Gutgemeinte Utopie und Menschenexperiment

Schonungslose Selbstanalyse und „nervöse Grabearbeit“ in der Familiengeschichte: Über Wencke Mühleisens „Du lebst ja auch für deine Überzeugung“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neun Jahre lang lebte Wencke Mühleisen in einer Kommune, in der es darum ging, die Macht der Eltern und der patriarchalen Gesellschaft zu überwinden. Seit 1976 wohnte die Tochter eines Österreichers und einer Norwegerin auf dem burgenländischen Friedrichshof. Mehrere tausend Menschen wollten sich dort im Lauf der Jahre unter Anleitung des Aktionskünstlers und Charismatikers Otto Muehl, der 1968 durch seine „Uniferkelei“ an der Wiener Hochschule Schlagzeilen gemacht hatte, von den Normen und Zwängen der Gesellschaft befreien, von bürgerlichen Konzepten wie Eigentum, Familie oder Monogamie. Gleich nach ihrer Ankunft erlebte die damals 22-Jährige sogar einen befreienden emotionalen Durchbruch, wie sie schreibt: Schon bei ihrer ersten Sitzung sei plötzlich all ihre Wut auf ihren autoritären Vater hochgekommen. Bis sie in ihrer Vorstellung angefangen habe, seinen Kopf mit einem Vorschlaghammer zu bearbeiten: „Unser Ziel war die Erschaffung eines völlig neuen Menschen, der Grundlage einer neuen Art zu leben. Die Revolution des Selbst.“

Doch ihre eigentliche Auseinandersetzung mit dieser Angstfigur ihrer Kindheit findet erst viele Jahre nach ihrem Ausstieg aus der sektenartigen Kommune statt. Und auch lange nach dem Tod ihres Vaters. Dann nämlich, als sie beim Aufräumen einen vergessenen Brief von ihm wiederfindet. Ihre Schwester hatte damals, Mitte der Achtziger, einen Mann aus Nigeria geheiratet. Nun erwartete der Vater von seiner anderen Tochter, Wencke, Verständnis dafür, dass er als ehemaliger Wehrmachtssoldat und Nationalsozialist den Kontakt zu seinem schwarzen Schwiegersohn verweigerte – schließlich lebe ja auch sie in ihrer Kommune für ihre Überzeugung.

„Ein dünner Schweißfilm legte sich auf die Haut. Wie hatte ich das vergessen können?“, schreibt die heute 66-jährige Norwegerin in ihrem Buch. „Und so lange vergessen? Obwohl ich allein war, fühlte ich, wie Schamröte sich ausbreitete. Mein Vater hatte zweifellos rassistische Einstellungen. Und ich war unbestreitbar seine Tochter. Aber das vielleicht Erschütterndste war die Verknüpfung, die er in dem Brief zwischen uns herstellte: ‚Du und ich‘, schien er zu sagen. ‚Wir beide.‘ Was hatte ich, eine linke Feministin, getan, das ihn, ganz rechts stehend, dazu veranlasste, uns in einem einzigen Satz zu nennen und auf die gleiche Stufe zu stellen?“

Das Wiederlesen dieses Briefes hat Folgen. Die erste ist, dass Wencke Mühleisen endlich wissen will, was genau ihr Vater während der NS-Zeit getan hat. Was hat er gewusst, wieweit war er an den Verbrechen der Nazis mitbeteiligt? Zumindest posthum soll endlich das lebenslange Schweigen in der Familie über diese Zeit gebrochen werden. In Österreich und Slowenien befragt Wencke Mühleisen noch lebende Verwandte der Familie väterlicherseits, sucht in Archiven und im Internet nach Dokumenten. Und besucht am Ende ihrer „nervösen Grabearbeit“, wie sie es nennt, erschüttert das Berliner Holocaust-Denkmal.

Der wiedergefundene Brief löst jedoch auch eine intensive Selbstbefragung aus. Denn erstmals stellt sich Wencke Mühleisen ihrer Zeit in der sogenannten AAO-Kommune, die sich 1991 nach der Inhaftierung ihres Gründers selbst auflöste. Und siehe da: Was auf den ersten Blick denkbar unterschiedlich ist, die Nazis und die fröhlichen, kurzgeschorenen Latzhosenträger vom Friedrichshof, offenbart bei näherem Hinsehen unheimliche Parallelen: Hier wie dort gab es den Glauben an eine Kollektivideologie, gab es die bedingungslose Unterwerfung unter eine Führerpersönlichkeit. Und hier wie dort ermöglichte das Schweigen und Wegsehen der Vielen ideologisch begründete Verbrechen. Im Fall der Kommune war das der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, die von Otto Muehl frühzeitig ins Konzept der freien Sexualität eingeführt werden sollten. Nur zu ihrem Besten, versteht sich.

„Es war verlockend, Muehl die ganze Schuld zuzuschieben“, bekennt Mühleisen. „So verlockend, sich als Opfer gerieren zu können, die eigene Unschuld aufrechtzuerhalten, ein Schaf in der Herde, das im gewieften Netz des Meisters gelandet war. Muehls Schuld als Ausgangspunkt, um das Gewesene zu leugnen. Gar nicht so unähnlich dem Umgang der Deutschen mit der Schuldfrage nach dem Krieg. Als hätte nicht jeder Einzelne etwas mit dem System zu tun gehabt.“

Die ehemalige Performance-Künstlerin hat ein eindrucksvolles, sozusagen doppeltes Erinnerungsbuch vorgelegt. Schon das fortwährende Hin und Her zwischen Familienrecherche und schonungsloser Selbstanalyse löst einen starken Erzählsog aus. Hinzu kommt Wencke Mühleisens bilderreiche Sprache, ihr genauer Blick für sinnliche Details und die Reaktionen des Körpers auf intensive Erfahrungen. Allerdings bieten die Rückblicke auf ihre „grenzüberschreitenden Jahre“ als Kommunardin am Ende doch die interessantere Lektüre. Denn sie sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie rasch gutgemeinte Utopien in der Realität in ihr Gegenteil umschlagen können. Neue, rundum befreite Menschen wollten sie werden, die Anhänger des Aktionskünstlers Otto Muehl. Stattdessen, muss sich Wencke Mühleisen eingestehen, wurden sie freiwillig Teilnehmer an einem Menschenexperiment – und schließlich zu blinden Gefolgsleuten und Komplizen eines Kinderschänders.

Titelbild

Wencke Mühleisen: Du lebst ja auch für deine Überzeugung. Mein Vater, Otto Muehl und die Verwandtschaft extremer Ideologien.
Aus dem Norwegischen von Sylvia Kall und Ina Kronenberger.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020.
288 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059856

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