Russland, was wird sein?

Band 1 der „Tagebücher“ von Michail Prischwin bietet eine sorgfältige Auswahl seiner Notizen aus den Jahren der Revolution und des Bürgerkriegs

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Revolutionäre Umstürze bringen es mit sich, dass man zwar relativ bald begreift, was vom Althergebrachten und Vertrauten unter den neuen Verhältnissen nicht mehr gilt. Wie sich aber die Zukunft dann tatsächlich ausgestalten wird, bleibt den Menschen vorerst verborgen, die in solcher Zeit leben. So war es auch mit der Russischen Revolution: Aus heutiger Warte überblicken wir recht gut all das, was in den Jahren und Jahrzehnten nach dem großen Umbruch noch folgen sollte.

Als Michail Prischwin (1873–1954) seine Tagebuchaufzeichnungen verfasste, befand sich der Schriftsteller selbst mitten im Geschehen. Und genau aus dieser Perspektive, diesem unmittelbaren Wahrnehmen und Aufschreiben, ziehen seine Notate ihre Stärke. „Die Vergangenheit ist wie eine große Sumpfniederung, und ich suche unter Mühen eine Erhebung, von der aus ich mich nach mir und allem umsehen könnte“, schreibt er kurz nach der Februarrevolution von 1917. Diese Grundkonstellation – der registrierende, reflektierende Mensch mitten im Sturm der Geschichte – wird seine Aufzeichnungen bis ins kleinste Detail prägen. Prischwin ist ein Seismograph, der die gewaltigen Erschütterungen jener Jahre fortlaufend aufnimmt. Zugleich bildet er die Suchbewegungen in dieser unsicheren Zeit ab: diejenigen seines Landes, seines Volks – und nicht zuletzt seine eigenen.

Michail Prischwins Tagebücher umfassen im russischen Original 18 Bände und 12.000 Seiten. Die Übersetzerin Eveline Passet und der Guggolz Verlag haben sich vorgenommen, daraus eine vierbändige Auswahl auf Deutsch vorzulegen. Der erste Band, der die Jahre 1917 bis 1920 abdeckt, ist nun erschienen. Über die Kriterien einer solchen Auswahl wird man immer diskutieren können. Doch Eveline Passet legt in einem auch sonst sehr informativen Nachwort transparent und nachvollziehbar dar, von welchen Prinzipien und Überlegungen sie sich hat leiten lassen. Da der erste Band insgesamt etwa ein Drittel von dem aufnimmt, was der Autor in den erwähnten Jahren geschrieben hat, darf er mit Fug und Recht als repräsentativ gelten.

Prischwin hat übrigens in zahlreiche Hefte geschrieben, die er wohlweislich versteckt hielt. Auf eine Veröffentlichung in nächster Zukunft durfte er nicht hoffen. Seine Aufzeichnungen sind gerade deshalb direkt, authentisch und aussagekräftig. Sie bilden auch ab, wie sich die Haltung des Autors zu den epochalen Umwälzungen langsam veränderte: Sah er in den neuen politischen und sozialen Gegebenheiten zunächst durchaus Potential für ein besseres Russland – er spricht von einer „Terra nova“ –, so weichen die anfänglichen Hoffnungen später zunehmend Enttäuschung und Resignation.

Tagebüchern ist es eigen, dass sie eine Fülle von Themen, Stoffen und Figuren zusammenbringen. Da Michail Prischwin zudem in einer ereignisreichen Zeit schreibt, mäandrieren seine Aufzeichnungen ganz besonders: Sie streben mal vorwärts, dann wieder schlängeln sie sich durch. Sie vollziehen abrupte Wenden oder schlagen Umwege ein. Und bisweilen kehren sie noch einmal an frühere Stellen zurück. Prischwin hält sich in diesen Jahren manchmal in den Städten auf, dann wieder auf seinem Landgut bei Jelez. Es bilden sich auf diese Weise durchaus inhaltliche Schwerpunkte heraus: Zunächst sind dies das undurchschaubare Chaos und die maßlose Gewalt der revolutionären Ereignisse und des nachfolgenden Bürgerkriegs, die allgemeinen Zerfallserscheinungen. Dabei registriert Prischwin immer wieder die geradezu überwältigende Rolle des Zufalls in all dem und, damit verbunden, die stete Notwendigkeit, aus dem Moment heraus Entscheidungen treffen zu müssen – für sich und sein engstes Umfeld. Es geht hier um sehr Alltägliches wie Geldnöte, Nahrungsbeschaffung, das schiere Überleben. Selbst an sein Testament denkt er.

Vor allem reflektiert Prischwin aber über die großen politischen und gesellschaftlichen Fragen, die sich nun stellen: Welche Kräfte werden die Überhand gewinnen? Was für eine Rolle wird das Individuum in der Masse künftig noch spielen können? Wie steht es um die Agrarfrage, die Bodenreform? Wie soll der Staat künftig ausgestaltet sein? Kann eine Bildungsoffensive zu einem besseren Russland führen? Gerade bei letzterem hegt Prischwin, der zeitweise als Bibliothekar tätig ist, zunächst große Hoffnungen. Und wiederholt kommt er auf die überragende Bedeutung von Kultur und Religion zu sprechen oder sinniert hellsichtig über die Geschichte:

Einst rettete Russland Europa, indem es den Angriff Asiens auf sich nahm (Timur Lenk usw.), jetzt rettet es Europa, indem es den Angriff durch dessen Sozialismus auf sich nimmt, ein fürchterlicher Angriff! Der tatarische traf den Körper, der jetzige trifft unmittelbar die Seele, die Intelligenzija, die wie die alten Gladiatoren den wilden Tieren zur Zerfleischung zugeführt worden ist. (Eintrag vom 7. März 1920)

Prischwins Aufzeichnungen haben einen interessanten Nebeneffekt: Darin finden sich nämlich auch ein paar autobiografische Tatsachen geschildert, die teilweise ein neues Licht auf seinen ganz eigenwilligen Roman Der irdische Kelch werfen. Es stellt sich heraus, dass manche im Roman geschilderte Begebenheit auf reale Geschehnisse zurückgeht – so bizarr sie zunächst auch anmuten mag.

Michail Prischwins Tagebücher charakterisiert ein Nebeneinander von Gewöhnlichem und Bedeutendem. Vor seinem Tod ist es dem Autor es nicht mehr gelungen, die Aufzeichnungen noch einmal zu redigieren. Sie weisen daher bisweilen Skizzencharakter und insgesamt eine große stilistische Bandbreite auf. Doch schadet dies dem ganzen Vorhaben keineswegs: Die Notate sind gerade deswegen ein unverfälschtes Zeugnis jener Zeit, in der sie verfasst wurden.

Für ein auf vier Bände angelegtes Editionsprojekt braucht es Mut und Durchhaltevermögen. Eveline Passet hat Bravouröses geleistet. Nicht nur hat sie aus der riesigen Fülle von Material eine überzeugende Auswahl getroffen und diese in ein hervorragendes Deutsch übersetzt. Sie hat darüber hinaus aus zahlreichen Quellen einen ausführlichen und immer wieder erhellenden Kommentar generiert. Auf die Fortsetzung darf man sich freuen!

Titelbild

Michail Prischwin: Tagebücher – дневники. Band I, 1917 bis 1920.
Mit einem Essay von Michail Schischkin.
Aus dem Russischen, herausgegeben und kommentiert von Eveline Passet.
Guggolz Verlag, Berlin 2019.
457 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783945370230

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