Pausenlos anbrandende Wörterwogen

Ronald M. Schernikau, vor 60 Jahren in Magdeburg geboren, war der letzte deutsche Kommunist

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was für ein Bild: Während sich […] Tausende Ostdeutsche in den Westen aufmachen, läuft der junge Dichter als Einziger in die entgegengesetzte Richtung, schlaksig, fragil und von einer Schönheit, als hätte ihn sich Thomas Mann in einer schwachen Stunde ausgedacht.“ Matthias Frings, Ronald M. Schernikaus Biograph, hat sein Bild eines „Weltenwechsels“ bewusst mit einer Thomas-Mann-Reminiszenz ausklingen lassen. Denn der junge Schriftsteller, der sich im Herbst 1989 von der DDR einbürgern ließ, als deren letzte Stunde bereits geschlagen hatte, war homosexuell und hatte in seinem Debüt, der Kleinstadtnovelle (1980 bei Rotbuch erschienen), sein Coming out als Erzähler und Kommunist. Geboren am 11. Juli 1960 in Magdeburg, war er als Sechsjähriger mit seiner Mutter Ellen in einem Diplomatenwagen in den Westen geschmuggelt worden. Dort, in Westdeutschland, war er freilich nie so richtig heimisch geworden: Er wollte zurück. Auch für seine aufblühende Autorschaft erhoffte er sich in der DDR größere Chancen, denn in der DDR würden die „besseren Bücher“ geschrieben: „Und natürlich“, so der Umkehrschluss, „wenn man in der DDR lebt, schreibt man die besseren Bücher.“

An den Erfolg der Kleinstadtnovelle hatte Schernikau im Westen nicht anknüpfen können. Für seine Folgemanuskripte erntete er lauter Absagen – und schrieb für die Schublade. 1985 stellte er den Antrag auf Einbürgerung in die DDR und bewarb sich für ein Studium am Johannes R. Becher-Institut in Leipzig, einer Kaderschmiede für angehende Schriftsteller. Der ungewöhnliche Schritt gelang:

Sieg auf ganzer Linie! […] Endlich wird er am richtigen Platz sein. Das Literaturinstitut besitzt einen hervorragenden Ruf. Adolf Endler hat hier studiert und Ralph Giordano, Sarah und Rainer Kirsch, Erich Loest, Fred Wander. Schernikau wird lernen und schreiben, schreiben und lernen. Als Krönung winkt ein Universitätsdiplom! Er ist aufgeregt und hoffnungsfroh. Er ist ein glücklicher Kommunist. Nun kann nichts mehr schiefgehen, denkt er.

Von den Kommilitonen argwöhnisch beäugt (ist dieser seltsame Westimport womöglich ein Stasi-Spitzel?), stürzte er sich in das grau-bunte Curriculum aus Politischer Ökonomie, Sowjetliteratur, DDR-Geschichte und Ästhetik, das in Leipzig zum Pflichtprogramm jedes Literaturstudenten gehörte. Er integrierte sich, mit einem üppigen Stipendium ausgestattet, so gut es ging und entwickelte neue Schreibideen: „Einen ‚Kundschafterroman‘ hatte er sich vorgenommen. Der Mann aus dem Osten mit der Westerfahrung, der nun wieder in den Osten schaut.“

Freilich, auch in der DDR erfuhren seine Manuskripte die Ablehnung der Lektorate. Man war interessiert an seiner Weltsicht, man musste aber auch vorsichtig sein: Abgesehen von der mangelnden Durcharbeitung seiner Manuskripte, machte gerade die Nähe „zwischen den beiden Deutschland“ die Sache so schwierig. Der Berg des Unveröffentlichten wuchs, bis sich ausgerechnet im Westen eine neue Chance auftat: Die Tage in L., seine Leipzig-Erfahrung als ‚Verständigungstext‘ über die beiden deutschen Staaten, sollte im Hamburger Konkret Literatur Verlag erscheinen. Allerdings geriet die Veröffentlichung mitten in den Sog der Wendezeit hinein und wirkte auf so manchen Leser völlig weltfremd. Klaus Laabs, Übersetzer von Rang und Aktivist der DDR-Schwulenbewegung, urteilte im Herbst 1989: „Vom jahrelangen Brodeln, das mit den revolutionären Massendemonstrationen der vergangenen Tage überkochte und den erstickenden Trauerflor über dieser Stadt und diesem Land endlich zerriss, davon hat Schernikau nicht mal ein Glucksen mitgekriegt?“

