielavatar zum zweiten Selbst. Gewinnt man hier zunächst den Eindruck einer Expansion menschlicher Existenz, reflektiert man beim Rezipieren der Arbeit aber auch, dass das in einer zweiten Welt leben ebenso bedeutet, in der ersten abwesend zu sein. Sich selber erfahren, Mensch sein, das ist unmittelbar mit Gefühlen verbunden und so postuliert Sidsel Meineche Hansen in Seroquel (2014) den Menschen als Industriekomplex seiner Emotionen. Ein Nervensystem – über den Alterungsprozess auf den Tod zusteuernd – zwischen Prozessen der Selbstzerstörung und Selbstoptimierung. Dabei wird auch die medikamentöse Beeinflussung kognitiver Fähigkeiten, z.B. über Antidepressiva, Thema ihrer Auseinandersetzung. Was bleibt vom eigenen Körper, von der Selbstwahrnehmung, wenn moderne Medikamente die Kontrolle übernommen haben? Bist du dann noch Herr deiner selbst? 

Das video- und fotografische Festhalten unserer Lebenswelt ist uns mittlerweile alltäglich. Ständig fotografieren wir mit unseren Handys und Kameras, produzieren eine unglaubliche Menge an Datenmaterial. Dieses Datenmaterial nutzt Trevor Paglen in Behold these glorious Times! (2017), um den Betrachter_innen vorzuführen, wie künstliche Intelligenzen, Trainingsprogramme für neuronale Netzwerke, unsere Welt sehen. Aus grauen Pixeln formieren sich menschliche Gesichter. Konfrontiert mit mechanischen Gesichtsausdrücken, verschwindet Individualität innerhalb menschlicher Muster gleicher Bewegungen. Paglen verwendet Szenen aus Filmen, spult gleiche Abläufe, Gesten und ähnliche Dinge nacheinander sowie parallel über einen Multiscreen ab und postuliert in der Austauschbarkeit ein kollektives Erleben der Personen, die scheinbar alle alles erleben, die ein menschliches Dasein in stetig gleichen Erfahrungen veranschaulichen – aufgelöst in immer gleiche Pixel. Nicht nur das Bildmaterial basiert auf Erkennungsverfahren künstlicher Intelligenzen, sondern auch der von Holly Herndon komponierte Soundtrack zum Video, dessen Material aus dem Training für Sprach- und Geräuscherkennung stammt. „Deutlich wird aber auch,“ so werden die Besucher_innen informiert, „dass der Mensch durch die digital geprägte Wirklichkeit ein anderer geworden ist. Durch den Computer verändert sich unübersehbar auch sein Selbstbild.“ 

Bei kaum einem anderen Künstler wird dieses veränderte Selbstbild visuell so eindrucksvoll deutlich wie bei Stelarc. Der australische Künstler ist mit einem Video seiner Performance The Third Hand (1980) in der Ausstellung zu sehen. Sein Körper wird zum Bindeglied mit der Technik. Wie eine Prothese fungiert die technische Hand, die durch einen Computer gesteuert wird, so dass Stelarc letztlich die Kontrolle über seinen Körper abgibt – „and the human body will become the landscape of machines.“ (Telematic Tremors, Telematic Pleasures, 197)

Die Arbeiten des Künstlers Tony Oursler rahmen das Ausstellungsende. Das Aufwachsen in einer technisierten Umwelt reflektierend nutzt er Technologie, um daraus Kunst zu machen. Im Videografieren sieht er einen Transformationsprozess der aufgenommenen Dinge, stellt es als einen Akt der Sprachenkonstruktion heraus, wenn beispielsweise long shot oder close up von Rezipient_innen übersetzt werden müssen. Mittels Gesichtserkennungssoftware stellt Oursler hybride Gesichter her, die auch Fragen nach Identität aufwerfen – das Gesicht wird für den Künstler als Ausgangspunkt von Identität und Kommunikation zentral. 

Von Vielfältigkeit und Umfang der Ausstellung überwältigt, bewegt man sich als Betrachter_in am Ende in Gedankenräumen, die das eigene Verhältnis zur Technik reflektieren. Das Ausstellungsende markiert einen Punkt, an dem man feststellt, dass die technisierte Welt weder pure Euphorie noch totale Entfremdung bedeutet, sondern erst in der subjektiven Erfahrung eine Wertigkeit erfährt. Wahrgenommene Positionen zwischen Hoffnung und Angst, einer Technik, die lebensbestimmend, erweiternd, aber auch bedrohlich und befremdlich sein kann; muss man sich vielleicht auch fragen: Bin ich ein montierter Mensch? Und wenn dem so ist, wer ist dann mein/e Monteur_in?  

 

Literatur

Telematic Tremors, Telematic Pleasures: Stelarc’s Internet Performances. Interview with Nicholas Zurbrugg“. In: Stelarc, Carnal Pleasures: Desire, Public Space and Contemporary Art, hg. v. Anna Novakov, Berkeley, 1988, S. 197.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen