Sinnlichkeit und Vernunft

Frank D. Wagner legt einen Großessay zu „Goethe und Hegel“ vor

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im September 1827 unternimmt der inzwischen international renommierte Berliner Philosophie-Professor Georg Wilhelm Friedrich Hegel eine Paris-Reise. Allein. Deshalb informiert er auch pflichtgemäß in ausführlichen Briefen seine daheimgebliebene Gattin von dieser Reise. Über Kassel, Trier und Luxemburg führt ihn seine gewiss als Bildungsreise zu bezeichnende Fahrt schließlich nach Paris, wo er – in „dieser Hauptstadt der zivilisierten Welt“ – das übliche Programm abspult: Besuche historischer Orte und Plätze, von Ausstellungen und Museen, einige Zusammenkünfte mit französischen Intellektuellen und diverse Theateraufführungen. Nichts Besonderes eben. So stellt er erstaunt fest: „Gehe ich durch die Straßen, sehen die Menschen gerade aus wie in Berlin, alles ebenso gekleidet, ungefähr solche Gesichter, derselbe Anblick, aber in einer volkreichen Masse.“ So naht die Rückreise, auf der er der Einladung des Geheimen Rats und Dichterfürsten Goethe Folge leistet und einen dreitägigen Abstecher nach Weimar macht.

Aus Weimar berichtet er am 17. Oktober seiner Frau, dass er im Hause Goethe „aufs Freundlichste und Herzlichste“ empfangen worden sei, wiewohl der Abend an der Seite des ebenfalls  anwesenden schwerhörigen Großherzogs ihm einige Anstrengungen verursacht habe: „[I]ch mußte ein paar Stunden auf meinem Sofa genagelt aushalten.“ Auch am darauffolgenden Tag ist Hegel wieder bei Goethe eingeladen: „Um 2 Uhr zum Mittagessen zu Goethe“, wo der Philosoph auf Goethes Anfragen „von den politischen und literarischen Ansichten und Interessen in Frankreich viel erzählen“ musste. Fasst Hegel diesen Besuch zusammen, seien sie „als alte treue Freunde“ „kordat zusammen“ gewesen, „und nicht um des Rühmens und der Ehre willen.“ Also der übliche Anstandsbesuch, höfliche Gesten und freundlich-selbstverständliche Bemerkungen – jedenfalls nichts von dem, was Goethe seinerseits anlässlich dieses Besuchs seinem Mitarbeiter Eckermann gegenüber anvertraut und was dann, mindestens im Blick auf die Goethe-Philologie, als Gespräch über die Dialektik in die (Wirkungs-)Geschichte eingegangen ist. Das konversationsmäßig Geäußerte scheint für den Philosophen im Unterschied zu Goethe, der sich darüber klarzuwerden verspricht, keine weitere Bedeutung zu haben.

Doch nun mit Hegel und zugleich gegen ihn: Das Wesen wäre nicht, wenn es nicht schiene und erschiene, wenn es nicht für eines wäre. Was für Hegel das Beiläufige gewesen ist, das geradezu Banale und Selbstverständliche – so selbstverständlich wie die lakonische Bemerkung in der späten Enzyklopädie (1830): „[D]ie Natur des Denkens selbst (ist) die Dialektik“ (§11) –, eben das ist für Goethe der problematische Punkt, über den er sich im Gespräch mit dem Philosophen gern verständigen möchte. Der Künstler und Sinnenmensch, der sich stets anschaulich auszudrücken weiß, trifft auf den Verstandes- und Vernunftmenschen, dem es um das Vermögen der Begriffe geht. Während der eine davon spricht, dass einem beim Philosophieren am besten Hören und Sehen vergehen solle, plädiert der andere dafür, in der Anschauung zu leben. Oder anders ausdrückt: Anschauliche Intuition begegnet räsonierendem Intellekt, die Natur dem Geist.

