Metropolis trifft auf Utopolis

Hans Freys Sachbuch „Aufbruch in den Abgrund“ widmet sich der deutschen Science Fiction von 1918 bis 1945

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass von Männern erdachte Utopien für Frauen Dystopien sein können, ist seit 1984 bekannt, dem Jahr, in dem die feministische Literaturwissenschaftlerin Elaine Hoffman Baruch ihren Aufsatz Women in Men’s Utopias veröffentlichte. Doch auch in anderer Hinsicht können die Utopien der einen die Dystopien anderer sein. So sind faschistische Utopien etwa für alle DemokratInnen die fürchterlichsten Dystopien. Umgekehrt wiederum können faschistische Dystopien geradezu utopische Züge für sie annehmen.

In seinem Sachbuch Aufbruch in den Abgrund zeigt Hans Frey letzteres am Beispiel von Hans Heycks 1929 erschienenem Roman Deutschland ohne Deutsche, in dem die rechtsextreme Urbevölkerung aus einem multikulturell gewordenen Deutschland in ein nördliches Exil flüchtet. Was Heyck als schreckliche Dystopie meinte, sei „für jeden Menschen, der seine Sinne halbwegs beisammen hat, eine wunderbare Utopie“, konstatiert Frey.

Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte beleuchtet sein Buch die expliziten oder impliziten politischen Botschaften zahlreicher Werke der deutschsprachigen Science-Fiction-Literatur vom Beginn der Weimarer Republik 1918 an bis zum Ende der Nazidiktatur 1945. Entgegen Freys eigener Einschätzung steht also nicht die „literarisch-ästhetische[.] Bedeutung“ der einschlägigen Werke „im Mittelpunkt“ seines Buches, sondern deren politisch-ideologischer Gehalt. Damit schießt es nicht nur zeitlich an seinen Vorgängerband Fortschritt und Fiasko an, der den Zeitraum vom Vormärz bis zum Ende des Ersten Weltkriegs abdeckt.

Frey hat das Buch sinnvollerweise in zwei Hauptteile gegliedert, dessen erster die SF zur Zeit der Weimarer Republik behandelt, während sich der zweite derjenigen unter der Naziherrschaft widmet. Was die beleuchteten Werke selbst betrifft, so unterscheidet der Autor insbesondere innerhalb des ersten Teils zwischen SF, „die explizit politisch sein will, und der Unterhaltungs-SF“. Die „Wasserscheide“ zwischen beiden sei „klar[.]“: „[P]olitisch gemeinte SF wird letztlich aus ideologischen Gründen geschrieben“, während Unterhaltungs-SF „das kurzweilige Lesevergnügen in den Vordergrund stellt“.

Als Maßstab der Unterscheidung dient Frey nach eigener Aussage „immer die Absicht des Verfassers“. Denn diese „legt fest, was der Text will und soll“. Die Absicht, mit der ein Text verfasst worden ist, lässt sich allerdings nur schwer fassen oder gar nachweisen. Tatsächlich zieht Frey denn auch nicht oder kaum Selbstaussagen der SchriftstellerInnen oder andere Dokumente heran, um deren Absichten zu belegen, sondern konzentriert sich auf die Inhalte der literarischen Werke.

Bei der Auswahl der Ausgaben der Quellentexte erweist er sich allerdings nicht immer als sonderlich penibel. So zieht er nicht etwa die Originalhefte der in den 1930er Jahren erschienenen Sun Koh-Reihe heran, sondern die 1981 publizierten Neuausgaben, obwohl er weiß, dass es sich um eine „neu bearbeitete Version“ handelt, in der die ursprünglichen Texte „gekürzt, ‚geglättet’ und dem bundesrepublikanischen Geschmack angepasst“ sowie „[a]llzu inkriminierende Stellen […] gestrichen oder entschärft“ wurden. Da er keine „filigrane Textanalyse“ vorlegen wolle, sei sein Griff zu den Neuausgaben „legitim“, rechtfertigt Frey seine Wahl.