Wie viele politische Aktivisten war „Ost-West-Ronald“ blind für Realitäten, die seine Weltsicht trüben mochten: „ich trage lenin am revers, und vermutlich halten mich 49 prozent der leute in leipzig für verrückt.“ Was ihn ebenfalls ausbremste und was er aus seiner Wirklichkeit zu verbannen suchte, war seine AIDS-Erkrankung. Der Schriftsteller Matthias Frings hat davon in seiner Doppelbiographie erzählt – davon, wie diese „schreckliche Epidemie“ erst Hysterie und dann Verdrängung zeitigte und schließlich „den sachlicheren Umgang mit ihren Konsequenzen“ erzwang. Auch Schernikau sah sich gezwungen, 31-jährig die letzten Dinge zu regeln. Vor allem: Was sollte mit seinem literarischen Vermächtnis geschehen, mit den zahllosen Manuskripten, deren Veröffentlichung sich nicht mehr selbst realisieren ließ? Darunter ein Romanprojekt namens „legende“?

Vielleicht fühlt sich der Leser, der diesen schwarzen Buchblock von tausend Seiten in der Hand wiegt, ein wenig an Rainald Goetz erinnert – an Abfall für alle (1999) beispielsweise, vor allem aber an den Festung (1993) genannten Werkkomplex aus Zeitmitschriften in Gedichtform, Theaterstücken und Prosatexten. Und wie Goetz soll der Frühvollendete „immer ein kleines Notizbüchlein parat“ gehalten haben, um die pausenlos anbrandenden Wörterwogen des Alltags festzuhalten. Der Nachlass im Archiv der Berliner Akademie der Künste legt beredt Zeugnis ab von dieser Arbeitsweise und der Sammelwut des Schriftstellers. Goetz und Schernikau waren sich in den frühen achtziger Jahren als Stipendiaten des Literarischen Colloquiums Berlin begegnet, hatten aber keinen Draht zueinander gefunden. Schernikaus literarische Bezugsgrößen waren andere, darunter Gisela Elsner, Peter Hacks und Elfriede Jelinek. Für Erika Runge, die eine bedeutende Vertreterin der Dokumentarliteratur gewesen war (Reise nach Rostock, DDR, 1971), bevor sie dem Genre öffentlich adé gesagt hatte, fand in Schernikau einen begeisterten Apologeten. Während sie weiter Interviews führte, plante er zusammen mit ihr einen Gesprächsband über „alte Kommunisten“.

Schernikau entstammte diesem Gauche-milieu, wo man zwischen Faschismus und Nationalsozialismus nicht unterschied, wo man mit Baader und Meinhof sympathisierte, den Liberalismus ablehnte und gelegentlich auch nackte Gewalt aus dem Schwarzen Block befürwortete. Ihr Attentat auf Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder begründete die RAF wie folgt: „Der Schriftsteller R. Schernikau drückt die Einsamkeit und Leere des Lebens von Millionen Menschen in den reichen kapitalistischen Ländern treffend aus: ‚Ich weiß nicht, was Verelendung sonst sein soll. Eine Maus in einem Rad, die läuft und hat Jeans an und Kopfhörer.‘ Wer sich den kapitalistischen Werten unterordnet, muß ein Leben in Vereinzelung akzeptieren.“ (Erklärung vom 4. April 1991) Was immer deutsche Terroristen taten, wenn sie sich unter dem Radar der Öffentlichkeit versteckten – eines weiß man gewiss: sie lasen Schernikau. Einige von ihnen hatten sich – ironischerweise – in der DDR dem Fahndungsdruck der bundesdeutschen Behörden entzogen. Illusionen machten sie sich, im Unterschied zu Schernikau, nicht: „Die langen Minuten oder auch Stunden an den Übergängen waren die beste antikommunistische Propaganda. Hausgemacht und selbstverschuldet. Wenn die DDR sich als das bessere Deutschland sah – gerecht, demokratisch, antifaschistisch – warum leistete sie sich dann diese katastrophale Selbstdarstellung? Als würde man am Himmelstor einen grauen alten Drachen postieren.“

