Vom Gleichgewicht der Perlen

Fragmentarisch, multiperspektivisch, facettenreich – Carolina Schuttis Roman „Patagonien“ erzählt und verschweigt mehr als eine Geschichte

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch bevor man die erste Zeile in Carolina Schuttis neuestem Roman liest, verweilt der Blick auf dem Foto des Buchumschlags. Obwohl – bzw. gerade weil – nicht viel zu sehen ist, gibt es umso mehr zu entdecken: Zunächst ist da die einst sonnengelbe und nun stark verschmutzte Wand einer kleinen Holzhütte, die mitsamt der angrenzenden Bebauung in einer ärmlich wirkenden Siedlung steht. Und dann, wie zum Trotz, die über der Hütte gehisste rote Fahne – doch die ist wenig revolutionär, sondern trägt einen großen, aber aus Betrachterperspektive unleserlichen, Werbeaufdruck. Der Ausblick auf die bergige Landschaft ist verstellt, selbst die Holzwand hat weder Tür noch Fenster, nur der Blick zum Himmel ist frei. Der sich in weißen Lettern abhebende Buchtitel verrät, wo sich der Betrachter befindet: Patagonien – ein nicht ganz klar abgrenzbares Gebiet, das sich östlich und westlich der Anden über den südlichsten Zipfel Südamerikas erstreckt und genau hier, wo es nicht mehr weitergeht – nicht mal für den Blick des Betrachters auf dem Buchumschlag –, wo man nur umkehren oder bleiben kann, setzt die Handlung des Romans ein, beginnt dessen Ende.

„El Comienzo“, der Anfang, so der Name des Sees, an dessen Ufer sich die Lebensgeschichten von Johannes, Sarah, Mick, Ben und Iris berühren. Diese Berührungen, so flüchtig und unbestimmt, so unsicher und unbewusst sie teils erfolgen, jede birgt die Gefahr, innere und äußere Unruhe auszulösen und das von allen ersehnte Gleichgewicht – das eigene und das der Gruppe – zu gefährden. Die zentrale Bedeutsamkeit der Motive „Gleichgewicht“, „Ruhe“ und des „festen und sicheren Halts“ – im konkreten wie im übertragenen Sinne – drückt sich bei jedem der fünf Protagonist*innen, von denen bis auf Iris allesamt als „Aussteiger“ bezeichnet werden können, auf unterschiedliche Weise aus:

Johannes versucht seinen Frieden mit seiner in Deutschland zurückgelassenen Familie sowie seiner neuen Partnerin Sarah und letztlich mit sich selbst zu finden. Von Micks Vergangenheit erfahren wir wenig; Halt gibt dem erfahrenen Kletterer der Wind, gegen den er sich nachts auf einem Vorsprung lehnt und dessen Kraft ihn hindert, in die tödliche Tiefe zu stürzen. Ben hatte durch seine ihn aufzehrende Arbeit als Pfleger die „Verbindung zur Welt“ verloren und war in ein seelisch-psychisches Ungleichgeweicht geraten. Iris hatte unter dem Leistungsdruck ihres Onkels eine zunächst harmlos erscheinende Infektion unterschätzt, durch die sie letztlich ihr Bein verlor. Auf einer bereits rissigen Carbon-Prothese macht sie sich auf die Reise, um Abstand zu ihrem alten Leben zu finden. Anders als die anderen möchte sie ihr früheres Leben nicht gänzlich hinter sich lassen, sie versucht nur etwas Zeit und Raum dazwischenzuschieben.

„Dazwischenschieben“ – dies wäre ein erstes Stichwort, um die Struktur des Romans zu beschreiben. Anschaulicher formuliert es jedoch die Romanfigur Iris, als sie über ihre Schwierigkeiten, von sich selbst zu erzählen, reflektiert und ihr dabei zugleich zentrale Beobachtungen und Überlegungen in den Sinn kommen, die auf den Aufbau des Romans übertragen werden können. „Wie hätte ich dir von mir erzählt? Welche Form hätte ich für meine Vergangenheit gefunden, wie hätte ich die blitzenden Bilder eingefangen, wie sie aufgefädelt zu einer Erzählung, die Anfang und Ende hat?“

Die Erzählung scheint wie eine aus bunten Perlen bestehende Kette aufgefädelt zu sein, die Reihenfolge der Perlen ist keine notwendige, nur eine mögliche von unzähligen. So stellen die einzelnen Abschnitte des Buches auf wenigen Seiten abwechselnd eine der fünf Figuren in den Mittelpunkt, erzählt wird mal von einem personalen, mal von einem Ich-Erzähler, mal über Gegenwärtiges, mal über Vergangenes. Diese Vorgehensweise ist zwar insbesondere zu Beginn verwirrend und bedarf einer sehr aufmerksamen Lektüre, doch da im Roman von Anfang an das Ende erzählt wird, sind Zeitsprünge und Zeitraffungen sowie Perspektivenwechsel ein effizientes Mittel, um die gemeinsame Geschichte zu skizzieren und den Figuren selbst Geschichte und somit Tiefe zu geben.

Allerdings werden nicht alle fünf Protagonist*innen dem Leser gleichermaßen nahegebracht. Die meisten Abschnitte setzen zwischen dem 18. und dem 24. Mai eines nicht genannten Jahres ein, dabei fokussieren zehn Abschnitte Ben, dreizehn Iris und – was bei der ersten Lektüre eher als Nebenschauplatz aufgefasst werden könnte – dreizehn Johannes und seine Ex-Frau Maja, der er Mails schreibt, ohne jemals eine Antwort zu bekommen. Die Mails beginnen zwar bereits am 21. Februar, enden jedoch im erwähnten Zeitfenster. Seiner aktuelle Lebensgefährtin, Sarah, wird lediglich ein Abschnitt gewidmet, Mick erscheint sogar ausschließlich aus der Perspektive der anderen.

Es sind, wie es Iris formuliert, „blitzende Bilder“, gemalt in einer einfachen und zugleich eindringlichen Sprache, die im Aufblitzen mehr Fragen als Antworten aufzuwerfen scheinen und dabei Zusammenhänge wie Hintergründe zumindest im Halbdunkeln lassen. Nach der ersten Lektüre sei – durchaus unmittelbar folgend – eine zweite empfohlen, denn die aufgefädelten erzählten Perlen werden beim Lesen stets neu geordnet und die zweite Lektüre lässt gerade vermeintlich Erkanntes in einem neuen Licht erscheinen.

Titelbild

Carolina Schutti: Patagonien. Roman.
Edition Laurin, Frankfurt am Main 2020.
136 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783902866851

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