Im Abschnitt zur Weimarer SF fächert er die „beiden Pole“ politische und Unterhaltungs-SF entlang ihrer „Themenstellung und Motivstruktur“ in „Subgenres und Untergruppen“ auf. Erstere in „[d]emokratisch-republikanische“, „kommunistische“ sowie „reaktionäre und faschistische“, die Unterhaltungs-SF etwa in „Atlantropa“-Romane, „Janusutopien“ und „Weltraum-SF“. Auf die SF unter der Nazidiktatur lässt sich die Unterscheidung zwischen politischer und Unterhaltungs-SF Frey zufolge allerdings nicht anwenden, da es unter der Herrschaft der Nazis „keine Meinungsfreiheit“ gab. Eben darum fällt der ihr gewidmete Abschnitt ungleich kürzer aus. Auch stand SF-Literatur bei den Nazis nicht hoch im Kurs, so dass unter ihrer Herrschaft wesentlich weniger einschlägige Werke erschienen als zuvor.

Den beiden Hauptteilen hat Frey einen „Prolog“, einen „geschichtlichen Überblick“ sowie einen Abschnitt über die „SF-Faschismusdebatte“ in den 1970er Jahren vorgeschaltet. In Letzterem nimmt er vorweg, was er im Laufe seiner weiteren Darlegungen ein ums andere Mal zeigt, dass nämlich der insbesondere von Manfred Nagl 1972 erhobene Vorwurf, Science Fiction stehe ihrem Wesen nach faschistischen Ideologien nahe, nicht haltbar ist.

Zuvor aber stellt Frey zwei „symbolhaft-symptomatische“ Romane der politischen SF einander gegenüber: Die 1930 erschienene Auftragsarbeit Utopolis des marxistischen Autors Werner Illing und Thea von Harbous bekannteres Buch Metropolis.

Zwar betont Frey, „dass Autoren, die sich reaktionärer Versatzstücke bedienen“, „nicht in einen Topf mit ausgewiesenen Faschisten […] geworfen werden dürfen“. Doch rückt er selbst Harbous Werk allzu leichtfertig in die Nähe faschistischer SF, in dem er dem Buch „eine wohl unbewusste Abbildung der widersprüchlichen NS-Ideologie“ bescheinigt. Zudem „zementiert“ die „Botschaft“ des Buches ihm zufolge „die kapitalistisch-faschistischen Herrschaftsverhältnisse“. Sie laute, „jeder“ habe „seine Rolle im System willig zu akzeptieren. Das zu gewährleisten ist wiederum Aufgabe der selbstverständlich diktatorischen Führung.“ Die Propaganda einer diktatorischen Führung wird sich anhand des Romans wohl schwer belegen lassen. Jedenfalls versucht Frey es gar nicht erst.

Auch sonst wird er dem zweifellos konservativen, wenn nicht gar reaktionären Werk in mancher Hinsicht wenig gerecht. Harbous dystopischer Roman „huldigt“ keineswegs der Technologie. Vielmehr wird sie als höchst gefährlich dargestellt. So entindividualisiert, knechtet und tötet der hochentwickelte Maschinen-Moloch der Fabrik die arbeitenden Massen. Die Erfindung eines frühen mad scientist wiederum schafft einen Androiden von weiblicher Gestalt, der ebenfalls Tod und Verderben über die Menschen zu bringen droht. Am Ende wird der dystopisch ausfabulierte Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit klassenversöhnlerisch aufgelöst, indem symbolisch das Herz zwischen Hirn und Hand vermittelt.

Gilt Frey Harbous Roman als „inhumaner Albtraum“, so interpretiert er Illings literarisch etwas aufgepeppte Agitprop-Schrift allzu überschwänglich als „ein ebenso kurzweiliges wie bedeutendes Werk, das beeindruckt und zu Recht die Zeiten überdauert hat“. Illigs „humaner Traum“ sei die „liebevolle Ausmalung“ eines „marxistischen Arbeiterstaates“ und enthalte eine „demokratisch[e]“ Botschaft. Wie sich beides vereinbaren lässt, erläutert er nicht. Auch versäumt er zu erwähnen, dass die letzten in einer Art Ghetto lebenden KapitalistInnen des Romans laut „Staatsgesetz“ schwergewichtige „Orden und Medaillen“ tragen müssen, unter deren Gewicht sie „schwitzen“ und „saure Minen [zeigen]“.