Eckermann stellt das Gespräch vom 18. Oktober 1827 so dar, dass man sich nach einer ausführlichen Erörterung der Philosophie Hamanns auf das „Wesen der Dialektik“ konzentrierte, wobei Hegel dafür hielt, darunter nichts anderes zu verstehen als den „geregelten, methodisch herausgebildeten Widerspruchsgeist, der jedem Menschen inwohnt [sic], und welche Gabe sich groß erweiset in Unterscheidung des Wahren vom Falschen.“ Auf den skeptischen Einwand Goethes, dass damit auch dem Missbrauch – das Falsche für wahr, das Wahre für falsch zu erklären – Tür und Tor offen stünde, antwortete Hegel lapidar, dass dies wohl geschehen könne, freilich „nur von Leuten, die geistig krank sind.“ Woraufhin Goethe ganz kordial, wie Hegel im Brief schrieb, „das Studium der Natur“ empfahl, um „eine solche Krankheit“ erst gar „nicht aufkommen“ zu lassen. Um zu schließen: „Auch bin ich gewiss, dass mancher dialektisch Kranke im Studium der Natur eine wohltätige Heilung finden könnte.“ Kordialität hin und her, ein lapsus linguae ist es wohl nicht, wenn Goethe ausdrücklich dem Kranken das Attribut „dialektisch“ zuspricht, was offenkundig aber „im besten Gespräch und in der heitersten Unterhaltung“, wie Eckermann schreibt, untergegangen ist. Man glaubt, einen ironischen Unterton bei Goethe zu vernehmen – mithin etwas, zu dem Hegel seit jeher ein gespanntes  Verhältnis hatte. Ironie konnte er, durchmustert man seine Werke, allenfalls bei Sokrates akzeptieren, wohingegen er mit voller argumentativer Breitseite gegen den zeitgenössisch-romantischen Begriff der Schlegel-Tieck-Übersetzung (Selbstsetzung und Selbstvernichtung) wetterte – nicht ohne dabei gelegentlich selbst moderat ironische Töne anzuschlagen.

Was mag nun aber Goethe unter einem „dialektisch Kranken“ verstanden haben? Und wie mag dies nun wiederum von Hegel aufgefasst worden sein? Naheliegend wäre es, wenn Hegel es unter seinem Verständnis des gesunden Menschenverstandes subsumiert hätte. Denn eben vor diesem habe man sich in Acht zu nehmen. Nein, dem gesunden Menschenverstand, jenem vielbeschworenen ‚common sense‘, mag er auch nachgerade zuweilen als spontan materialistisch geerdet und geadelt worden sein, gilt Hegels ganze Verachtung, denn der gesunde Menschenverstand verbleibt an der Oberfläche der Dinge und auf dem Feld der puren Sichtbarkeit. Theodor W. Adorno ist in seinen „Minima Moralia“ in einer Reflexion (Nr. 45) auf  eben das Gespräch zwischen Goethe und Hegel zu sprechen gekommen und hat in Hegels „hintersinniger Formulierung“ vom „geregelten, methodisch ausgebildeten Widerspruchsgeist“ bei jedem Menschen gerade „die Denunziation des common sense“ erkannt, „zu dessen innerster Bestimmung es gemacht wird, gerade nicht vom common sense sich leiten zu lassen, sondern diesem zu widersprechen.“ Gewiss zu Recht, auch wenn Adorno dabei nicht zuletzt aufs eigene methodische Verfahren seiner „Negativen Dialektik“ abhebt. „Den gesunden Widerspruchsgeist“, so Adorno weiter, „hat Hegel mit der Dickköpfigkeit des Bauern hervorgehoben, der jahrhundertelang lernte, Jagd und Zins der mächtigen Feudalherren zu überstehen.“ Und mit einem Tigersprung dann ins Große und Grundsätzliche:

Das Anliegen der Dialektik ist es, den gesunden Ansichten, die spätere Gewalthaber von der Unabänderlichkeit des Weltlaufs hegen, ein Schnippchen zu schlagen und in ihren ‚proportions‘ das treue und reduzierte Spiegelbild der unmäßig vergrößerten Mißverhältnisse zu entziffern. Die dialektische Vernunft ist gegen die herrschende die Unvernunft: erst indem sie jene überführt und aufhebt, wird sie selber vernünftig.

