Das lesende Chamäleon

Der Journalist John O’Connell liefert mit „Bowies Bücher“ vielseitige Einblicke in die Gedankenwelt des Ausnahmekünstlers David Bowie

Von Steffen KrautzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Krautzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Londoner Victoria & Albert Museum organisierte 2013 unter dem Titel David Bowie Is eine spektakuläre Ausstellung über einen der berühmtesten und einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts. Nicht nur Kostüme, Filme, Dokumente oder Kunstwerke waren Teil der Inszenierung, auch Bücher aus Bowies Privatbibliothek erlaubten ungewohnte Einblicke. 2019 wurde die Schau unter dem gleichen Titel als aufwendige App veröffentlicht. Noch während die Ausstellung fünf Jahre lang in elf weiteren Metropolen der Welt Millionen Fans begeisterte, verbreitete das Museum eine unkommentierte und unsortierte Liste mit 100 Buchtiteln, die für David Bowie die wichtigsten und prägendsten waren. Der Londoner Journalist John O’Connell machte im letzten Jahr daraus ein lesenswertes Sachbuch, welches nun in der deutschen Übersetzung von Tino Hanekamp als Taschenbuch bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist.

Auch vier Jahre nach seinem Tod hat David Bowie nichts von seiner Faszination verloren; seine Songs und Konzerte werden wiederveröffentlicht und millionenfach gestreamt, Podcaster besprechen seine Alben, der Umfang der Sekundärliteratur wächst stetig. Jüngstes Beispiel einer andauernden Inspiration für andere Künstler ist die Comic-Biographie Bowie. Sternenstaub, Strahlenkanonen und Tagträume von Mike Allred und Steve Horton. Dass nun aber nicht nur das abwechslungsreiche Bowie-Œuvre selbst, die vielen ikonisch gewordenen Stile von Ziggy Stardust bis zum Thin White Duke, sondern auch seine Lektüren in den Fokus rücken, ist ein Verdienst dieser gehaltvollen kommentierten Bücherliste. Ohne die unterhaltsamen, immer wieder mit Anekdoten gespickten Erläuterungen des Autors blieben nämlich viele der 100 Werke rätselhaft. Zwar kann auch O’Connell des öfteren nur vermuten, warum es welche Publikation auf Bowies Liste schaffte, doch auch das ist sehr aufschlussreich.

Der einleitende Essay startet mit einer Anekdote aus den 1970er-Jahren: David Bowie reiste damals stets mit einer mobilen Kofferbibliothek und zog sich, zum Beispiel in den Drehpausen der Aufnahmen von Der Mann, der vom Himmel fiel, zur Lektüre in seinen Wohnwagen zurück. Dass Bowie viel las, war schon früh bekannt. Er verfasste selbst Rezensionen und bezog sich in Interviews oder Songs offen oder verdeckt auf Texte anderer Autor*innen. Die 100 zwischen zwei und fünf Seiten langen Einträge zu den einzelnen Werken der Liste nehmen Bezug auf Bowies eigene Äußerungen, ziehen inhaltliche Verbindungen zu Leben und Werk. Besonders schön ist O’Connels Idee, hinter jedem Text einen konkreten Bowie-Song und einen weiteren Buchtitel zu nennen. In der deutschen Ausgabe folgt noch ein Hinweis auf eine jeweilige Übersetzung. Dabei fällt schnell auf, welche der 100 Werke bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Ein allgemeines Register sucht man vergeblich, sodass einige häufiger erwähnte Buch- und Songtitel oder Personen nicht so schnell wiedergefunden werden können. In den Texten selbst wird mit Hilfe von Klammern auf die Seitenzahlen anderer Einträge verwiesen, doch leider fehlen diese Verweise manchmal. Auf Fußnoten oder Literaturangaben im Text wurde verzichtet; im Anhang gibt es ein vierseitiges Literaturverzeichnis. Dass es sich hier nicht um wissenschaftliche Fachliteratur handelt, zeigen auch die witzigen Illustrationen von Luis Paadín: Ein kleiner, allein durch Frisur und Outfit erkennbarer David Bowie macht mal Musik, tanzt, liest Bücher oder hört Schallplatten.

Als erstes Buch steht Anthony Burgess’ Romanklassiker Clockwork Orange (1962) auf der Liste, als letztes Lawrence Weschlers Mr. Wilsons Wunderkammer (1995), ein Sachbuch über ein skurriles Museum in Kalifornien. Der älteste Text stammt von Homer (Ilias, 8. Jh. v. Chr.) und der jüngste vom amerikanischen Dichter Frank O’Hara (Selected Poems, 2009). Wären die Autorennamen alphabetisch sortiert, stünde ein historischer Roman von Peter Ackroyd über London im 18. Jahrhundert (Der Fall des Baumeisters, 1985) ganz vorn und Howard Zinn mit seinem Geschichtsbuch-Klassiker (Eine Geschichte des amerikanischen Volkes, 1980) ganz hinten.