Wird der kommunistische SF-Agitprop zur Zeit der Weimarer Republik auf gut zehn Seiten abgehandelt, gewährt Frey der „reaktionäre[n] und faschistische[n] SF“ mit 50 Seiten weit mehr Raum. Nicht etwa, weil sie besser gewesen wäre. Denn das war sie wahrhaftig nicht. Literarisch nicht und inhaltlich schon gar nicht. Der Grund für den größeren Umfang ist ein anderer. Sie war weit zahlreicher und sie bot „diverse[.] Varianten“, die von „Erzkonservativismus, reaktionärem Modernismus, chauvinistischem Denken“ und „völkisch-faschistischen Vorstellungen“ bis zu „nationalbolschewistische[n] SF-Romane[n]“ und „klerikal faschistische[n] Luftschlösser[n]“ reichten. Alles in allem ein „NS-Sud als rechtsextremistischer Gemischtwarenladen“, wie Frey in einem missglückten Bild, von der Sache her aber sicher nicht falsch schreibt.

Doch nicht alle der von Frey behandelten faschistoiden bis offen nationalsozialistischen Werke sind der SF, ja nicht einmal der Literatur zuzurechnen. Manches „Geschreibsel“, räumt er selbst ein, hat „mit SF nichts zu tun“. Frey stellt es trotzdem vor, „weil sich diese Gespinste in einer apokryphen Weise an die utopische Methode anlehnen“. So etwa die „radikalste Version einer utopischen Restauration des katholischen Kaisertums“ in Franz Spiragos 1920 erschienenem Buch mit dem leicht barock anmutenden Titel Der kommende Monarch und die unter ihm bevorstehende Friedenszeit nach den Weissagungen hervorragender katholischer Seher und Seherinnen, das sein Autor unter dem sprechenden Pseudonym Alfons Konzionator veröffentlichte.

Auch der „Esoterik-Schinken“ Die apokalyptische Weltrevolution (1920) ist alles andere als SF, dafür aber von „einer nicht mehr zu überbietenden Abwegigkeit“. Selbst Joseph Goebbels’ Roman Michael. Ein deutsches Schicksal (1928) gönnt Frey einige Zeilen. Auch er hat nichts mit SF zu tun, sondern ist „ein dystopisch konnotiertes Stimmungsbild eines NS-Gläubigen“. Es hätte nicht geschadet, hätte Frey auf die Aufnahme solcher Werke verzichtet. Die originäre faschistische SF ist schon unerträglich genug.

Insgesamt stellt Frey zahlreiche unbekannte AutorInnen und ihre heute längst vergessenen Werke vor. Hinzu treten einige noch immer einem größeren Publikum geläufige Namen, wie etwa Johannes R. Bechers. 1926 erschien ein SF-Roman aus seiner Feder mit dem „absonderlichen Titel“ (CHCI=CH) 3AS (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg. Mit letzterem ist natürlich der „Klassenkrieg des Proletariats“ gemeint. Selbstverständlich fehlen auch weder Franz Werfels Stern der Ungeborenen (postum 1946 veröffentlicht) noch Alfred Döblins Berge Meere und Giganten (1924), dem Frey ein Komma in den Titel schmuggelt. Zweifellos handelt es sich bei beiden Werken um Science Fiction. Doch ist nicht immer so eindeutig, ob die von Frey vorgestellten Werken bekannter Autoren wirklich dem Genre zuzurechnen sind. Fraglich ist es etwa bei Gerhard Hauptmanns antifeministischer Robinsonade Die Insel der großen Mutter oder das Wunder der Îles des Dames (1924), die bei Frey einen „faden Beigeschmack“ hinterlässt, da sie „latent frauenfeindlich“ sei.

