Gehen als Metapher

Mit Erling Kagge zu Fuß bis an die Enden der Welt

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Erst lernten wir gehen, dann lernten wir, wie man ein Feuer macht und Speisen zubereitet, dann kam die Sprache.“ Dies ist die Reihenfolge, in der wir die Welt eroberten, nachdem wir nun einmal in sie gekommen waren. Die Sprache steht am Ende, am Anfang aber war das Gehen. Von unserem ersten Schritt bis zu unserem letzten gehen wir gemeinhin so, wie wir eben auf unsere individuelle Weise gehen. Unser Gang verändert sich im Allgemeinen nicht. Er drückt überdies unsere geistige Haltung zum Leben aus. Lebensabschnitte, die mit starken Emotionen einhergehen, spiegeln sich in der Gangart wider. Ein Mensch in großer Trauer wird womöglich etwas gebückt laufen; jemand der glücklich ist, wird hingegen aufrecht und leichtfüßig seinen Weg nehmen. Wissenschaftliche Experimente belegen selbst in der Tierwelt ein verändertes Gangmuster bei Krankheit oder Hunger.

Wir kommen in die Welt und entdecken ihren Raum maßgeblich, indem wir das Laufen erlernen. Es gibt uns eine unvergleichliche Freiheit, uns fort- und weg- und hinzubewegen. Wohl jeder hat schon einmal das Vergnügen beobachtet, das Kinder dabei haben, über offene Flächen oder freie Plätze zu laufen. Es geht ein unbeschreiblicher Kitzel, ein Lustgefühl damit einher zu rennen, wohin man will. „Zu gehen ist ein Freiraum.“ Es ist ein Raum, den ich mir frei gestalten kann. Ich bestimme darüber, wie ich gehe. Langsam, schnell, mit Pausen oder ohne? Ich bestimme darüber, wohin ich gehe. Von A nach B auf gerader Strecke oder lieber auf Umwegen und querfeldein? Ich bestimme auch darüber, mit wem ich gehe. Lieber alleine oder mit einem Freund?

Erling Kagge ist seine Wege auf all diese Arten schon einmal gegangen. Im buchstäblichen Sinne und auch im metaphorischen. Sein Buch ist reich an Beobachtungen, die leise und sensibel daherkommen und in die Tiefe weisen. So beobachtet er, wie die Beine seiner Großmutter irgendwann das Gehen versagen und wie seine Tochter zur selben Zeit das Stehen und Laufen entdeckt. Leben ist Gehen und Gehen ist Leben. Hierin liegt Kagges geistige Heimat und von hier aus startet er seine Abenteuer.

Philosophisch-paradoxe Betrachtungen, denen man in diesem Buch begegnet, strahlen eine Wahrhaftigkeit aus, die nur aus der Tiefe eigener Erfahrung stammen kann: „Wenn ich mich unnötig beeile, kommt selten etwas Sinnvolles dabei heraus.“ In der Eile verliert sich die Konzentration, der Abstand zu allen Dingen wird größer. Eine Erkenntnis, die womöglich im Gehen mit einem angemessenen Schritttempo hätte gewonnen werden können, verliert sich zwischen Schnelligkeit und Funktionalität. Der Raum zwischen zwei Punkten, der ohne das Gehen verdichtet wird, verliert sein Vermögen, transformatorisch wirken zu können. Das, was wir gemeinhin als Ankommen bezeichnen, uns also nach einer gewissen (Geh-)Zeit der Regeneration vom Alten, von dem wir uns wegbewegt haben, zu lösen, um frei und offen für die neue Situation zu sein, geht verloren.

Im aufmerksamen Durchschreiten des Raumes hingegen wird Gehen mit jedem Schritt zur Freundschaftsbekundung von Fuß und Erde. Man geht in seinem eigenen Tempo und eher langsam. „Mit all den Dingen um sich herum vertraut zu werden, braucht Zeit. Als würde man eine Freundschaft aufbauen.“ Und das tut Kagge. In der Langsamkeit des Seins knüpft er Freundschaften mit Bergen und Wäldern, mit Flüssen und Seen, mit Städten und Einöden. Uns lässt er dabei an Gedanken und Eindrücken, die er entlang seines Fußweges sammelt, teilhaben. Schritt für Schritt betreibt er die Vermessung der Welt und bereichert sie mit seiner Sichtweise.

