Ein Wortführer der germanistischen Nachkriegsgeneration

Zum Tod des Literaturwisssenschaftlers Karl Otto Conrady

Von Uwe-K. KetelsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe-K. Ketelsen

Wie erst spät bekannt wurde, ist am 1. Juli dieses Jahres der Kölner Neugermanist Karl Otto Conrady gestorben. Er wurde 94 Jahre alt. Damit hat einer der letzten Literaturwissenschaftler der Nachkriegsgeneration die Bühne verlassen. Er war einer ihrer Wortführer. Wie kaum eine Generation vor ihr haben ihre Vertreter den Zuschnitt ihres Faches verändert. In teils heftigen, durchaus mit persönlicher Schärfe geführten Debatten durchbrachen sie während der 60er Jahre die in tradierten Kulturmustern eingebetteten, kulturpolitisch gestützten Ziele und Verfahrensweisen ihrer Wissenschaft. Aus diesem Bruch allerdings neue Horizonte zu öffnen, fiel ihnen schwer, so dass um 1970, als neomarxistische, strukturalistische, systemtheoretische oder feministische Ansätze die Diskussionen zu bestimmen begannen, ihr am Ende moralisierender, d.h. individualisierender Ansatz nur zu bald an seine Grenzen stieß.

Karl Otto Conradys Vita ist in diesem Zusammenhang durchaus exemplarisch. Er wurde 1926 in Hamm/Westf. in einem Lehrerhaushalt geboren. 1936 trat er (freiwillig!) ins ,Deutsche Jungvolk‘ ein, wo ab 1936 die altersmäßig der HJ vorgelagerten vier Jahrgänge organisiert wurden; dort stieg er im Laufe der Jahre bis zum ,Jungstammführer‘ (mit immerhin rund 500 zu führenden Jungen) auf. Viele, so urteilte er später, „fühlten sich im herrschenden Regime aufgehoben und geborgen wie in einer selbstverständlichen, angemessenen, richtigen Staats- und Gesellschaftsformation. Zu diesen gehörte ich.“ Er wurde – unter welchen Umständen auch immer – zudem Mitglied der NSDAP.

Dieses knappe Jahrzehnt bildete eine ewig schwärende Wunde in seiner Selbsteinschätzung, und die Auseinandersetzung damit trieb sein Leben lang wesentlich die eigene Arbeit an. 1944 wurde er zum Militär eingezogen, geriet 1945 in (amerikanische) Gefangenschaft, wurde nach seiner Internierung im übel beleumdeten Lager Rheinberg im Juli 1945 entlassen. 1947 begann er – eingestandenermaßen der widrigen Lage entfliehend – in Münster ein Studium der Germanistik und Latinistik, das er 1952 mit dem Staatsexamen und 1953 mit der Promotion (über ein Thema zu H. v. Kleist) abschloss. Ebenfalls in Münster habilitierte er sich 1957 mit einer umfangreichen Studie über die Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts, auf den ersten Blick eine ehrgeizige literarhistorische Fleißarbeit (was sie in der Tat war), aber auf den zweiten auch eine Vorübung für die heraufdämmernde Neuorientierung des Fachs, denn sie brach mit der Vorstellung von einer nationalsprachlichen Geschlossenheit der deutschen Literatur (übrigens auch heute – etwa mit Blick auf die im Ruhrgebiet geschriebene Literatur – noch eine nicht belanglose Einsicht), und sie historisierte die kaum hinterfragten Ansprüche der seit der Goethezeit in der ‚Hochliteratur‘ nahezu obligatorisch geforderte Lesehaltung (die im antimodernen Traum vom ‚deep reading‘ derzeit Urständ feiert). Nach Lehrtätigkeiten in Göttingen (1958-1961), Saarbrücken (1961) und Kiel (1962-1969) lehrte Conrady ab 1969 bis zu seiner Emeritierung 1991 an der Universität zu Köln.

Conradys Auseinandersetzung mit der Geschichte der Germanistik als einer „deutschen Wissenschaft“ ließ ihn die Rolle des Professors als eine im wahrsten Sinn des Wortes öffentliche betrachten, und zwar im fachlichen wie im gesellschaftlichen Raum. Wie schon die ‚Urväter‘ der Germanistik (man denke an Ernst Moritz Arndt, die Gebrüder Grimm oder Georg Gottfried Gervinus) engagierte er sich politisch: Zeitweise bekleidete er den Posten eines zweiten Vorsitzenden der SPD in Schleswig-Holstein, saß für die SPD im Kieler Landtag und leitete von 1967 bis 1969 dessen ,Volksbildungsausschuß‘; 1976 bis 1979 war er Vorsitzender des ,Deutschen Germanistenverbandes‘; 1996-1998 widmete er sich als Präsident des PEN der überaus schwierigen Aufgabe, die ost- wie westdeutschen Zentren des PEN zu vereinigen. Am Ende aber war der Kampf mit den harten Bandagen seine Sache denn doch nicht.

Von dieser Scheu profitierten allerdings seine Studenten. In den von ihm angebotenen Seminaren herrschte – was damals durchaus nicht alltäglich war – ein offenes, liberales Diskussionsklima, so dass die geistige Spannbreite unter denen, die bei ihm studierten, nicht eben klein war (was sich etwa an den Themen der unter seiner Ägide entstandenen Qualifikationsarbeiten ablesen lässt).

Einhellig begeisterte die Fachkollegen angesichts der (kultur)politischen Lage die kritische Revision literarischer Traditionen und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit nicht. Die Auseinandersetzungen gipfelten 1966 auf dem Münchner Germanistentag, als jüngere Fachvertreter (neben Conrady Eberhard Lämmert, Walther Killy und Peter von Polenz) eine verbandsoffizielle Auseinandersetzung mit der Geschichte der Disziplin forderten und gegen nicht unerhebliche Widerstände durchsetzten. Bis ins hohe Alter veröffentlichte Conrady eine lange Reihe entsprechender Aufsätze und Stellungnahmen, die sich der Tradition seines Faches und ihrer Einschätzung widmeten.

Aber Conrady ließ es bei dieser kritischen Revision nicht bewenden, die Rolle des Professors schloss bei ihm die Aufgabe der – pathetisch gesprochen – Volksbildung ein. So widmete er sich dem Projekt, ein nüchternes, vom Ballast der Gelehrsamkeit und des Tiefsinns befreites Bild des ‚Übervaters‘ deutscher Kultur und bürgerlicher Bildung, eben von Johann Wolfgang Goethe, zu zeichnen – aber immerhin doch in zwei Bänden, auf eindrucksvollen 1164 Seiten! Sein imposantes Denkmal von weiter Sichtbarkeit hat Conrady sich und der deutschen Dichtung allerdings als Anthologist gesetzt, als Sammler von Das große deutsche Gedichtbuch, das seit 1977 in verschiedenen Fassungen und unter variierenden Titeln erschienen ist. Peter Rühmkorf hat die 1148 Seiten seinerzeit in die rechte Perspektive gerückt: „Anscheinend war es dem Herausgeber darum zu tun, das deutsche Lesebürgertum noch einmal an seine höchsten Bildungsideale zu erinnern und von ihnen her den Blick für ein mittlerweile bereits legendär gewordenes Universum zu öffnen.“ Diesem „Trumm von beinahe biblischem Format“ (wie Rühmkorf die Sammlung nannte) setzten Conrady, der SWR und Radio Bremen 2008 eine goldene Kuppel auf: Lauter Lyrik. Der Hör-Conrady, 21 Kasetten (+ 2 Zugaben), auf denen 14 Sprecherinnen und Sprecher nebst dem Anthologisten selbst etwas mehr als die Hälfte der Texte dorthin brachten, wohin Lyrik eigentlich gehört: ins Ohr. Dort werden sie – hoffentlich! – den Sammler noch eine Zeit lang überleben.