Auch Thomas Manns Doktor Faustus (1947) habe „SF-Inhalte adaptiert[.]“ und Hermann Hesses Das Glasperlenspiel (1943) „einen klaren SF-Bezug“. Sogar Franz Kafka hat nach Frey „atmosphärisch äußerst dichte SF-Dystopien“ verfasst. Etwa Die Verwandlung (1916), deren „SF-Relevanz auf der Hand“ liege, oder In der Strafkolonie (1919), eine Erzählung, die „Social Science Fiction par excellence“ sei. Der Prozeß (1925) wiederum handele in einer „Cyber-Welt“ die „schrecklicher noch“ sei, als die von William Gibson erdachte. Was Kafkas Schriften aber überhaupt als SF qualifizieren, erläutert Frey nicht.

Mag also das eine oder andere Werk manches namhaften Mainstream-Literaten nicht ganz zu Recht Eingang in Freys Buch gefunden haben, so lässt er einige Autorinnen vermissen, die tatsächlich SF schrieben. Denn trotz der „[ü]berwältigende[n] männliche Dominanz“ gab es mehr als nur Harbou, deren beide SF-Romane von Frey etwas näher beleuchtet werden, „die bemerkenswerte Annie Harrar“, deren Roman Die Feuerseelen (1923) Frey aus gutem Grund als „eine[n] der besseren SF-Romane der Zeit“ lobt, und die unter dem Pseudonym Junior Caelestes schreibende Elisabeth Pfau, die mitsamt ihrem Roman Die Raketenreise nach dem Mond (1928) gerade einmal beiläufig erwähnt wird.

Warum Frey noch auf die Heft-Roman-Autorinnen Lisa Barthek-Winkler und Elisabeth von Aspen verweist, erhellt sich nicht. Denn wie er selbst konstatiert, schrieben sie keine SF, sondern Western und Krimis. Ebenso wenig handelt es sich bei dem „utopisch angehauchte[n]“ Büchlein Margart Hunkels Von deutscher Gottesmutterschaft um SF. Vielmehr bietet es ein Sammelsurium von ziemlich unerträglichen Essays und Gedichten national-religiösen Inhalts voller Mutterschaftsidealisierung. Drei Autorinnen, deren SF aus der Frühzeit der Weimarer Republik mal origineller, mal ebenso miserabel war wie die mancher ihrer Kollegen, kommen bei Frey hingegen nicht vor: Helene Burmaz (Der Mann im Gummianzug und Die Marsbewohner, beide 1919), Marga Passon (Der Rote Stern. Ein Weltuntergangs-Roman, 1921) und die Österreicherin Therese Rie alias L. Andro (Das entschwundene Ich, 1924).

Insbesondere die teils außergewöhnlichen Werke von Burmaz hätten die Aufnahme in Freys Buch verdient, pflegen ihre MarsianerInnen doch eine Art der Fortpflanzung, die mit dem menschlichen Paarungsverhalten nicht das Geringste gemein hat. Auch erscheint der „Fluganzug“ in Joseph Delmonts Der Ritt auf dem Funken (1928) vor dem Hintergrund des von Burmaz fast ein Dezennium zuvor erdachten „gasgefüllten Gummianzug“, der mit seinem „rotierende[n] Flügelpaar“ ebenfalls flugfähig ist, weniger originell als von Frey dargestellt, mag sich Delmonts Roman auch dadurch auszeichnen, dass er eine „Heldin“ zu bieten hat.

Obwohl der Autor den einen oder anderen prominenten Autor zu viel in sein Buch aufgenommen hat und die eine oder andere Autorin zu wenig, sollte der Band doch in den Bücherschränken aller SF-Fans seinen Platz finden. Denn es lässt sich so manche Entdeckung darin machen wie etwa Karl Ettlingers „belletristische[.] SF-Perle“ Der erschossene Storch (1931), deren Autor sich offenbar von Philipp Mainländers Philosophie der Erlösung inspirieren ließ. Aus dem gleichen Grund sollte er in keiner germanistischen Bibliothek fehlen, mag er literaturwissenschaftlichen Kriterien auch kaum genügen.

Titelbild

Hans Frey: Aufbruch in den Abgrund. Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur.
Memoranda Verlag, Berlin 2020.
523 Seiten , 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783948616021

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