Das Buch ist gespickt mit literarischen und philosophischen Zitaten. Zugleich besticht es mit vielen eigenen Einsichten. Ein Satz wie: „Ich spüre, dass ich das Zentrum meines eigenen Lebens bin“, tarnt sich als eine schlichte Bemerkung für etwas sehr Wesentliches. Im Gehen verschwindet derjenige, der geht. Es bleibt nur gehen. Ganz gleich, wo oder wohin Kagge gegangen ist, alle Wege führten unweigerlich an den einen Ort – in das innere Zentrum des Seins, in „eine innere Stille“: „Die Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, oder die Sorgen, die ich körperlich spüre, verändern und klären sich beim Gehen.“ Alles kommt in Fluss. So wie wir uns auf den Füßen durch die Welt bewegen und in Gang kommen, uns wirklich mit Hingabe darauf einlassen, verblassen die Alltagssorgen. Das Gehirn schaltet in einen anderen Modus. Die Konzentration liegt nicht länger auf den intellektuellen Gedanken. Assoziatives Denken wird vordergründig.

Neben dem Raum der Stille betritt der Wandernde auch den Raum der Gegenwart. „Vergangenheit und Zukunft spielen kaum eine Rolle, solange man einen Fuß vor den anderen setzt.“ Gehen ist an die Dimension des Hier und Jetzt gebunden. Nirgendwo sonst kann es sich ereignen. Der veränderte Modus, in den unsere Konzentration und Wahrnehmung während des Gehens gerät, versetzt uns in Präsenz und verhindert, zu stark in Gedanken an Vergangenes oder Zukünftiges abzudriften. „Wenn du gehst, geht es immer darum, Ruhe zu finden, die Probleme zu Hause zu lassen, zu einem Teil der Umgebung zu werden und zufrieden zu sein, einen Schritt vor den anderen zu setzen.“ In kleinen Augenblicken absoluter Präsenz kann das Zeitgefühl gar verschwinden. Augenblick und Ewigkeit verschmelzen untrennbar oder werden als „gleichzeitig erlebt“.

„Gehe ich schnell, spüre ich, wie ich zu einigen Gefühlen Abstand gewinne, verlangsame ich mein Tempo, kehren sie zurück.“ Solch aufmerksame Beobachtungen sind ein Schatz für alle Geh-Forscher. Wem ist dies jemals bei seinen alltäglichen Fußgängen aufgefallen? Einmal mehr wird deutlich, wie wir eingeladen sind, uns wirklich einzulassen auf das, was während dem Gehen passiert. In der Umgebung, die wir durchwandern und in uns selbst.

Immer wieder hält Kagge dazu an, sich Zeit zu nehmen. Zum Sprechen, zum Stillsein und Nachdenken, zum Gehen. Es ist nicht die verknappte Zeit, die uns unserem Ziel tatsächlich näher bringt, auch wenn es oberflächlich betrachtet so aussehen mag. Vielmehr verhilft uns unsere Bewusstheit während wir uns auf das Ziel zubewegen zu einem wirklichen Ankommen am Zielort. Mit je mehr Hingabe man sich auf diesen Prozess einlässt, desto lohnenswerter wird der Ort, den man erreicht. Sei es ein Aussichtspunkt, den man sich mit Muskelkraft und Beinarbeit erobern musste, oder die Überwindung eines geistigen Berges. Dabei wird nicht immer alles glatt verlaufen. Im Gegenteil. Kagge rät, sich nicht davon aufhalten zu lassen: „Wer nur bei schönem Wetter vor die Tür geht und in der Wohnung sitzt, wenn es stürmt, regnet oder schneit, verpasst die Hälfte. Vielleicht das Beste.“ Denn: „Das Bedürfnis nach Komfort führt nicht nur dazu, dass wir unangenehmen Erlebnissen aus dem Weg gehen, sondern auch, dass wir viele schöne Erlebnisse verpassen.“

