Letzte Runden im Familienkreis

In dem Roman „Momentum“ behandelt David Vann ein weiteres Mal auf radikale Weise sein Lebensthema

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der heute 53-jährige David Vann 2008 die sechsteilige Erzählsammlung Legend of a Suicide publizierte, fand sich darin als zentraler Teil auch die Novelle Sukkwan Island, die drei Jahre später unter dem Titel Im Schatten des Vaters auch die deutschsprachigen Leser mit diesem Autor bekanntmachte. Seitdem sind bis auf eine Ausnahme – den Medea-Roman Bright Air Black (2017) – sämtliche weiteren Romane Vanns bei uns erschienen. Und sie alle thematisieren innerfamiliäre Konflikte zwischen Angehörigen unterschiedlicher Generationen. Wie gut der Medea-Stoff in diese Themenlage passt, kann man sich vorstellen, auch wenn eine deutsche Übersetzung noch auf sich warten lässt.

Es war der Suizidtod des Vaters, der David Vann letzten Endes zum Schreiben brachte. Mit 13 Jahren verlor der Sohn den als Zahnarzt praktizierenden, schwer depressiven Mann. Zwei an der eigenen Untreue kaputt gegangene Ehen und das überhandnehmende Gefühl, sowohl im Privatleben wie auch im Beruf gescheitert zu sein, brachten ihn dazu, sich auf dramatische Weise das Leben zu nehmen.

Für den Sohn hatte diese Tat gravierende Folgen. „Ich komme aus einer Familie mit fünf Selbstmorden und einem Mord“, bekannte er 2013 in einem Gespräch mit Holger Heimann. Schlaflosigkeit und Schuldgefühle, weil er dem Vater nicht zu helfen vermochte, Scham, Verzweiflung und Verlassenheitsattacken, die bis zu eigenen Suizidgedanken gingen, quälten ihn jahrzehntelang. Erst im Schreiben über diese ihn bedrängenden Dinge fand er schließlich eine Möglichkeit, mit ihnen halbwegs fertig zu werden. Doch wie ein roter Faden ziehen sich in Katastrophen endende Geschichten zwischen Vätern und Müttern mit ihren Söhnen oder Töchtern und sich selbst durch seine Bücher.   

Mit Momentum nun, seinem sechsten Roman, kommt David Vann der Geschichte vom tragischen Ende seines Vaters so nahe, wie er das in seinen bisherigen Werken noch nicht getan hat. Das Buch verarbeitet die letzten Tage des Vaters auf zwar romanhaft-fiktionale, aber den Blick auf das Autobiographische kaum verstellende Weise. Und indem es die letzten Tage eines Verzweifelten ganz aus dessen Innenperspektive schildert, ihm von Anfang an nicht den Hauch einer Chance lässt, seinen vorgezeichneten Weg in die finale Katastrophe zu verlassen, mutet es auch seinen Lesern einiges zu.

Um die vielleicht letzte Chance, den in Fairbanks/Alaska als Zahnarzt praktizierenden Jim Vann von seiner Depression zu heilen, geht es am Anfang des Romans. Der Mann hat zwei Ehen in den Sand gesetzt und lebt seit seiner letzten Scheidung völlig isoliert und den dunklen, selbstzerstörerischen Stimmungen, die ihn immer öfter heimsuchen, kaum etwas entgegensetzend. Sowohl seine beiden Ex-Frauen und zwei Kinder aus der ersten Ehe als auch sein Bruder Gary und die Eltern sind in der Nähe von San Francisco zu Hause. Dorthin, in den kleinen Ort Lakeport, macht sich Jim zu Beginn von Momentum auf, um auf ärztliches Anraten mit Hilfe seines als Lehrer arbeitenden Bruders einen letzten Versuch zu unternehmen, sich von seiner Depression zu befreien.

Früher sind die beiden unterschiedlich veranlagten Männer – Gary nimmt das Leben, wie es kommt, für den depressiven Jim wird alles zum Problem – gemeinsam zum Fischen weit auf’s Meer hinausgefahren. Man vertraute einander blind und stand sich in Gefahren bei. Inzwischen ist, nicht zuletzt bedingt durch Jims Krankheit, eine gewisse Distanz zwischen ihnen eingekehrt.