Schon anhand dieser Titel wird deutlich, wie heterogen die 100 Werke sind. Dennoch lassen sich einige Schwerpunkte erkennen: Nur die Briten Anthony Burgess und George Orwell sind jeweils mit zwei Büchern vertreten. Zehn der 100 aufgeführten Texte stammen von Autorinnen, darunter ist ein Roman der ostdeutschen Schriftstellerin Christa Wolf (Nachdenken über Christa T., 1968). Die größte Gruppe bilden etwa 40 im 20. Jahrhundert entstandene Romane, darunter Klassiker wie Der Fremde von Albert Camus, Der große Gatsby von F. Scott Fitzgerald, Kaltblütig von Truman Capote, Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin oder Traumpfade von Bruce Chatwin. Doch die Liste hat es in sich, liefert Kanon und Anti-Kanon zugleich. Denn während vermeintliche Kultbücher oder Must-reads wie von Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse oder J.D. Salinger fehlen, offenbart sie jede Menge ungewöhnliche und zu entdeckende Publikationen, darunter auch Comics, Lyrikbände und Sachbücher zu Geschichte, Politik, Philosophie, Musik und Kunst.

Eine solche Entdeckung ist für deutschsprachige Leser der erstmals 1946 veröffentlichte Roman Die Straße der Amerikanerin Ann Petry. Darin wird die Geschichte einer jungen Schwarzen Frau erzählt, die mit Rassismus und Frauenfeindlichkeit zu kämpfen hat. In der englischsprachigen Welt ist das Buch ein Bestseller, eine deutsche Neuübersetzung erschien erst Anfang des Jahres im Verlag Nagel & Kimche. Ein anderes ungewöhnliches Werk auf der Liste ist Jewgenia Ginsburgs, auf deutsch derzeit nur antiquarisch erhältlicher Lebensbericht Marschroute eines Lebens (1967). Die Journalistin und Geschichtsprofessorin berichtet darin von ihrer achtzehnjährigen Gefangenschaft und Verbannung in der Sowjetunion unter Stalin.

Jeder weitere Titel der 100 Bücher ist ein kleiner Mosaikstein, der Bowies Gedankenwelt einen neuen Aspekt hinzufügt. O’Connell verknüpft die Bücher immer wieder mit biografischen Fakten aus Bowies Leben, zum Beispiel schreibt er über Vater und Bruder, zitiert aus Interviews und natürlich den Songs. Das ist einerseits sehr abwechslungsreich, andererseits bekommt man auf wenig Raum hin und wieder so viele Namen und Querverweise geliefert, dass einem der Kopf schwirrt. Eine komplette, klassische und chronologische Biografie ersetzt das Buch dabei nicht, soll es auch nicht. Es bleiben gezwungenermaßen Lücken, die sich zum Beispiel mit der umfangreichen Biografie von Dylan Jones (2018) aber leicht schließen lassen.

Besonders spannend wird es, wenn die vorgestellten Texte in direkter Verbindung zu Bowies eigenen Werken und deren Entstehungsprozessen stehen. Das gilt für die musikjournalistischen und musikhistorischen Bücher der Liste, aber auch für die kunsthistorischen Beiträge. Sein Grundlagenwissen im Bereich Kunst holte sich Bowie aus Hall’s Dictionary of Subjects and Symbols in Art (1974). Für Bühnenshows, Musikvideos und Album-Artworks ließ er sich von Werken der bildenden Kunst inspirieren. Ein berühmtes Beispiel, über das auch Tobias Rüther in seinem Buch Helden. David Bowie in Berlin (2008) schreibt: Das Cover der in Berlin aufgenommenen Platte Heroes spielt auf ein Gemälde des expressionistischen Künstlers Erich Heckel an, das Bowie im Berliner Brücke-Museum gesehen hatte. Mit Hilfe von Bowies Büchern kommt man nun weiteren realen (und fiktiven) Künstlern wie Francis Bacon, Tadanori Yokoo, David Bomberg oder Nat Tate und deren Bedeutung für Bowie auf die Spur. Da er selbst malte und auch moderne und zeitgenössische Kunst sammelte, wäre ein Buch oder eine Ausstellung mit Bowies Bildern ebenfalls sehr erhellend.

Die Bücherliste des Ausnahmekünstlers David Bowie ist so etwas wie sein Vermächtnis. Sie liefert jede Menge Stoff aus den unterschiedlichsten Themengebieten, mit dem alte und neue Fans seinem Werk weitere Deutungen hinzufügen können. Die 100 Kurzessays von John O’Connell machen Lust auf eine Beschäftigung mit Bowie und gleichzeitig Lust aufs Lesen.

Titelbild

John O'Connell: Bowies Bücher. Literatur, die sein Leben veränderte.
Aus dem Englischen von Tino Hanekamp.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
400 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783462053524

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