Seelischer Rückstau

„Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“ ist Benjamin Maacks bewegendes Protokoll eines Depressionsschubs

Von Pascal MathéusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pascal Mathéus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leben ist wie der Elbtunnel. Es herrschen Einreihpflicht und Anpassungsdruck. Solange es bergab geht, fühlt es sich beinahe wie Fliegen an. Doch sobald es bergauf heißt, gilt es, präzise das Tempo einzuhalten, um einen Stau zu vermeiden. Nur wenn alles glattläuft, kann das Stocken verhindert werden. Ansonsten leuchten die roten Rücklichter auf und alles steht. Das ganze System kommt zum Erliegen.

In etwa so fühlt es sich vielleicht an, in eine schwere depressive Phase zu geraten. Bilder wie das obige, mit dem der Schriftsteller und Spiegel-Redakteur Benjamin Maack sein erstes Buch seit acht Jahren eröffnet, machen eine psychische Krankheit fassbar, deren Wesen es ausmacht, sich gegen derartige Formbemühungen zu versperren. Dementsprechend fällt auch die Gestalt des vorliegenden Textes aus. Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein bietet sich dar als eine lose, in Vor- und Rückblenden zerfallende Sammlung von Eindrücken eines schwer depressiven Menschen.

„Funktionieren“ heißt es immer wieder auf ansonsten leeren Seiten, die zwischen die mal längeren, mal kürzeren Prosastücke und einige wenige Gedichte gesetzt werden. Das sperrige, technische Wort durchzieht den Text damit wie ein Generalbass. „Funktionieren“ ist das Gegenteil von Depression, das ersehnte Leitbild des vollkommen niedergeschlagenen Erzählers und gleichzeitig der Motor des gesellschaftlichen Drucks, vor dem der Depressive in die Knie geht. Infamerweise kann sogar der von der Depression befallene Mensch noch eine Zeit lang funktionieren, weil es der Gesellschaft nur auf die äußerliche Performance ankommt. Weil die Umwelt einen funktionierenden Menschen erwartet, weil einige Menschen sogar einen Anspruch darauf haben (etwa die Kinder auf ihren funktionierenden Vater), zwingt sich der Ich-Erzähler im vorliegenden Text sogar dazu, indem er tut, sagt und fühlt, was von ihm erwartet wird.

Nachdem er vor lauter Selbstekel und Verzweiflung nicht mehr anders kann, liefert er sich in die Psychiatrie ein. Für die psychologische Struktur der Figur ist es äußert bezeichnend, was sie dabei denkt: „[…] ich spüre gar nichts. Doch. Scham. Weil ich mit diesem riesigen schwarzen Rollkoffer anrücke. Sollte man nicht in aller Eile, mit einer nachlässig vollgestopften Tasche und wochenlang nicht gewaschenen Kleidern, ungeduscht und tränenverklebt in die Klinik kommen?“ Obwohl seine Lage in den Wochen zuvor nicht mehr auszuhalten war, macht er sich bei seiner Ankunft in der Klinik über die Wirkung seines Auftritts Gedanken. Er bezweifelt sogar immer noch, ob er in der Klinik überhaupt richtig ist. Geht es anderen nicht viel schlechter? Und warum wirken seine Facebook-Posts eigentlich so völlig normal? Zur spezifischen Ausprägung seiner Depression gehört das unaufhörliche Räsonieren, der nicht enden wollende Gedankenstrom eines Mannes, der sich selbst immer nur das Schlechteste zutraut und sich vor seinen Anflügen von Selbstmitleid ekelt.

Mit dieser Struktur gleicht das Buch von Maack einer anderen wichtigen Publikation dieses Frühjahrs. Die ewigen Gedankenspiralen sind auch in Leif Randts Generationenroman Allegro Pastell das Erkennungsmerkmal der Figuren. Im Unterscheid zu Randts nicht mehr ganz jungen Mittelschichtfiguren, denen Zeit-Kritiker Ijoma Mangold eine Attitüde „reflexiver Hipness“ attestierte, leidet der Ich-Erzähler im vorliegenden Text jedoch an seinen permanenten Selbstbeobachtungen. Nun könnte man einwenden, er sei ja auch krank, aber das ist genau der Punkt. Denn die Krankheit erscheint in Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein eben auch als das Resultat unhaltbarer gesellschaftlicher Zustände. Maacks Benjamin ist einer, der das ewig gleichmäßige Tempo im Tunnel nicht mehr ausgehalten und auf die Bremse getreten hat, während die Figuren Randts nur mit den Achseln zucken. Adagio Pastell wäre ein alternativer Titel für das Buch gewesen, weil sie die gleiche Welt zeigt wie bei Randt, nur dass die Figuren in dem einen Buch mit Stumpfsinn reagieren, während sie hier von resignativer Traurigkeit gezeichnet sind. Man sollte die beiden Bücher in der Tat zusammenlesen, weil sie mit unterschiedlichen literarischen Mitteln zwei Seiten derselben Medaille zeigen.