Allein Gary will ein guter Bruder sein. Und so bemüht er sich redlich, Erinnerungen an bessere Zeiten in Jim wachzurufen und ihn von Dingen und Gedanken abzuhalten, die sich unvorteilhaft auf das Gemüt des Bruders auswirken könnten. Dazu gehört nach Ansicht des Jüngeren auch Jims zweite Frau Rhoda. Ihre Ehe ist genau wie Jims erster Versuch, sich mit einer Partnerin eine festere Position im Leben aufzubauen, an der notorischen Untreue des Mannes gescheitert. Und obwohl man nach wie vor miteinander telefoniert und Rhoda Jim zu helfen bereit ist, sieht der Rest seiner Familie es nicht gern, wenn Jim sich weiterhin an diese Frau klammert, der man die Verantwortung für die Verschlimmerung seines seelischen Zustands zuschreibt.

„Letzte Runden“ im Familienkreis sind es, die Jim nach eigenem Verständnis in und um Lakeport dreht. Denn er ist fest entschlossen, das in seinen Augen „falsche“ Leben, welches er seit Jahren führt – „Ein Leben, das auf täglicher Wiederholung beruht, wobei jeder Tag genau wie der vorherige ist, etwas, das Jim nie ertragen hat.“ –, zu beenden. Fantasien, wen aus seiner Familie er in einen erweiterten Suizid mitnehmen sollte, wenn er sich endlich traut zu tun, was er schon lange tun will, Erinnerungen an all die Lebewesen, die er als Jäger von klein auf bereits kaltherzig getötet hat, und das Rekapitulieren der vielen vergeblichen Versuche, aus seiner verfahrenen persönlichen Situation herauszukommen, plagen ihn permanent.

Sich helfen zu lassen, hat er aufgegeben – weder seinen Bruder noch den Therapeuten Dr. Brown lässt er nahe genug an sich heran. Plänen, die sich auf sein vor ihm liegendes Leben beziehen, misstraut er, weil alle seine bisherigen Versuche, dem Dasein etwas abzugewinnen, in Sackgassen geführt haben. Nur in einem letzten Gespräch mit seinem von ihm im Grunde verachteten Vater merkt Jim plötzlich, dass sie sich beide in der Beurteilung des Lebens ähnlicher sind, als er je vermutet hat. Nur zieht der alte Mann einen anderen Schluss aus seiner Daseinsanalyse als der Sohn: „Ich werde hier sein, bis ich aufhöre zu atmen, weil das, wovon du sprichst, keine Option ist.“

Konsequent und mit äußerster Rigorosität versetzt sich der vorliegende Roman in den Kopf eines an sich und der Welt Verzweifelnden. Nichts mehr, das von außen kommt, wird gelten gelassen. Eingesperrt in ein unsichtbares Gefängnis von Erwartungen, die er nicht zu erfüllen vermag, Routinen, die ihn ablenken sollen und ihm doch immer wieder ihre Sinnlosigkeit demonstrieren, und Plänen, die andere ihm aufdrängen, ohne dass er sich mit deren Zielen zu identifizieren vermag, beschreitet er von Anfang an seinen Weg ins Nichts. Eine 44er Magnum hat er ständig griffbereit. Am Ende, zurückgekehrt in die Einsamkeit Alaskas, wird er sie benutzen, während er mit der Frau telefoniert, die er nach wie vor liebt. Und es wird der letzte Satz seines Lebens in diesem Gespräch fallen: „Ich liebe dich, aber ich kann nicht ohne dich leben.“

Momentum ist Vanns privatestes Buch. Sicherlich jenes, das ihm am schwersten gefallen ist. Vielleicht aber auch eine Art literarischer Befreiungsschlag. „Momentum. Das ist das wichtigste Wort in unserem Leben. Wir müssen dem Momentum folgen, selbst wenn wir wissen, dass das, was kommt, nicht gut ist“, heißt es an einer Stelle des Buches. Im Falle von Jim Vann bedeutet dieser Satz, dass es für ihn keinen Ausweg mehr gibt, auch wenn ihm durchaus bewusst ist, „was falsch läuft oder ob man anders leben könnte.“ Seinem Sohn David aber – „Mit seinen blonden Haaren, zu lang, in der Mitte gescheitelt und fedrig durchgestuft, sieht sein Sohn aus wie ein Mädchen, mit einem rosa Plastikkamm in der Gesäßtasche seiner Schlaghose, die zu eng sitzt“, beschreibt sich der Autor selbst als einen Dreizehnjährigen, für den der Vater eine große Bedeutung besitzt, auch wenn er fern von ihm lebt – wünscht er, dass der einen anderen Weg für sich findet. Den beschreitet David Vann, seit er sich für das Schreiben entschieden hat, und markiert mit dem vorliegenden Roman nun eine weitere entscheidende Wegmarke in seinem eigenen Momentum. 

Titelbild

David Vann: Momentum.
Aus dem Englischen von Cornelius Reiber.
Hanser Berlin, Berlin 2020.
320 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446265943

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