Diese Einschätzung verdankt sich der bemerkenswerten Darstellung von Matthias Frings (Jahrgang 1953), der 2009 Schernikaus Biographie in Gestalt einer Autobiographie vorlegte. Aus dem „Vorteil, dem Protagonisten nahe gewesen zu sein“, und dem Bemühen, „der Wahrheit am nächsten zu kommen“, entwickelte Frings die lebendige Darstellungsform der Doppelbiographie als Zeitgemälde, das schließlich auf Schernikaus Vermächtnis zulief, das monolithische Nachlasswerk Legende: „Legende […] ist ein buchstäblich einmaliges Buch, es hat nie ein solches gegeben, und es wird nie wieder eines geben. Nur er [Schernikau] besitzt den Größenwahn, die Exzentrik und die komische Phantasie, bis in die kleinsten Verästelungen hinein Weltsicht und politische Praxis der beiden Systeme Kapitalismus und Kommunismus gültig fassen zu wollen.“

Frings’ vozügliche Faktenlage wird durch Legende selbst noch unterfüttert: Man gewinnt den Eindruck, das Buch sei ein dicht am eigenen Erleben verfasstes Mixtum compositum, das durch die Person des Verfassers quasi zusammengehalten werde. Die Bausteine dieser Brikolage, deren Absätze und Sätze teilweise nummeriert sind (ähnlich wie in der Bibel), wirken roh und unbehandelt. Die Sprache schöpft aus dem Jargon, dem Milieu, dem Alltag, der Konserve. Sie ist bewusst kunstlos, prosaisch, hässlich. Auch die Realität, die sie abbildet oder sich erschafft, spiegelt die „bleierne Zeit“ des Niedergangs wider – in sozialer, politischer und ästhetischer Hinsicht. Grau und dunkel, wie die DDR in den 80er Jahren eben war, grell und erleuchtet wie die geteilte Stadt in ihren Todeszonen, die der Protagonist von beiden Seiten der Mauer kennt. Legende, von den Herausgebern als „Montageroman“ klassifiziert, als „Berlin-Panorama“ und „Schreibprojekt“, hat viel Zeittypisches zu bieten und kann als Prosamischtyp den enzyklopädischen Erzählexperimenten von Oswald Wiener (Die Verbesserung von Mitteleuropa, 1969), Peter Weiss (Die Ästhetik des Widerstands, 1975 bis 1981), Paul Wühr (Das falsche Buch, 1983), Stefan Schütz (Medusa, 1986), Matthias Politycki (AusFälle. Zerlegung des Regenbogens, 1987) und Hubert Fichte (Die Geschichte der Empfindlichkeit, 1987 ff.) an die Seite gestellt werden. Auch die philosophisch-soziologische Prosa von Oskar Negt und Alexander Kluge (Geschichte und Eigensinn, 1981) mag uns einfallen, wenn wir diese sprunghafte, snapshot-artige, toposhaft versetzbare Prosa lesen, oder wir mögen an die von Herbert Achternbusch entwickelte Werkästhetik denken (Du hast keine Chance aber nutze sie, 1986 ff.), die sich die entscheidende Frage stellt: „Was hält ES zusammen?“

Ob dieser Zusammenhalt des Œuvres, seine innere Konsistenz, je deutlich werden wird, ob Schernikau dereinst jene Bedeutung zuwachsen wird, die die Genannten schon haben, muss Spekulation bleiben. Vielleicht passiert ihm, was Jörg Drews mit Blick auf Hans Wollschläger (Herzgewächse oder Der Fall Adams, 1982) als ‚Herausfallen aus der Zeit‘ gewertet hatte. Das Werk wird respektvoll beraunt, aber es findet kaum Leser, weil sich die Aufmerksamkeit anderen Phänomenen und Programmen bereits zugewandt hat, weil die Zeit über den Autor hinweggegangen ist.

In dieser Welt möchte man keinen Tag gelebt haben – und war doch Zeitgenosse. Was wir aber als inakzeptabel aus unserer Weltwahrnehmung ausblenden oder schnellstmöglich wieder zu vergessen suchen, das hält Schernikau penibel fest. Und das tangiert sofort auch Geschmacksfragen aller Art. Nur mit Unbehagen kann man die zahllosen Ausführungen über Janphilipp (auch „janfilip“) Geldsack lesen, als dessen reales Vorbild der Kommentar plausibel den „Germanisten, Sozialwissenschaftler und Mäzen“ Jan Philipp Reemtsma identifiziert. Als Kunst darf Literatur ungerecht sein, geschmacklos und primitiv. Aber muss sie es sein? Und muss sie es auf diese exponierte Weise sein? Denn Geschmacklosigkeit ist auch eine Form verbaler Gewalt.