Kagge schildert, wie Gedanken an das Ziel durch 40 Tage Fußmarsch im Eis ihn mürrisch werden lassen. Zu sehr hakt sich in seinem Kopf der Gedanke an das Ziel fest. Jeder kennt das. Die Fixierung auf ein bestimmtes Ergebnis macht unfrei und die Reise dorthin ungenießbar. Es dauert einen ganzen Tag bis Kagge loslassen kann und wieder Freude dabei spürt, seinen Traum zu leben und allein durch die Antarktis zu wandern. Das macht den Abenteurer menschlich. Und zeigt einen gewissen Wagemut, der sich nicht nur auf Weltliches bezieht. Für die Überwindung innerer und äußerer Herausforderungen, denen man unweigerlich begegnet, braucht es Mut zu solcher Wahrhaftigkeit. Präsenz und Wahrhaftigkeit werden gemeinhin zu Erfolgsschlüsseln auf weiten und bisweilen extremen Wanderungen.

An Kagges Seite sind wir ein Stück wissender geworden. Ahnen ein wenig mehr, dass wir innere Erkenntnis gewinnen, indem wir gehen und reflektieren. „Gehen“ ist zur Metapher geworden. Für das Leben und für unsere persönliche Entwicklung. Unsere Sprache zeigt es, Kagge zeigt es. Wenn wir davon sprechen, dass wir etwas „durchgegangen“ sind, finden wir Raum und Zeit inkludiert. Das gilt in gleichem Maße für die daraus folgende Erfahrung oder für das daraus resultierende Wissen. Wenn wir einen Fuß vor den anderen setzen, geschieht dasselbe nur ohne Worte:

Mit der Zeit wird der Körper eins mit dem Gras, dem Heidekraut, den Bäumen und der Luft. Hat ein Vogel sich einen Flügel verletzt oder ein Tier Hunger, spüre ich ein wenig von den Schmerzen. Dann habe ich das Gefühl, Teil von etwas unendlich Umfassenderem zu sein, dann bin ich nicht mehr nur ein Arbeitnehmer, Steuerzahler und Familienmensch, der seinen Alltag bewältigt. Ich habe nicht den Wunsch, das alltägliche Leben aufzugeben, aber ein Bedürfnis, Teil des Umfassenderen zu sein.

Man könnte sagen, auch wir sind gemeinsam etwas „durchgegangen“. Kagge hat uns dazu angeleitet. Und so steht denn das „Gehen“ am Ende als Metapher für alle Dinge, die uns lebendig halten. So wie wahre Freundschaft, nicht nur zu Menschen, Zeit haben ohne auf die Uhr zu schauen, Familie und Kinder, Liebe und jedes Abenteuer, das es vor der Haustür zu entdecken gibt. Man muss sich dem Gehen hingeben wie man sich dem Leben hingeben muss, will man den Mut haben, es wahrhaftig zu kosten. So wie jede Wanderung anders ist, mal freudig, mal schmerzhaft, mal entspannt, mal anstrengend, so spricht auch jeder Tag eine andere Sprache. Man muss sich immer wieder neu darauf einlassen.

Viele Literaten und Philosophen, Kagges geistige Freunde, kamen zu Wort. Man erkennt, dass der Autor Literatur und Philosophie genauso grenzenlos durchschritten hat wie sein Fuß die Enden dieser Welt ereilte. Im Gepäck dabei: Muße, Passion, Reflexion und reichlich Sehnsucht und Entdeckergeist. Sich dabei klug an passenden Zitaten entlang hangelnd wie an einem Seil, dass den Bergsteiger sichert. Wenn wir seiner „Anleitung“ nur ein wenig darin folgen, werden uns womöglich ähnliche wertvolle Einsichten wie diese beschert: „Stück für Stück verstand ich, dass die Welt nicht so ist, wie sie aussieht; die Welt ist, wie du bist.“

Titelbild

Erling Kagge: Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg.
Insel Verlag, Berlin 2018.
158 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783458177685

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