Lesen als Akt und Pakt

Peter-André Alt lädt zur (Wieder-)Begegnung mit Weltliteratur ein und ergründet erste Sätze berühmter Texte

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was der Berliner Literaturwissenschaftler Peter-André Alt einleitend für seinen Gegenstand feststellt, dass „ein erster Satz das lockende Angebot [formuliert], den Pakt mit dem Buch zu schließen“, gilt auch für sein eigenes Werk. Der erste Satz von Alts Überlegungen zur strukturellen Funktion und Bedeutung, zu epochalen Voraussetzungen und intertextuellen Bezügen erster Sätze berühmter Texte lautet daher auch folgerichtig. „Am Beginn jeder Erzählung steht ein Verführungsversuch.“ In fünfzehn Kapiteln, die sich mit unterschiedlichen systematisierenden Fragestellungen Erzählungen und Romanen aus mehr als 2000 Jahren Literaturgeschichte zuwenden, untersucht Alt insgesamt 249 Erzählanfänge auf knapp 240 Seiten. Es ist bei diesem Verhältnis von besprochenen Texten und dem dafür zur Verfügung stehenden Platz von vornherein klar, dass die einzelnen Werke oft nur mit wenigen Sätzen erörtert werden können. Gleichwohl unternimmt Alt den Versuch, auch in wenigen, knappen Konturen immer auch einen Ausblick auf das gesamte Buch zu geben.

Um dem Anspruch und der Motivation von Alt gerecht zu werden, muss betont werden, dass der Verfasser dezidiert einen „Essay“ schreiben wollte und eben keine in die Tiefe gehende systematische Arbeit. Anders als beim Thema ‚letzte Sätze‘ der Weltliteratur (oder auch letzte Sätze von Dichtern) sind nach Alts Dafürhalten die ersten Sätze von Texten in der Literarturwissenschaft bislang nicht hinreichend untersucht worden. Auch das vorliegende Buch ist weniger eine systematische Analyse von Erzählanfängen sondern vielmehr als eine Anregung zum Lesen und Nachdenken, zum Weiterforschen und Fragestellen zu verstehen.

Aus dieser Grundkonzeption ließe sich leicht Kritik an den ausgewählten Texten oder vorgenommenen Gruppierungen, mithin auch an Generalisierungen üben, die doch auch manchmal eher in die Irre als vom ersten Satz aus in das Zentrum des Textes führen. Jeder wird auch ein Werk vermissen, das doch unbedingt hätte aufgenommen werden müssen – warum zum Beispiel kommen die großen antiken Dichter vor, nicht aber der berühmteste aller Erzählanfänge, der Beginn der Bibel, deren erster Satz ja sogar das Wort „Anfang“ enthält. Auch die dargebotene große Zahl von Texten ist sowohl Vorteil als auch Nachteil: Einerseits bekommt man Lust, wieder mal Homer, Vergil, John Milton, Daniel Defoe und Hans Jakob Christoffel Grimmelshausen oder endlich einmal Friedrich Gerstäckers Abenteuerroman Die Flusspiraten des Mississippi (1848), Christoph Martin Wielands Agathon (1766) und Johann Karl Wezels Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne (1776) zu lesen. Andererseits hinterlässt die Fülle von 249 Textanfängen aber gleichzeitig nach der Lektüre eine Art Leere, da meist nur wenige analytische Sätze auf die in den Mittelpunkt gestellten ersten Sätze folgen können. Doch wäre eine solche Kritik schon deshalb ungerechtfertigt, weil man bei allen berechtigten Einwänden dieses Buch gerne liest. Denn es führt genau das vor, was es auch zum Thema hat und was Alt in Bezug auf erste Sätze und Lesen insgesamt feststellt: Lesen ist eine produktive und keine einseitige Tätigkeit, Lesen ist nicht nur Bildung, sondern auch Unterhaltung und – vor allem – ein „Geflecht“ aus Leseerinnerungen, literarischem (Vor-)Wissen, Gegenwarts- und Vergangenheitserkundung.

Zusammengehalten werden die Einzelüberlegungen von Kapiteln geordnet nach dominierenden Problemhorizonten und Perspektiven wie etwa Stimmung, Spannung, Raum- und Ortstrukturen oder Erzählverfahren im Sinne von personen- und erzählerabhängigen Verfahren. Trotz der wirklich anregenden und beeindruckenden Breite dieses Essays muss ein auf den ersten Blick einleuchtender, einer weiteren Prüfung aber nicht standhaltender Befund zumindest relativiert werden: Die Überlegung, dass Romananfänge schon (fast) alles über den Text verraten würden und dass „der erste Satz der wichtigste des ganzen literarischen Textes“ sei, ist für diese Untersuchung zwar ein guter Aufhänger. Doch widerspricht das gleichzeitig der ja explizit formulierten Einladung, sich wieder oder neu auf Texte einzulassen, insofern, als man – sollte das Diktum richtig sein – den Text gar nicht mehr zu lesen bräuchte. Zudem trägt eine solche Feststellung auch nicht dem hier (zurecht) ausgeklammerten Problem der Überlieferungs-, Entstehungs- und Überarbeitungsgeschichte von Texten Rechnung. Der erste Satz eines Werkes muss schließlich nicht immer der erste Satz gewesen sein.

Titelbild

Peter-André Alt: ‚Jemand musste Josef K. verleumdet haben …‘. Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
262 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783406750045

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