Es ließe sich freilich die Frage stellen, ob sich dem vorliegenden Buch überhaupt mit den Mitteln der Literaturkritik beikommen lässt. Zumindest scheinen hier kaum mehr die Regeln zu greifen, die normalerweise für fiktive Texte gelten. Die Hauptfigur heißt Benjamin, seine Frau und seine Kinder kommen ebenfalls mit Klarnamen vor. Maack hat wohl diesen Weg gewählt, um keinen Zweifel an der Authentizität der berichteten Ereignisse aufkommen zu lassen. In der Tat verfehlt diese Entscheidung seine Wirkung nicht. Wenn Maack von der eigenen Schwäche im Angesicht seiner Söhne spricht oder von der großen Liebe und Treue seiner Frau spricht, müsste man schon aus Stein sein, um keine Rührung zu empfinden. Keineswegs hat man es jedoch mit Überwältigunspathos zu tun. In einem ganz intimen Moment, in dem sich Maack direkt an seinen Sohn Theodor richtet, sind beinahe alle Wörter ausgelassen worden. „—— -heod–,“ lässt sich noch mit Sicherheit als „Lieber Theodor“ enträtseln – dann folgen viele Zeilen, die aus lauter Leerstellen bestehen, bevor „Und ich liebe dich sehr“ wieder zu lesen ist. Das ist kein kitschiges Versteckspiel, wie man vielleicht denken könnte, wenn einem die Passage losgelöst von ihrem Kontext vorgesetzt wird. Es ist das Quäntchen Privatsphäre, das Maack sich bei aller radikalen Offenheit nimmt, um seinen Sohn zu schützen, dem er aufgrund seiner Krankheit Vieles schuldig geblieben ist.

Die Abwesenheit jeder Leidenschaft empfindet der Ich-Erzähler als besonders schmerzhafte Folge seiner Erkrankung: „Ohne Emotionen […] wird das, was bei anderen ein ganzes Leben ergibt, zu einer unendlichen, unendlich sinnlosen Reihe von Sachen“. Sie geht einher mit einem Verlust von Sinn und Sprache: „Meine Worte sind einander fremde Brocken, die nie wieder zu einem Sinn zusammenfinden werden.“ Wie sich aus dieser präzisen und absolut glaubwürdigen Beschreibung einer Depression zwischen langsam sich einstellender Medikation und allen damit einhergehenden Nebenwirkungen – vor allem beschäftigt sich der Ich-Erzähler bald immer wieder mit Selbstmordgedanken – und der hoffnungslosen Atmosphäre der Psychiatrie dennoch ein sinnvolles Geflecht von Gedanken und Schilderungen entspinnt, das den Leser trägt und am Schicksal des Protagonisten teilhaben lässt, ist eine große Leistung.

Ihrem Wesen nach versperrt sich die Depression auch gegen Pointen. Da Benjamin Maack aber mit einem besonderen Wahrnehmungs- und Ausdrucksvermögen begabt ist, gelingt es ihm auch ohne größere artifizielle Anstrengung, eine ästhetisch ansprechende, mitunter überraschende oder sogar lustige Prosa zu kreieren. Sein Verdienst bei diesem Buch ist es, die im depressiven Furor und Stupor entstandenen Fragmente in eine Ordnung zu bringen. Wo es ging, hat er sich Worte abgerungen, wo das Denken versagte, stehen folgerichtig Leerstellen. Es war eine mutige Entscheidung, reihenweise nichts als Auslassungen abdrucken zu lassen, die sich aber durch ihre Ehrlichkeit legitimiert. So ist Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein gleichzeitig eine beeindruckende Kartierung des schwer erreichbaren Landes Depression und eine besondere ästhetische Erfahrung.

Titelbild

Benjamin Maack: Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
333 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518470732

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