Es heißt, Bücher seien klüger als ihre Verfasser. Aber wenn die Bücher selbst schon dumm sind? Fern aller Gesittung, die man sich selbst auferlegen sollte? Was sagt das dann über ihre Verfasser aus? Gleichwohl stimmt das Argument insofern, als diese tausend Seiten auch manches Einsichtsvolle, Nachdenkliche und Bedenkenswerte enthalten, beispielsweise über diese Sehnsuchtshalbinsel Berlin, auf die „der westen“ inmitten der DDR „verbannt“ sei und die zu Beginn von Legende per Flugzeug „angeflogen“ wird: denn „wer von dem land auf die insel sieht, sieht nichts. [10] denn die geografie ist ja lüge. nichts erfährt der kartenleser über die insel.“ Ihm ergeht es ähnlich wie dem DDR-Bürger, der sich einen handelsüblichen Stadtplan von Berlin kaufte, Hauptstadt seines Landes, mit West-Berlin darauf als weißem Fleck mit Umland.

Literatur mit dem exponierten Merkmal des Unfertigen, Vorläufigen, bloß Kollationierten hat es von jeher extrem schwer beim Leser, weil sie die besondere Mitwirkung des Rezipienten erfordert, intensivste Gedankenarbeit, gezieltes Erarbeiten von Isotopien, von roten Fäden, die das Ganze durchziehen und zusammenhalten könnten. Legende gehört als Sammelsurium von verschiedenen Texttypen, die nicht immer leicht voneinander zu unterscheiden sind, zu dieser Spezies: Die drei historischen Gattungen sind durch ihre Sprechsituationen vertreten, man findet hier Lyrik, Prosa und Dialogisches (beziehungsweise Monologisches), Tagebuch und Erlebte Rede, Parole und Parolen.

Ich will die Arbeit der Herausgeber (Lucas Mielke, Helen Thein und Thomas Keck) nicht schmälern, doch halte ich es nicht für sinnvoll, den Anmerkungsapparat mit allgemeinem kulturellen Wissen, das man überall nachlesen kann, zu bestücken. Natürlich kann man einen Kommentar zu Stalin verfassen, etwa indem man dessen ‚spezifisches Gewicht‘ für Schernikaus Legende herausarbeitet und kontextualisiert, also einer echten Funktionsanalyse unterzieht. Aber es überzeugt nicht, wenn von Stalin hier nicht mehr erfahrbar ist, als dass er ein „sowjetischer Politiker (1878–1953)“ und „bis zu seinem Tod“ Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewesen sei. Sondern ein Stalin-Kommentar wäre erst dadurch sinnfällig geworden, wenn man hier die Stalin-Vergottung im Osten thematisiert hätte, zumal Schernikau das Prädikat der Allwissenheit, mit dem Stalin in der DDR versehen worden war, geschickt ironisiert und destruiert. Ein guter Herausgeber-Kommentar wird das bloße Lexikonwissen den Erfordernissen des Textes anpassen und auf diese Weise deutlich machen, was dem kulturellen Wissen allein so nicht zu entnehmen ist, ohne dabei spekulativ zu werden oder die Domäne der Interpretation zu betreten. Dies aber wird hier oft nicht geleistet, und das ist enttäuschend.

Schernikau war vielleicht der einzige zugezogene verbliebene Kommunist der untergegangenen DDR, der im scharfen Gegensatz zu deren Bonzentum stand und dennoch vieles guthieß, was im anderen Teil Deutschlands Staatsraison war. Diese Haltung zeitigte eine Weltanschauungsprosa, die zugleich befremdlich und faszinierend und wie ein Brennspiegel auf die großen Konfliktlinien der (späteren) Nachkriegszeit fokussiert ist. Schernikau wäre in diesem Jahr sechzig Jahre alt geworden und verdient mit seiner erotischen Werkstiftung eine differenzierte und kontextualisierte Würdigung.

Titelbild

Ronald M. Schernikau: Legende.
Herausgegeben von Lucas Mielke, Helen Thein und Thomas Keck.
Verbrecher Verlag, Berlin 2019.
1070 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783957323422

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Titelbild

Matthias Frings: Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2011.
496 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783746670829

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