Hegel reist zurück nach Berlin, vermutlich ebenso im Glauben, den Dichterfürsten über seinen Dialektik-Begriff aufgeklärt zu haben, wie umgekehrt Goethe dadurch in seiner Sicht bestärkt worden ist, dass es der Philosophie – schon gar einer dialektischen – überhaupt nicht bedürfe. Insofern beglaubigt Goethe schließlich in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit (Zweiter Teil, 6. Buch) nur, was er bereits über seine frühe Frankfurter und Leipziger Studienzeit angemerkt hat. Gegenüber seinem Privaterzieher, der ihn „mit den philosophischen Geheimnissen“ vertraut machen möchte, hält er dafür, dass „eine abgesonderte Philosophie […] nicht nötig [sei], indem sie schon in der Religion und Poesie vollkommen enthalten sei.“ Statt das umständliche Vermögen der Begriffe einzuüben, zieht es ihn in die Wälder und in die Natur, dorthin, wo – Achtung! – „mehr oder weniger alle Menschen“ in eine erhabene „Stimmung der Seele“ versetzt werden. Freilich sind die „kurzen Augenblicke solcher Genüsse“ eben nur momenthaft und flüchtig und lassen sich nicht bannen – jedenfalls nicht im Alltag, bestenfalls, zum Ende der biographischen Entwicklung Goethes selbst, in der Kunst: „[G]anz umsonst versuchte ich, wenn ich heraus an die Welt trat, in der lichten und mageren Umgebung ein solches Gefühl bei mir wieder zu erregen: ja, kaum die Erinnerung davon vermochte ich zu erhalten.“

Ein weiterer Gedankenaustausch zwischen Hegel und Goethe hat nicht mehr stattgefunden. Goethe hat Hegel aus seinem Blickfeld verloren, während beim späten Hegel, etwa in der erwähnten Enzyklopädie, Goethe noch mehrfach (meist im Blick auf die geschätzte Farbenlehre) zitiert wird. Eine späte Vermittlung dieser „grundverschiedenen Auffassungen“ (Rüdiger Bubner) findet sich wiederum in Adornos postum veröffentlichter Äshetischen Theorie, die genau jenes ‚hölzerne Eisen‘ (so würde sich der gesunde Menschenverstand ausdrücken), die dialektische Vermittlung von Kunst und Philosophie, anpackt: Denn, so der Grundimpuls von Adornos Überlegungen, Kunst bedürfe schon deshalb der Philosophie, weil nur sie in der Lage dazu sei, die Anschauung beredt zu machen – also die Kunst über sich selbst und für uns allererst aufzuklären. „Jedes Kunstwerk bedarf, um ganz erfahren werden zu können, des Gedankens und damit der Philosophie, die nichts anderes ist als der Gedanke, der sich nicht abbremsen läßt.“ (Im Grunde genommen – doch das wäre Thema eines anderen Essays – stellt sich Adorno damit in die Tradition des linken Hegelianismus, der von Marx/Engels bis zu Georg Lukács, Ernst Bloch und Walter Benjamin reicht und in Gestalt einer (materialistisch unterfütterten) Sozialgeschichte der Kunst und Literatur die ältere Geschichtsphilosophie substituiert hat und immer noch weiterwirkt).

In diesem Umfeld ist die Monographie von Frank D. Wagner, einem Autor, der insbesondere mit Monographien über Hegel und Brecht bekannt geworden ist, angesiedelt. Eigentlich als Großessay anzusprechen, mäandert Wagners Buch um die Begegnung zwischen Goethe und Hegel, die in immer neuen Anläufen grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, Anschauung und dem Vermögen der Begriffe aufwirft. Dabei verzichtet Wagner – und das ist seinem Essay hoch anzurechnen – größtenteils auf die (nahezu uferlose) Philologie zum Thema, um dennoch Kernüberlegungen, die in der weiteren Geschichte gewirkt haben, weiterzudenken. Ob man dann allerdings noch, wie Wagners sechster und letzter Teil zu demonstrieren versucht, die aktuellsten Debatten um Überwachungsphänomene und die Problematik der Digitalisierung (wozu Wagner vermutlich durch seine Lektüre von Yuval Noah Hararis Bestseller Homo Deus [dt. 2017] verleitet worden ist) mit integrieren muss, sei dahingestellt. Es ändert freilich am glänzenden Eindruck, den die Lektüre dieses Großessays hinterlässt, nur wenig.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Kein Bild

Frank D. Wagner: Goethe und Hegel. Wesen der Dialektik – Grenzen des Digitalen.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
434 Seiten, 44 EUR.
ISBN-13: 9783826069772

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch